Vorgeblättert

Peter-Andre Alt: Franz Kafka. Teil 2

11.08.2005.
Achtes Kapitel
Eine Schrift-Geliebte: Felice Bauer (1912-1913)

     Wie ein Dienstmädchen
     Mit einer vielfach beschriebenen Urszene beginnt die bedeutsamste und zugleich traurigste Liebesgeschichte in Kafkas Leben. Ihr Arrangement ist alltäglich, ihre Dramaturgie mutet zufällig an. Im Hintergrund steht, sogleich symptomatisch, die Literatur: sie bildet Panorama und Kulisse eines prägnanten Moments, der sich später zum biographischen Mythos verdichten wird. Am Dienstag, dem 13. August 1912 betritt Kafka gegen 21 Uhr, eine Stunde später als verabredet, die Wohnung der Brods im Obergeschoß des stilvollen Eckhauses in der Schalengasse 1.Der stets nervöse Freund, der den Vertragsabschluß mit Rowohlt in die Wege leitete, hat ihn gedrängt, an diesem Abend die endgültige Anordnung der Manuskripte für die Betrachtung festzulegen, die am folgenden Tag nach Leipzig geschickt werden sollen. Kafka fühlt sich unbehaglich, weil er den letzten Schritt zur Veröffentlichung, der eine verbindliche Fixierung bedeutet, fürchtet. Den gesamten Monat über bewegt er sich in einer tranceähnlichen Stimmung aus Lethargie und Träumerei, die ihn daran hindert, die Urlaubszeit seines Chefs zu konzentrierter literarischer Arbeit zu nutzen. Als er bei Brods ankommt, wirkt er unaufmerksam und zugleich angespannt.
     Rasch jedoch werden seine Lebensgeister durch eine fremde junge Frau geweckt, die vollkommen selbstverständlich am großen Eßzimmertisch sitzt. Trotz ihres bürgerlichen Habitus wirkt sie auf ihn, so hält das Tagebuch fest, "wie ein Dienstmädchen": eine Beobachtung, die bei Kafka eine deutlich erotische Komponente enthält. Der Gast ist die aus Berlin stammende 24jährige Felice Bauer, eine entfernte Verwandte der Familie; Brods jüngere Schwester Sophie hatte sich im Juni 1911 mit Felices Breslauer Cousin, dem Geschäftsmann Max Friedmann verheiratet. Im Tagebuch porträtiert Kafka die Besucherin eine Woche später aus vorsätzlichem Abstand, mit derselben sezierenden Schärfe wie fünf Jahre zuvor Hedwig Weiler: "Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals.ワberworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (?) Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn.Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil." (T II 79) Die Beschreibung dringt gleichsam unter die Haut, um die anatomischen Hintergründe der Physiognomie zu erfassen.1 トhnlich wie im Fall Hedwig Weilers ist sie von dem Willen getragen, durch das Heranrücken der imaginären Kamera innere Distanz zum Objekt der Betrachtung zu schaffen. Die Zuneigung, die Kafka im Moment der ersten Begegnung empfunden zu haben scheint, soll in einem kalten Bild eingefroren werden. "Ich entfremde mich ihr", so weiß das Tagebuch, "ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe."
     Wer ist diese junge Frau, die Kafka derart nachhaltig irritiert, daß er beim abendlichen "Ordnen" seiner Manuskripte unter ihrem "Einfluß" zu stehen glaubt? Felice Bauer lebt noch bei ihren Eltern und ist seit mehreren Jahren als Vertriebsbeauftragte mit Prokura bei der Berliner Grammophonfirma Carl Lindström A.G. beschäftigt: eine erfolgreiche Angestellte, moderne Westjüdin mit zionistischer Orientierung. In Prag macht sie Zwischenstation auf der Reise nach Budapest, wo sie für zwei Wochen ihre verheiratete ältere Schwester besuchen möchte. Sie liebt das Theater, die Operette und die Revue, liest in unerhörtem Tempo - zumeist bis spät in die Nacht -zeitgenössische Novellen und Romane, ohne im eigentlichen Sinn ästhetisch gebildet zu sein. Daß sie die beiden jungen Autoren an diesem Abend mit ihren literarischen Kenntnissen beeindrucken möchte, ist offenkundig. Selbstsicher und neugierig, mit einer merkwürdigen Mischung aus Unbefangenheit und Distanzlosigkeit, beteiligt sie sich am Gespräch. Brod und Kafka, die über die Anordnung der Prosatexte nachdenken möchten, kommen kaum zum ungestörten Arbeiten.
     Der Abend des 13. August 1912 nimmt einen turbulenten Verlauf. Das Gespräch, an dem sich auch Brods Eltern und der jüngere Bruder Otto beteiligen, kreist zunächst um das aktuelle Augustheft der Monatsschrift Palästina, das Kafka mitgebracht hat. Das Journal gibt Anlaß, über die Reize und Herausforderungen einer Palästinareise zu sprechen. Man betrachtet Werbephotographien der Firma Österreichischer Lloyd, die exotische Motive aus dem fernen Land zeigen. Der sonst so zurückhaltende Kafka überredet Felice Bauer, ohne Rücksicht auf Konventionen in die ausgestreckte Hand zu versprechen, gemeinsam mit ihm eine Palästinatour zu unternehmen. Nur wenig später flüstert er den Brods zu, die junge Frau gefalle ihm "'zum Seufzen'": eine von ihm nachträglich als 'blödsinnig' bezeichnete Bemerkung, die jedoch seine an diesem Abend ungewöhnlich animierte Stimmung sehr treffend charakterisiert.
     Zu fortgerückter Stunde tritt, wie sich Kafka später erinnert, "eine große Zerstreuung der Gesellschaft" ein: "Frau Brod duselte auf dem Kanapee, Herr Brod machte sich beim Bücherkasten zu schaffen, Otto kämpfte mit dem Ofenschirm" (das Pochen gegen die Abdeckung des Ofens war ein ritualisiertes Zeichen, das den Hausfreund Kafka, der seine Besuche bis tief in die Nacht auszudehnen pflegte, daran erinnern sollte, daß die Zeit der Bettruhe gekommen war). Trotz der fortgeschrittenen Zeit erlahmt das Gespräch mit dem Gast jedoch nicht. Man diskutiert über jiddisches Jargontheater, Tanz und Operette; Kafka, der, durchaus ungewöhnlich, die Unterhaltung selbst vorantreibt, nutzt die Gelegenheit, sich als Kenner der Berliner Bühnenlandschaft auszuweisen. In raschem Tempo wechseln die Themen: Goethe wird von der jungen Frau mit einem banalen Zitat -"'er bleibt ein König auch in Unterhosen' -gerühmt ("das einzige", was Kafka an diesem Abend an ihr mißfällt); man spricht über das Berliner Revuetheater und tauscht Lektüreeindrücke aus, die sich schließlich auch auf Brods Schloß Nornepygge beziehen. Die Besucherin hat den umfangreichen Roman, wie sie gesteht, im Gegensatz zum Arnold Beer nicht zu Ende gelesen, kann jedoch der vorübergehend indignierten Familie des Autors versichern, daß es ihr lediglich an Zeit, nicht an Interesse gefehlt habe. Im übrigen erfährt man, daß sie durch ihre Pflichten außerordentlich eingespannt ist, weil sie nach ihren Bürostunden an den Abenden Auftragsarbeiten erledigt und wissenschaftliche Manuskripte in die Maschine überträgt - was ihr "Vergnügen" bereitet, wie sie gesteht, und Kafka dazu veranlaßt, vor Überraschung mit der Hand auf den Tisch zu schlagen. Daß die Nebentätigkeit auch durch ein finanzielles Familiendilemma erzwungen wird, ahnt an diesem Abend bei Brods niemand.
     Spät in der Nacht bricht Felice Bauer, die am folgenden Morgen mit dem Frühzug nach Budapest reisen möchte, in ihr Hotel auf. Die junge Frau logiert im noblen Haus Zum blauen Stern, dem teuersten und besten Quartier, das Prag zu dieser Zeit zu bieten hat. Es liegt am Graben neben der Hyberner Gasse gegenüber vom Pulverturm, knapp 15 Gehminuten von der Schalengasse entfernt. Während der Abschiedszeremonie erbittet sich Kafka flüsternd von Brods Mutter Felice Bauers Berliner Adresse, die er mit Bleistift auf seinem Exemplar der Palästina notiert. Gemeinsam mit Adolf Brod begleitet er dann den Gast durch die nach den Regenfällen des Tages kühle nächtliche Stadt. Plötzlich hat ihn der Esprit, mit dem er das Gespräch bei Brods betrieb, verlassen. Er schweigt, wirkt unkonzentriert und versteckt sich, wie gewohnt, in seinen Kopfwelten. Während Felice Bauer ihn nach seiner Prager Anschrift fragt, träumt er davon, sie am nächsten Tag vor ihrer Abfahrt mit Blumen am Bahnhof zu begrüßen -ein Plan, den er jedoch rasch fallen läßt. Vor dem Blauen Stern schiebt er sich voller "Befangenheit" in denselben Abschnitt der Drehtür wie sie und stößt dabei an ihre "Füße". In der Halle nimmt man Abschied voneinander, formelhaft und doch freundlich. Es dauert sieben Monate und elf Tage, ehe Kafka Felice wiedersieht. Dazwischen liegt ihre Neuschöpfung durch den Autor Kafka, der in dieser Zeit 195 Briefe an sie schickt: die Geburt einer Felice Bauer, die mit ihm allein im Medium der Schrift kommunizieren darf.

     Briefverkehr zwischen Prag und Berlin
     Das über fünf Jahre sich erstreckende Drama der Korrespondenz wird eröffnet durch den Auftritt des Anstifters. Am 20. September 1912, fünfeinhalb Wochen nach der Begegnung bei Brods, schickt Kafka Felice Bauer den ersten Brief, den er am Nachmittag auf der Büroschreibmaschine verfaßt. Er beginnt mit einer Formel, die nicht allein der Höflichkeit geschuldet scheint, sondern auch dem Anspruch, sich im Leben der jungen Frau festzusetzen: "Für den leicht möglichen Fall, daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor (?)". Der äußere Anknüpfungspunkt ist die Palästinatour, die man am 12. August in Prag verabredet hat. Felice scheint freundlich und detailliert geantwortet zu haben, auch wenn Kafkas erster Brief nur ein vager Schattenriß war, der die Situation des Schreibers genauer beleuchtete als das Gesprächsangebot, das er unterbreitete. Der Reiseplan muß freilich aufgegeben werden, weil Felices besorgte Eltern Einwände erheben. Am 28. September folgt ein zweiter, mehrere Seiten umfassender Brief, in dem Kafka vor sich selbst warnt: "Was für Launen halten mich, Fräulein! Ein Regen von Nervositäten geht ununterbrochen auf mich herunter. Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht."
     Angesichts dieser Selbsteinschätzung, die das gegenüber Hedwig Weiler benutzte Bild vom Boxer, der nicht boxt, wiederholt, zögert Felice Bauer mit einer weiteren Antwort. Erst Anfang Oktober 1912 schickt sie einen Brief nach Prag, der jedoch verloren geht. Mit Hilfe diplomatischer Interventionen durch Max Brod und seine Schwester Sophie Friedmann, die der besorgte Kafka als Boten und Mittler einsetzt, wird der profane Grund für das vermeintliche Schweigen der Berliner Korrespondenzpartnerin ausgeforscht. Die Möglichkeit eines technischen Fehlers bei der Zustellung hatte Kafka zunächst nicht erwogen: "Ja gehen denn Briefe", fragt er Sophie Friedmann, nachdem sie ihn von der Panne informiert hat, "überhaupt verloren, außer in der unsicheren Erwartung dessen, der keine andere Erklärung findet?" Das kleine Intermezzo verweist auf jene Stockungen des Nachrichtenverkehrs, wie sie knapp zehn Jahre später der Schloß-Roman als Merkmal einer labyrinthischen Verwaltung schildern wird. Dort erläutert der Amtsvorsteher dem verunsicherten K. über die Hintergründe seiner (vermeintlichen) Berufung zum Landvermesser in trauriger Ironie: "Es ist ein Arbeitsgrundsatz der Behörde, daß mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht gerechnet wird."
     Um jegliches Mißverständnis zu beseitigen, schickt Felice Bauer in der vorletzten Oktoberwoche einen erklärenden Brief, dem sie eine getrocknete Blume hinzufügt. Ende des Monats kommt so das erschöpfte Briefgespräch nach seinem ersten "Stolpern" mit rasch steigender Frequenz wieder in Gang. Kafkas Replik ist enthusiastisch: "Und wenn alle meine drei Direktoren um meinen Tisch herumstehen und mir in die Feder schauen sollten, muß ich Ihnen gleich antworten, denn Ihr Brief kommt auf mich herunter, wie aus Wolken, zu denen man drei Wochen umsonst aufgeschaut hat." Felice Bauer kann sich dem Drängen aus Prag fortan nicht mehr entziehen. Sie erwidert Kafkas Briefe, die sie mit Fragen nach ihrem Alltagsleben überhäufen, zügig: zuerst pflichtbewußt, wie es ihre preußische Erziehung verlangt, dann gründlich, offen und bald freundschaftlich. Felice Bauers Schrift freilich ist für uns erloschen; Kafka hat ihre Briefe vermutlich kurz nach der endgültigen Trennung 1917 verbrannt.
     "Das Wichtige an Felice war", so bemerkt Elias Canetti 1969, "daß es sie gab, daß sie nicht erfunden war und daß sie so, wie sie war, nicht von Kafka zu erfinden wäre." Diese Einschätzung täuscht, denn sie verfehlt die besondere Struktur der uns überlieferten Briefe. Kafkas Schreiben galten nur in sehr eingeschränktem Maße einer wirklichen Person aus Fleisch und Blut. Tatsächlich bezogen sie sich auf ein Traumbild, das seine Vorstellungskraft ersonnen hatte. Zwar existierten Reste der Erinnerung an Felice Bauer, die er pedantisch festzuhalten suchte, doch besaßen sie einzig den Charakter von Versatzstücken, welche die Depots der Einbildung füllen konnten. Die genau profilierte Realität der Briefpartnerin stand für ihn außer Frage, aber sie machte bloß ein Ferment innerhalb des Haushalts der Imagination aus, den Kafka bewirtschaftete. Unter dem Gesetz der Phantasie, die das Wirklichkeitsmaterial zu eigenen Zwecken umgestaltete, wuchs Felice Bauer zu einer Person, die ähnlich fiktive Züge trug wie jenes Fräulein Bürstner des Proceß-Romans, dem sie später ihre Initialen lieh.
Kafkas Briefe entwerfen mit dem Ich, von dem sie sprechen, auch sogleich das Du, zu dem sie sprechen. Weil die Erfindung aber Anschauungsstoff benötigt, fordert Kafka von seiner Briefpartnerin genaue Einblicke in ihre Lebensumstände. Kindheit, Schule, Alltag, die Arbeit, das Verhältnis zu den Familienmitgliedern und Kolleginnen, Essens- und Schlafensgewohnheiten, Lektüre, Theaterbesuche, Krankheiten und Wetter: nichts ist ihm gleichgültig. Die Leser seiner Briefe gewinnen über die Spiegelungen, welche die aus Berlin übermittelten Details finden, exakte Erkenntnisse über die heute verstummte Briefpartnerin. Zug um Zug entsteht so ein biographisches Mosaik, dessen Splitter sich langsam zusammensetzen: Felice Bauer kam am 18.November 1887 im oberschlesischen Neustadt zur Welt. Ihr Vater Carl Bauer, ein gebürtiger Wiener, hatte sich 1899 in Berlin als Versicherungsagent etabliert und betreute Firmen in Norddeutschland und Skandinavien. Die Mutter, Anna Bauer, war sieben Jahre älter als ihr Mann; sie entstammte einem kleinbürgerlichen Milieu und war mit acht Geschwistern ohne größere materielle Freiheiten in Berlin aufgewachsen. Von ihr scheint die Tochter den preußischen Habitus und einen eisernen Willen geerbt zu haben; er schloß die Bereitschaft ein, seelischen Schmerz zu verschweigen und private Katastrophen allein zu durchleiden.
     Felice hatte drei Schwestern, von denen die 1886 geborene Erna, die als Sekretärin in Sebnitz bei Dresden arbeitete, ihr besonders nahe stand. Die vier Jahre ältere Elisabeth lebte, nicht sonderlich glücklich, in Budapest; sie hatte 1911 den Ungarn Bernat Braun geheiratet und 1912 eine Tochter zur Welt gebracht. Die 1892 geborene Schwester Toni wohnte wie Felice noch bei den Eltern; sie galt als Sorgenkind, war offenbar phlegmatisch, selbstbezogen und launisch; ihr Desinteresse an Literatur kommentiert Kafka später mit der Bemerkung: "Liest ein zwanzigjähriges Mädchen mit Entschiedenheit gar nichts, finde ich nichts Böses daran, halbes Lesen ist ärger". Der einzige Sohn der Familie, der 1884 geborene Ferdinand, war Kaufmann und im Herbst 1912 in einer Wäschefirma tätig. Er galt als äußerst charmant, war aber notorisch unzuverlässig und verschwenderisch, was bald zu dramatischen Konsequenzen führen sollte. Unter den Geschwistern ragte Felice offenkundig durch Ehrgeiz und Tatkraft heraus, die ihr beruflichen Erfolg bescherten. Frühzeitig durfte sie in ihrer Firma geschäftliche Verantwortung übernehmen, verfügte über einen kleineren Stab von Mitarbeiterinnen, reiste regelmäßig auf Messen und bezog ein passables Gehalt. Wenn sie dennoch nach Büroschluß, der sich zumeist bis zum späten Abend verzögerte, in den Nachtstunden Schreibarbeiten für Publizisten und Wissenschaftler erledigte, so verweist das darauf, daß Carl Bauer nur dürftige Einkünfte bezog, die die Familie kaum ernährten. Im Herbst 1912 wurde Felices Alltag von unaufhörlicher Arbeit regiert; die Briefe, die sie Kafka schrieb, entstanden im Bett, zu später Stunde, oftmals unter dem Einfluß psychischer und physischer Erschöpfung.
     Nicht sämtliche, aber die meisten der hier angeführten Details hat Kafka durch Felice Bauers Briefe erfahren. Die Grundlinien ihrer Familiengeschichte, die häusliche Konstellation, die Beziehungen zwischen den Geschwistern und ihre Aufgaben im Büro sind ihm nach wenigen Wochen vertraut. Die dunklen Seiten, von denen später noch zu sprechen ist, verschweigt ihm Felice freilich; die Streitigkeiten zwischen den Eltern, die Untreue des Vaters, die uneheliche Schwangerschaft der älteren Schwester, geschäftlichen Betrügereien ihres Bruders bleiben ihr Geheimnis. Zu den innersten Zonen dringt auch Kafka nicht vor, obgleich er die Kunstmittel seines Schreibens mit raffinierter Geschicklichkeit einsetzt. An solchen Punkten war Felice Bauer, wie er bald spüren wird, von einer unverrückbaren Diskretion, die, wenn die Familienehre auf dem Spiel stand, auch die Bereitschaft zur Lüge einschloß.
     Wo Felice nur zögerlich Auskunft gab, half gelegentlich die Spionage. Bereits Ende Oktober 1912 beauftragt Kafka den in Berlin gastierenden Jizchak Löwy damit, ihm einen brieflichen Bericht über die Berliner Immanuelkirchstraße zu liefern, in der Felice mit ihrer Familie wohnt (zum 1. April 1913 wird sie in ein geräumigeres Domizil im bürgerlichen Charlottenburg umziehen). Löwy kannte sich in dieser Straße gut aus, lag doch hier die Druckerei, in der seine Schauspieltruppe ihre Plakate produzieren ließ. Er schickt unverzüglich eine ebenso präzise wie anrührende Beschreibung, die Kafka Anfang November 1912 in einem Brief an Felice im Originalwortlaut mit ihrer haarsträubenden Orthographie wiedergibt: "Von Alexander Platz ziht sich eine lange, nicht belebte Straße, Prenzloer Straße, Prenzloer Allee. Welche hat viele Seitengäßchen. Eins von diese Gässchen ist das Immanuel. Kirchstraß. Still, abgelegen, weit von dem immer roschenden Berlin. Das Gäßchen beginnt mit eine gewenliche Kirche.Wi sa wi steht das Haus Nr. 37 ganz schmall und hoch. Das Gäßchen ist auch ganz schmall. Wenn ich dort bin, ist immer ruhig, still, und ich frage, ist das noch Berlin?"
     Seit dem 31. Oktober 1912 wechselt man zwischen Prag und der Reichshauptstadt täglich einen Brief. Kafkas Schreiben sind fordernd, pedantisch, werbend, charmant, selbstquälerisch, hektisch und geduldig zugleich. Ein wildes Gebräu der Emotionen beglaubigt, daß ihn ein 'Regen von Nervositäten' beherrscht. Mehrfach beschließt er, weil er Felices Antworten falsch gedeutet hat, den Kontakt abzubrechen. Mitte November sorgt erst die Intervention des nach Berlin gefahrenen Max Brod für die Aufklärung eines Mißverständnisses (offenkundig hatte Felices Bemerkung, Kafka sei unzufrieden und seiner selbst nicht sicher, schwere Irritationen bei ihm ausgelöst). So gehorcht die Dramaturgie der Korrespondenz frühzeitig dem Rhythmus von Kafkas literarischem Arbeiten, das zwischen ekstatischem Schwung und gehemmtem Stocken schwankt. Die Briefanrede steigert sich, gegen die strengen Konventionen der Zeit, innerhalb weniger Wochen, in einer feinsinnigen Dramaturgie der Formeln von "Verehrtes Fräulein", "Gnädiges Fräulein" über "Liebes Fräulein Felice" und "Liebstes Fräulein" bis zu "Liebste". In der Nacht des 11.November 1912, fünfzig Tage nach dem Beginn der Korrespondenz, tritt ein ekstatisches "Du" plötzlich, ohne Ankündigung, an die Stelle des "Sie": es "gleitet wie auf Schlittschuhen, in Lücke zwischen zwei Briefen kann es verschwunden sein". Ab Mitte November steigert Kafka die Intensität seines Schreibens; ein erster Brief entsteht nachmittags, ein zweiter nach der nächtlichen Arbeit. Die literarische Tätigkeit, die am Abend beginnt, wird so von der Korrespondenz mit Felice gerahmt. Es ist, wie noch zu erzählen bleibt, eine Zeit außerordentlicher schriftstellerischer Produktivität.

Teil 3