Vorgeblättert

Peter Zilahy: Die letzte Fenstergiraffe. Teil 2

03.09.2004.
      Blut, Bruder, Balkan, Belgrad, Blutbad, Bakschisch, Bombe, Baby,
      Buchstabe, Borer Notizen
 

Der dritte Buchstabe des ungarischen Alphabets ist das B. B wie Bruderschaft oder wie baratsag, ungarisch: Freundschaft. Mein erster Freund in Belgrad ist David Filip, der jeden Tag bei der Demo draußen ist. Er führt seinen Hund vor dem Kordon Gassi. Der Hund heißt Bilbo, er ist mein zweiter Freund in Belgrad. Es ist eine literarische Freundschaft. Bilbo Baggings, der kleine Hobbit, übersetzt von Arpad Göncz.
Während des Krieges wollte ich nicht nach Jugoslawien kommen, ein Freund vom Wehrdienst nahm mit der Auszeichnung 'Hervorragender Scharfschütze' seinen Abschied. Seine Mutter halb Kroatin, halb Ungarin, sein Vater bosnischer Serbe. Ich weiß nicht, auf welcher Seite er kämpft, ob er geflohen ist, ob er überhaupt noch lebt. Ich wollte nicht in Schußweite gelangen.
Karadzic' Sohn Saskija ist ein guter Junge und ein guter Soldat, bei der Belagerung Sarajevos fand er sich Aug in Auge mit seinem Sandkastenfreund Jusuf. Juka, der alte Gangster, war einer der Befehlshabenden bei den Widerständlern vom Igman-Berg geworden. Juka zeigte Saskija seine Wunden, die schönen alten Zeiten kamen zur Sprache. Saskija schlich nächtens über die bosnischen Linien, damit sie gemeinsam einen draufmachen konnten. Angeblich sind sie ganz schön schwul geworden. 

Das Sondereinsatzkommando wird mit Bussen herbeigekarrt, mit Schnittchen in den Tüten, wie Touristen vom Lande. Nach einer schnellen Stadtrundfahrt bilden sie einen Kordon, marschieren die Straße der Revolution entlang und bilden eine Blockade auf dem Platz der Republik. Auf die Demonstranten muß man stundenlang warten, die Schutzpolizisten kaufen sich Sonnenblumenkerne, stecken ihre Gummiknüppel in den hochgeklappten Lendenschutz der Weste. Freundliche Passanten erzählen politische Witze, verteilen Flugblätter. Backfische stecken Blumen an die Schilde, bringen Torten. Die Visiere der Helme sind voller Tortenglasur.


      LY 

      lyuk = Loch 

1956, zum fünfhundertjährigen Jubiläum des Triumphes zu Weißenburg wurde Budapest zerschossen. Die sowjetische Armee ließ unter Einbeziehung neuer Schauplätze 44er Traditionen wiederaufleben. Die Stadt war voller Löcher, Löcher in den Häuserwänden, zwischen den Häusern, die neuen Löcher mischetn sich mit den alten, und es wurde zum ständigen Gesprächsthema, ob ein bestimmtes Haus nun durch die Belagerung oder durch die Revolution so geworden war wie es war, 56 oder 44, 44 kann es nicht sein, das ist ein neues Haus, ach wo, das ist doch Bauhaus, siehst du nicht die geschwungene Terrasse? Und dann fiel der Schnee und begrub die Löcher, neuer Schnee fiel, der neue Schnee vermischte sich mit dem alten, niemand konnte mehr sagen, welcher Schnee die Löcher zugedeckt hatte, und die Menschen warteten auf Tauwetter, denn das Land wurde vom ständigen Schnee besetzt. Vierzigtausend große und mehrere Millionen kleine Löcher. Budapest ist die Stadt der Löcher. In dieser durchlöcherten Stadt wurde ich geboren, Einschußlöcher in der Wand des Krankenhauses, im Friedhof Grablöcher. Vor meiner Nase schlängelte sich eine zwei Meter lange Natter in das Grab des Baron Mano Kruchina von Schwanberg (und seiner Frau Marianne). Der Baron starb 56, seine Frau 44. Klassenkampf oder besoffener Steinmetz? Dann verschwand der Grabstein, und ein Loch blieb an seiner Stelle zurück. Und dann entstand anstelle des Lochs ein neues Grab. Man konnte den Kreislauf der Löcher mitverfolgen. In das Loch anstelle des Hauses meines Großvaters wurde das Haus gebaut, in dem wir lebten, mein Vater hatte als Kind in den Bombenkratern im Garten gespielt. Die größeren Löcher hat man mit Häusern zugebaut, die kleineren benutzte man als Müllabladeplatz: weggeworfene Fernseher und Elektronenröhren lagen in einem Haufen am Ende des Gartens, Informationsschrottplatz auf dem Freiheitsberg. In einem Loch fanden wir eine Flügelbombe, die hatte auch ein Loch. Jemand hatte den Sprengkopf abgeschraubt. Wir kletterten auf die Mauer, steckten unsere Finger in die Löcher und stellten uns mit geschlossenen Augen die Kugel vor. Die neueste Geschichte Budapests in Braille-Schrift. Budapest ist mit freien Augen nicht zu sehen, man kann sie nur ertasten, man kann sie nur durch ihre Löcher sehen. Zwischen den Zeilen lesen, hausmauergroße Hieroglyphen, epische und poetische Variationen, Kriegsgraffitis, pointierte erotische Mitteilungen, ein umgekehrtes Archiv.

Budapest lebt auch heute noch von den Löchern. Die neuen Versprechen der Stadt brachten neue Löcher zustande, plötzlich entstanden Zahnlücken, Löcher, die auf dem Stadtplan zu messen sind, und Bürohäuser, die an ihre Stelle gezwängt werden. Die Mafiosi sprengen große und kleine Löcher heraus. Die Stimmung der Löcher hat sich gewandelt. Die Lochminuten der neunziger Jahre sind gezählt. Kaum ist eins entstanden, schon wird es gestopft. Wo sind die alten, zeitlosen Neunmillimeter, die Respekt abverlangenden 23er, die lauthalsen 38er, die wändewegpustenden 85er. Löcher alter Zeiten. 

In Osijek und Vukovar habe ich meinen Finger umsonst in die Mauerspalten gesteckt. Es war nichts Vergnügliches daran. Die Gebäude waren genau wie in irgendeiner ungarischen Kleinstadt, aber die Löcher waren fremd. Als hätte man auf die Häuser geschossen, nicht auf die Menschen, sie zerschlugen ihre Trauer an den Wänden, die Kugeln steckten noch in den Löchern. Das hier war niemandes Sache, es wurden keine Helden geboren. Die Gipsengel der Monarchie haben Einschußlöcher in der Stirn, die machistische Ästhetik vorsätzlicher Zerstörung. Auf dem Weg nach Süden an einer Straßentafel ein Karadzic-Plakat: "Der Mann, der uns nicht verraten hat." 

Mit freundlicher Genehmigung des Eichborn-Verlages Berlin

Mehr Informationen zum Buch und Autor hier