Vorgeblättert

Otto Tolnai: Eine Postkarte an Don Dukay. Teil 2

17.02.2005.
Da forderte die Kritikerin, die sich schon gesetzt hatte, Oliver auf, Platz zu nehmen, sie begann das Gespräch mit einigen frischen, klugen Sätzen. Oliver ließ die Schließen seines Koffers laut aufschnappen, öffnete den Deckel, der Koffer war offensichtlich leer, er nahm den Stoß Papier und die Stange Salami heraus, schloß den Koffer wieder, dann zog er die verschiedenfarbigen Gummiringe vom Papier, und während er sich setzte, breitete er seine Aufzeichnungen auf dem Tisch aus und begann zu sprechen, wobei er immer wieder mal einen Blick auf seine teils handgeschriebenen, teils getippten Notizen warf. Schließlich sprach er auch über den "Hafen im Nebel". Daß der Film in Le Havre gedreht worden sei, daß der Bühnenbildner Alexander Trauner, ein Schüler Kassaks, den Nebel mit Tüllschleiern nachgeahmt habe und auch darüber, daß der junge Jean-Paul Sartre damals, als der Film gedreht worden sei, ebendort, in Le Havre, Lehrer gewesen sei, Oliver habe ihn auf der Straße erkannt, unter den Passanten. Also müsse der bereits 1927 geschriebene Roman von Pierre Mac Orlan mit dem ersten Roman des Philosophen verglichen werden, und hier angelangt, verglich Oliver die zwei Werke kurzerhand miteinander, sodann verweilte er länger beim "Ekel", der, wie er bemerkte, seiner bescheidenen Meinung nach einer der wichtigsten Romane der Moderne sei, in Wirklichkeit gehe es, obwohl sich damit noch niemand beschäftigt habe, die Vermutung also bislang nicht belegt sei, um eine Variante des Malte, wie ja auch die Wirkung des Malte auf Heidegger, auf den Meister des jungen Sartre, größer gewesen sei als allgemein angenommen. Die Zuhörer hatten einen Augenblick lang das Gefühl, der Film sei eigentlich auf der Basis des "Ekels" entstanden, er zitierte nämlich noch aus dem Roman: "Hier ist mein Zimmer, es liegt nach Nordosten. Darunter die Rue des Mutiles und die Baustelle für den neuen Bahnhof. Ich sehe von meinem Fenster aus an der Ecke des Boulevard Victor-Noir die rot-weiß aufflammende Leuchtreklame des Rendezvous des Cheminets." Und schon hätte Oliver um Haaresbreite die Bodenhaftung verloren, er stellte nämlich die Frage, ob jemand wisse, wer Victor Noir gewesen sei. Er war ein Journalist, setzte er fort, denn er wußte, niemand würde seine Frage beantworten, ein Journalist, der irrtümlich erschossen worden war, und die knospenden Mädchen besuchten seitdem regelmäßig seine auf dem Boden liegende Bronzestatue auf dem Pere Lachaise, um darauf zu reiten, sein Hosenschlitz aus Bronze wölbe sich nämlich beträchtlich; jedenfalls begann er dann über sein Treffen mit Sartre zu berichten, die Menschenmenge hatte Oliver einmal in Belgrad, im Prunksaal der Serbischen Akademie, hart an das Rednerpult gedrängt, er roch den feinen Tabakduft des froschähnlichen Männchens, er konnte seine Elevation, seine spirituelle Metamorphose mitverfolgen, als jener beim Vortrag unmerklich an Statur gewann. Dann trug Oliver eine Anekdote vor und kriegte mit Hilfe seines Lieblingsbildes gerade noch die Kurve zurück zum "Hafen im Nebel", die Geschichte hatte ihm der greise Balthus, der Maler des Bildes, erzählt, Balthus, der vielleicht größte, wenn auch vollkommen zurückgezogen lebende Künstler des 20. Jahrhunderts, als Oliver ihn einmal besucht und ihn über das Bild befragt hatte. Eines schönen Tages arbeitete er gerade in seinem Pariser Atelier, ganz selbstversunken, schilderte Balthus Oliver, als er ein Klopfen an der Tür hörte. Ein Polizist trat ein und ersuchte ihn höflich, doch die Fensterläden des Ateliers zu schließen, draußen wolle man nämlich einen Film drehen. "Ich war außer mir und verjagte den Polizisten tobend", sagte der alte Meister, wie könne man es wagen, ihn mit dieser Bitte zu behelligen, wo er doch Tageslicht zum Arbeiten brauche! Der Polizist trollte sich, tiefe Stille lag über allem. Er wollte eben weitermalen, als es neuerlich klopfte. "Ich griff nach einem Spachtel. Ich würde mich verteidigen, das war mir klar. Jean Gabin trat ein. Um sich zu entschuldigen. Von da an waren wir gute Freunde", schloß Balthus. Ob er die Fensterläden zu guter Letzt geschlossen hatte, wollte Oliver ihn nicht mehr fragen, ganz bestimmt nicht. Sodann sprach er über die Montagetechnik Eisensteins und Bunuels, über die vorbehaltlose Bewunderung Kafkas, Walter Benjamins und Ivo Andric' für das Standbild, das Kaiserpanorama, indem er Kafka zitierte: "Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blickes scheint wichtiger. ? Warum gibt es keine Vereinigung von Kinema und Stereoskop in dieser Weise?" Seltsamerweise kam Oliver dann noch einmal auf Sartre zu sprechen, obwohl er ursprünglich nicht vorgehabt hatte, ihm so viel Platz einzuräumen (wobei er sich doch, was den Film angeht, sehr gut erinnerte, wie Sartre sich hinter Tarkowskis ersten Film gestellt hatte), in Godards Film erscheint nämlich auch ein Philosoph. Oliver zitierte nun eine Passage aus Gergely Bikacsis Buch über fünfzig Jahre französischen Filmschaffens, um die Konstellation "Film im Film" als Unterpunkt seiner Ausführungen zur Filmgeschichte herauszuarbeiten, und nicht zuletzt, um den Begriff des "Essayfilms" einzuführen: "Die Episoden, die Bilder hängen nicht unmittelbar zusammen: Sie stellen minimale Szenen dar und scheinen untereinander austauschbar zu sein. In einem der ersten Bilder sitzt Nana im Kino, sie sieht sich Carl Dreyers Jeanne d'Arc an, wir sehen eben Antonin Artaud, dann Renee Maria Falconettis Gesicht in Großaufnahme und die Überschrift: 'Der Tod'. Tränen rinnen Nana übers Gesicht ? Nana unterhält sich mit einem alten Philosophen (Brice Parain spielt hier sich selbst). Sie sitzen in einem Bistro am Chatelet, vor einem großen Spiegel. 'Warum lesen Sie?' fragt das Straßenmädchen den Philosophen. Parain spricht über einen der drei Musketiere, Porthos, der einmal mitten in einer überstürzten Flucht zu denken beginnt, statt zu fliehen, stehenbleibt und so stirbt." Dann erzählte Oliver über die Schwierigkeit der Filmauswahl, darüber, wie er seine erste Fünferliste erstellt hatte, daß es seinem kleinen Freund Jonathan mit der Basedowschen Krankheit zufolge gereicht hätte, lediglich Herzogs "Stroszek" zu zeigen, denn darin käme das kleinste Papierschiffchen der Welt vor, zudem handele es sich in Wirklichkeit um einen Film über den besten Komponisten überhaupt. Seine Freundin Rosa Banszky sei ebenfalls nur zur Nennung eines einzigen Films zu bewegen gewesen, teilte Oliver dem Publikum mit, und das war Polanskis "Sackgasse". Andere nominierten fünf Fellini-Filme, aber es gab auch welche, die von den Filmen "Der Blick des Bösen", "Unter dem Vulkan", "Der Holzschuhbaum", "Stalker", "Midnight Cowboy" oder "Die Ermordung eines chinesischen Buchmachers" träumten, und Oliver hatte alles emsig notiert und versprochen, ihre Wahl im Grand Cafe vorzutragen. "Voila", sagte er dann, "Sie sind meine Zeugen, ich habe sie genannt." Am Ende des Gesprächs erwähnte Oliver die hundert Jahre Filmgeschichte, den Einfluß Charles Chaplins, der Marx Brothers und Buster Keatons auf Kafka und Beckett, und kurz bevor er melodramatisch wurde, hob er unvermittelt die Salamistange hoch. Das Publikum verstand nicht, worauf er hinauswollte.

Da sagte Oliver: "Der Film ist hundert Jahre alt - Pick hingegen hundertfünfundzwanzig!" Das Publikum von Szeged, das über das Jubiläum seiner berühmten Salamifabrik, Ungarns berühmtester Salamifabrik, bestens Bescheid wußte, klatschte stürmisch Beifall. Oliver nahm bedächtig den Vulkanfiberkoffer an sich und schritt in tief gebückter Haltung, als schleppe er eine schwere Last, aus dem Saal, wiewohl er seine Aufzeichnungen und die Salamistange auf dem Tisch hatte liegenlassen, schließlich brauchte er sie nicht mehr.

Mit freundlicher Genehmigung des DAAD, Berliner Künstlerprogramm

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