Vorgeblättert

Reinhard Baumgart: Damals, Teil 2

02.02.2004.
So habe ich sie in Erinnerung, in Bayreuth und zweimal noch Mitte der sechziger Jahre, in Wien und in Rom, ihren beiden Städten. Als in Wien das sechshundertjährige Jubiläum der Universität gefeiert wurde, sah ich sie an der Seite eines eindrucksvoll schweigsamen jungen Manns, Thomas Bernhard. Der uns beide um so rasanter in seinem Mini Cooper durch die nächtlichen Straßen fuhr, in den Kurven, wie mir schien, nur auf den beiden Außenreifen, so daß mir um die Dichterin vorn auf dem Todessitz mehr bange wurde als um mich selbst. Doch wir kamen heil an vor unserem Lokal, Bernhard riß die Tür seines Mini auf, als wäre es der Schlag eines Bentley, und strahlend entstieg die Poetin. Sie schien den ganzen Abend stolz auf das junge Genie an ihrer Seite und unbesorgt, als Bernhard am Ende des Abends zwischen den schon auf die Tische gestürzten Stühlen einsam sitzen blieb, mit düster hängendem Kopf: Das tut nichts, er ist so.

In einem römischen Herbst, auf einem eurolinken Kongreß von Dichtern, Philosophen, Publizisten, sah ich zum ersten und letzten Mal auch Sartre, unbewegt, froschartig erstarrt neben der noch versteinerteren Beauvoir. Bis der kleine Mann mit dem rechten, schräg hoch ins Weltall abirrenden Auge das Podium bestieg und sich dort vorn in einen Redner verwandelte, sich entzündend und begeisternd an der eigenen Begeisterung und Intelligenz. Und doch wurde selbst der Rhetor Sartre auf diesem Kongreß noch übertroffen von Viktor Sklovskij aus Moskau, dem Dokumentaristen, Filmautor, Biographen, Miterfinder des russischen Formalismus und einer Poetik der "Kunstgriffe", einem der wenigen Überlebenden der altbolschewistischen Intelligentzija, der nun zum ersten Mal seit den dreißiger Jahren als Freigänger in den Westen durfte, ängstlich umkreist von freundlichen Bewachern. Doch auf dem Rednerpodium begann er mit leuchtendem Glatzkopf und der hämmernden Gestik von Fausthieben zu schwärmen, zu werben, zu agitieren wie der Lenin der frühen Stummfilmdokumente, mit der Rhetorik einer weltenfernen Zeit, in der man noch hoffen konnte, redend die Welt umzuwälzen.

Während dieser hochsommerlichen Oktobertage also sehe ich auch Ingeborg zum letzten Mal vor mir sitzen. In einem dämmerigen Cafe an der Via Nazionale hatte sie mir den großen alten Dichter Ungaretti einbeschert an einem Marmortischchen, zu einer wegen meines spärlichen und mühseligen Italienisch sehr eingeschränkten Unterhaltung, aber für sie war es eine Einbescherung, ein Geschenk für mich, und sie strahlte animalisch und kindlich, weil ihr etwas so Schönes gelungen war. Über was mögen wir geredet haben, über Sartre, über Sklovskij und Lenin, über Enzensberger, für den ich hier auf dem Kongreß eingesprungen war? Alle Erinnerung an diese letzte Stunde in ihrer Stadt Rom ist überstrahlt von dem kindlich glücklichen und dann wieder im Gespräch so kindlich ernsten Bachmanngesicht.

Sie war nicht mehr mitgereist, als die Gruppe 47 weltläufig wurde und zu ihren Tagungen erst nach Schweden und dann sogar in die Vereinigten Staaten aufbrach. Wovor die Besorgnisträger den expansionsfrohen, doch die Stimmung im Kern der Gruppe ängstlich aushorchenden Richter gewarnt hatten: gerade wir als Vertreter eines verantwortungs- und schuldbewußten Deutschlands sollten uns nicht wie Exportartikel vor aller Welt aufspielen. Ich konnte dieses beflissen zerknirschte Argument damals nur schwer verstehen. Problematisch schien mir der Ausflug in die USA 1966 allerdings auch, als Freundschaftsbesuch nämlich zur Zeit des Vietnamkrieges. Und doch kam alles anders als befürchtet und vorauszusehen.

Mühsam schleppte sich im Holiday Inn von Princeton, über dessen Eingang die Leuchtschrift "Welcome Gruppe 47" prangte, die Tagung durch eine lange Serie von wenig erregenden Lesungen, und die amerikanischen Gäste begannen schon zu staunen und zu stöhnen vor Enttäuschung. Da stand ein schmaler Junge in dunkelblauem Anzug auf, den dort niemand kannte, der aber ein paar Tage später auf dem Empire State Building vor den laufenden Kameras von NBC erklärte: I am the new Kafka. Er hieß Peter Handke. Ein Junge? Er war uns schon vor seinem Auftritt aufgefallen in seiner zurückgezogenen, einsamen Position, immer weit hinten im Saal, und wir rätselten, ob dieses schmale dunkelblaue Wesen unter dem Pilzkopf der Beatles nun männlich oder weiblich sei. Doch dann stand er oder sie auf und las von einem in der Hand zitternden Zettel einen wütenden Angriff auf alles, was er bisher anhören mußte und nun eine ratlos öde "Beschreibungsliteratur" nannte. Das war im Wortsinn unerhört: denn zu den stillschweigenden Regeln der Gruppe gehörte, daß nur der eben gelesene Text diskutiert werden durfte und allgemeine Erklärungen zur literarischen Lage, also Grundsatzdebatten verboten waren. Peter Handke hatte, ohne es zu wissen und zu wollen und daher um so wirkungsvoller, ein Tabu gebrochen, damit Richters Autorität in Frage gestellt und sich als einziges Ereignis und damit einzig nennenswerte Nachricht in einer ereignisarmen Tagung in Szene gesetzt.

Er kenne viele junge Talente in Österreich, sagte er mir später, aber die trauten sich eben nicht, Skandal zu machen. Denn genau das riskierte und provozierte er nun immer wieder. Der Autor als Nachricht, Story, Auftrittsereignis, diesseits und jenseits seiner Texte - auch diese Novität des Literaturbetriebs wurde damals von diesem zitternden Jüngling in Princeton erfunden. Und wieder zwei Tage später spürte man angesichts eines ganz anderen Auftritts, wie sich nun die Schere öffnete zwischen den Generationen und auch den politischen Fraktionen der Gruppe, als Peter Weiss auf einem Podium über die Künste und die Politik sich ganz anders in Szene setzte. Bleich, mit still fanatischem Bekenner- und Sündergesicht, verkündete er seinen Abschied von einem verantwortungslosen bürgerlichen Individualismus und sein neues Engagement für die Erniedrigten und Entrechteten dieser Welt, für einen antiimperialistischen Weltbefreiungskampf im Zeichen des Sozialismus oder Kommunismus, aber in welcher realen oder idealen Spielart, das blieb bitter undeutlich. Peter, erzählte Hans Werner Richter, habe ihn im Sommer an der Adria besucht, sei in Badehose und T-Shirt immer wieder bis zu den Knien ins lauwarme Wasser gegangen, um dort draußen unter den Badenden im ersten Band des Marxschen Kapital zu lesen. Richter, der frühere Jungkommunist und alte Sozi, konnte darüber nur freundlich lachen. Er mochte Peter Weiss, seinen Ernst, und war wohl sicher, daß dieser neue stille Fanatismus sich bald geben würde.

Wir aber, die Hinterbänkler der Gruppe, nahmen gewissenlos ein Stipendium der Ford Foundation an, die jeden mit einem Rundflugticket durch die USA und Reisegeld für drei bis vier Wochen ausstattete. Über Tennessee flog ich nach Tucson, Arizona, fuhr von dort einsam in einem Ford Mustang hoch zum Grand Canyon, wieder durch die Wüste nach Las Vegas, weiter nach Los Angeles, an der Küste kurvenreich hoch bis San Francisco und flog über Chicago wieder zurück nach New York, das mir nach dieser Reise in den weiten Westen nicht mehr amerikanisch, sondern nur noch wie eine monströse europäische Stadt vorkam. Keine originelle Route, zugegeben, aber ich würde auch einem Amerikaner für vier Wochen Europa nicht abraten von Venedig oder Paris, der Akropolis oder der Riviera.

Nur die Niagarafälle hatte ich ausgelassen, zu Recht, wie ich erst fünf Jahre später fand. Am Grand Canyon aber sah ich zum ersten Mal, daß Natur in Amerika hinüberwachsen kann ins Irreale und dann nur noch wie ein Bildereignis, nicht mehr als Realität zu erfahren ist, und spürte dort im Westen auch, tagelang mutterseelenallein unterwegs auf geraden, leeren Highways, rechts und links nur Sand und Horizont, kaum Menschen und Behausung, wie gut und spurlos man dort verschwinden könnte. Ich begriff in den auf ein paar Hochhäuserblocks zusammengedrängten und sonst einstöckig ins Land hinauswuchernden Städten weit weg von New York und Chicago, daß sie gar keine mehr sind und sein wollen, begriff aber nicht das überall sichtbare Nebeneinander von kraß reich und elend arm. Ich war zwar unterwegs in dem Land, in dem man überall auch unserer Zukunft vorauswittern konnte, sah aber überall tief so viel sture, unaufhebbare Vergangenheit brüten. Kurzum: ich begriff in dieser dumpf konservativen, atemlos gegenwärtigen US-Welt, daß es genaugenommen weder Amerikaner noch Amerika wirklich gibt, daß diese Oberbegriffe nichts fassen von der Vielfalt des Halbkontinents und seiner Bewohner, weil Sizilien womöglich weniger weit liegt von Jütland als die kalifornische Wüste von der Stadt Manhattan. Doch auch meine Schlüsse aus einem Bündel von schnellen, flachen und intensiven Reiseerfahrungen waren womöglich nur halbwahr und grundfalsch. 

Hatte also die Ford Foundation - und damit, wie man damals ahnen konnte und heute weiß, die Kulturabteilung des CIA - ihr Geld gut angelegt in den Rundreisenden dieser linksliberal verdächtigen Gruppe 47? Sicher, falls sie uns die USA sichtbar machen wollte als widersprüchliche Realität hinter allen Vorurteilen. Meine Ambivalenz aber gegenüber Land und Leuten hatte sich nicht aufgelöst und sollte sich bei jedem neuen Besuch bestätigen und bestärken. Immer wieder spürte ich, das riesige Land durchreisend, eine anhaltende Erregung und wirklich gierige Neugier, noch für den vulgären Glamour von Las Vegas oder Disneyland, und andererseits einen tiefeuropäischen Schauder, ein unaufhebbares Fremdheitsgefühl. Dort drüben leben zu müssen, was für viele in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Notlösung mehr war wie für Generationen von Emigranten, sondern ein Sehnsuchtsziel, das würde für mich heißen: mein Leben aufgeben. Es war und blieb ein Leben in Deutschland, in Europa.

Und doch fühlte der Rückkehrer, aus dem Flugzeug wieder hinunterblickend in diese wohlgeordnete deutsche Landschaft der Wälder, Felder, Dörfer, Städte, fast würgend die Sauberkeit, die Enge dort unten: als würde sich in diesem Land nie etwas verändern wollen und können, nie eine Zukunft beginnen. Wie sollte das Luftbild auch verraten, daß auch dieses still dahindösende Deutschland längst in Bewegung geraten war? Erst an der Oberfläche, dann in der Tiefe, aber schon das war schwer zu unterscheiden. Das Leben in diesem engen westlichen Deutschland schien leichter geworden in diesen sechziger Jahren, leichter, flüssiger, beweglicher, jünger. Das Ende einer nach einem uralten Mann benannten Ära, der Adenauer-Ära, dämmerte heran, seit die ersten sogenannten Jugendkrawalle in München und in Hannover zusammengeknüppelt worden waren. In München hatten sich diese tagelangen Straßenschlachten entzündet an der Unbotmäßigkeit eines Gitarrenspielers, der in Schwabing jenseits der Sperrstunde noch auf der Straße zu spielen wagte. Was für ein Unverhältnis zwischen Anlaß und Folgen: seitdem zitterte, unhörbar noch, der Boden unter der selbstzufriedenen und früh alt gewordenen Republik. Sie hatte uns alle vorzeitig so alt, vernünftig, zahm werden lassen, daß wir nun die Chance witterten, uns Seit an Seit mit einer jüngeren, protestierenden Generation noch einmal zu verjüngen.

Eine neue Musik sollte diese späte Verjüngungskur begleiten, das war die prophetische Wahrheit der ersten Schwabinger Krawallnacht, war schon vor dem Woodstockjahr 1966 auch uns klar, die wir in den späten Tagen des braunen Reiches oder den frühen Jahren der Nachkriegszeit den Jazz als Widerstands- und Befreiungsmusik erlebt hatten. An meinem letzten Tag in New York fragte ich in einem Schallplattenladen nach irgend etwas, das mit den englischen Stones oder Beatles mithalten könnte, aber authentisch amerikanisch. Der Verkäufer empfahl den Protestsänger Tom Paxton und die Mothers of Invention, dann eine Sängerin namens Janis Joplin und das Album Highway 61 revisited mit einem schmalen jüdischen Knaben auf dem Cover. Lange bildete ich mir ein, als einer der ersten Platten von Joplin und Bob Dylan nach Deutschland importiert zu haben, was wohl nur für unseren Münchener Freundeskreis zutraf, der in diesen Bereichen nicht auf dem laufenden war.

Waren denn wir das? Mein junger Schwager hatte eines Abends ins Haus an der Elbchaussee den Mitschnitt einer britischen Popgruppe aus dem Hamburger Star-Club mitgebracht und spielte uns den auf seiner schweren Tonbandmaschine vor: Mein Gott, diese soft femininen Knabenstimmen, begleitet von bescheiden rockenden Rhythmen - nie würde ich mich an so etwas gewöhnen können. Wenig später waren die Beatles unsere musikalischen Hausgötter. Zu ihren Gesängen tanzte die ganze Familie jeden Sonntagmorgen über den Teppich, die Eltern fühlten sich verspätet jung und die Kinder tief verbündet mit ihren Eltern, auch die mithampelnde Jüngste, mit vier oder fünf, die uns dann ein Leben lang vorwerfen würde, daß sie zu spät geboren wurde, um dieses Glück bei vollem Bewußtsein mitzuerleben. Wie ihr Bruder, der seine Pubertät auch damit überstand, daß er sich nach Schule und schweigsam überstandenem Mittagessen mit seiner Gitarre in den Keller zurückziehen konnte, zu einsamen Meditationen. Im gleichen Zirkus Krone, in dem wir auch unsere Beatles zwar hampeln und spielen sahen, aber im Gekreisch der Massenhysterie nicht gehört hatten, sollte später dieser Sohn mit seiner Band "Traumschiff" und eigenen Songs den Popmusikpreis der Abendzeitung erspielen, angesagt von einem spillrig verzappelten Lockenkopfjüngling namens Thomas Gottschalk - wie glücklich, wie kindisch stolz waren da seine Eltern.

Teil 3