Vorgeblättert

Marion Poschmann: Die Sonnenposition. Teil 1

10.08.2013.
Heutzutage erwartet man von den Patienten, daß sie mit Hilfe eines Obstkorbes die Familiensituation als Stilleben nachstellen. Frau H., die von Anfang an opponierte, aber auch in einem schon krankhaften Grad phantasielos wirkt, sah sich in der Sitzung außerstande, sich selbst als Frucht zu imaginieren, schon gar nicht ihren Vater. Sie sah mich an, wie eine vernünftige, nüchterne Person jemanden ansieht, den sie für wahnsinnig hält: etwas mitleidig, etwas angeekelt, etwas gelangweilt, vor allem gelangweilt. Ich hütete mich, ihr Vorschläge zu machen. Als Kompromiß bot ich an, sie solle eine Frucht aussuchen, die mich darstellen könnte.
     Ihr Ekel nahm zu. Mit spitzen Fingern hob sie eine Banane aus dem Korb, eine Nuß, eine Pflaume. Ob ich sicher sei, daß das etwas bringe? Sie bekomme ihr Leben nicht in den Griff, und ich wolle unbedingt ein Stück Obst sein?
     Nun, sagte ich, sie möge doch bitte alle Anzüglichkeiten, die ihr bei den einzelnen Früchten einfielen, zunächst vergessen. - Warum sagte ich das? Warum brachte ich Anzüglichkeiten ins Spiel? Sie dachte daran nicht einmal. Sie war auf eine beinahe unschuldige Weise unvoreingenommen. Sie hatte nichts gegen Obst, sie wollte das Problem mit ihrem Typ lösen und erwartete von mir Ratschläge, Anleitungen, Anweisungen, zur Not Befehle, sie war entschlossen, sich an alles zu halten, was ich vorgab, sie war bereit, Opfer zu bringen, Unangenehmes durchzustehen, sie war auf Härten jeder Art gefaßt, aber sie wollte nicht spielen.
     Ich hingegen interessierte mich während meiner Ausbildung stets dafür, Obst zu sein. Banane sein: weich und glitschig und pelzig schmeckend. Ein Apfel, fest und süßsauer und hochempfindlich bei Druck. Es kam mir ganz natürlich vor, wie eine Kindheitserinnerung, manchmal war man müde, manchmal fühlte man sich bananenhaft, oder erdbeerig, hatte man solche Zustände nicht immer schon gekannt?
     Seit ich im Schloß wohne, halte ich mich gerne für eine Orange. Besser noch für eine Pomeranze, prachtvoll und bitter, eine Frucht aus dem Reich der Mitte, dem Land der aufgehenden Sonne, perfekt gerundet, relativ stoßfest, von einer in sich ruhenden Fülle, einer positiven Pracht.
     Ich selbst bin füllig. Nicht unangenehm dick, allerdings füllig in einem Ausmaß, das mir den Patienten gegenüber Imposanz verleiht. Auch eine gewisse Standfestigkeit. Mein Körperfett puffert die unangenehmen Gefühle, die die Patienten zu mir herüberschieben, ich nehme sie wahr, aber sie erreichen mich nicht im Kern, von dem ich mir einbilde, daß ich über einen solchen verfüge. Mehrere Kerne, eine Menge von Kernen, in den Saftschläuchen gelagert und gut versteckt. Ich bin gefeit, anders läßt sich dieser Beruf nicht ausüben. Ich konzentriere mich nach innen hin, ich falte mich ein: Bauchfalten, Speckrollen, Hautpartien, die sich berühren, ein Leib in Segmenten, der sich selbst permanent liebkost. Dadurch fühle ich mich autonom. Dadurch besitze ich das Entscheidende, das, was den Patienten ausnahmslos fehlt.

Apfelsine, Sinaasappel, Apfel aus China, der in unserem chinesischen Teezimmer an seinen natürlichen Ort gelangt. In der Tat fühle ich mich immer wohl zwischen den Porzellanimitaten, den billigen Vasen und Teekannen und kranichbemalten Tellern aus dem Asienladen, von irgendeinem Gutmeinenden herbeigeschafft und museal auf Blumenständern ausgestellt, da die echten Stücke in den Wirren der Geschichte geraubt wurden. Im Teezimmer hängt noch die importierte Seidentapete, Blütenzweige und mottenzerfressene Vögel, Mode der Chinoiserie. Ich stehe manchmal in der Mitte, rieche die muffig zerfallende Seide und den Räucherstäbchenduft, der den Dingen aus dem Asienladen in alle Ewigkeit anhängt, ich stehe dort zu Zeiten, in denen mich niemand überraschen kann, und ich imaginiere dort die Vollkommenheit einer zurückfedernden Schicht, die das Fleisch schützend umschließt. Ich sehe mich in diesem weißen Kokon, von einem wasserabweisenden Orange überzogen, das fremde Einflüsse abhält. Panzerbeere: Die Apfelsine gehört, was man normalerweise nicht weiß, zu den Beerenfrüchten, und wenn eine Beerenfrucht hartschalig ist wie ein Kürbis oder eine Gurke, heißt sie Panzerbeere. Ich sehe mich als Pomeranze, die eine Panzerbeere ist.

Die Patienten beginnen schon abzuräumen. Ein entsetzliches Quietschen hebt an, da sie sich korrekt an die Anweisungen halten und die Schalenabfälle entsorgen. Rostfreier Edelstahl schabt über Porzellan, übergründlich, um auch jede noch so kleine Faser zu erwischen. Frau Dr. Z. verzieht schmerzlich das Gesicht.
     Der Ärztetisch unterscheidet sich vom Patiententisch dadurch, daß die Ärzteschaft zu jeder Mahlzeit Zellstoffservietten erhält, die Patienten nicht. Die Patienten müssen so zurechtkommen. Ich habe Frau Dr. Z. noch nicht zu fragen gewagt, ob hier bewußt ein Statusunterschied betont werden soll, oder ob man einfach davor zurückscheut, den Patienten eine Beschäftigungsmöglichkeit an die Hand zu geben, die an Komplexität einem Stück Obst in nichts nachsteht, nur Unruhe und Abfall verursacht und Energie von der Ergotherapie abzieht. Man könnte von den Servietten die einzelnen Lagen abheben, Papierkügelchen aus ihnen formen, Wasser oder Sud mit ihnen aufsaugen und den Verlauf der Flüssigkeit verfolgen, um nur das Naheliegendste zu nennen. Wie die Kinder, das ist das Fazit, das Frau Dr. Z. bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenhaft wiederholt. Sie legt ihr Besteck zusammen, sie tupft sich den Mund ab, schielt kontrollierend zum Patiententisch hinüber, wo kaum noch jemand sitzt. Ich weiß nicht, ob sie sich davor fürchtet, daß ihr die Kontrolle jemals entgleiten könnte. Sie ist der Meinung, daß ihr diese Kontrolle zum Teil bereits durch eine betont aufrechte Haltung, eine gewisse Wortkargheit, gut gebügelte Blusen gelingt. Sie legt das Zellstofftuch behutsam neben ihrem Teller ab, einen Moment zögert sie. Ich erkundige mich nach den Servietten. Frau Dr. Z. ist nicht irritiert, sie hebt nicht die Brauen, sie bleibt völlig ruhig, wie ein Daunenkissen.
     Eine Kostenfrage, bescheidet sie mich. Eine Kostenfrage, wiederhole ich brav.
     Ich lege die Hände ineinander. Wir falteten vor jeder Familienfeier komplizierten Tafelschmuck, erzähle ich Frau Dr. Z. Wir falteten Fächer und Schwäne, grobgeriffelte Seerosenblätter, Gebilde, die, am Fuß mit dem Gewicht der Kuchengabel beschwert, mühelos aufrecht standen.
     Frau Dr. Z. macht eine winzige Bewegung, als wolle sie sich von ihrem Stuhl erheben, aber ich wende mich ihr nun mit einer Drehung des Oberkörpers vollständig zu.
     Körper, sage ich zu Frau Dr. Z., Skulpturen, Räumlichkeit, während es sich zuvor nur um eine Fläche handelte, weich zwar und bedruckt, aber doch allenfalls ein Bild. Wir hingegen falteten Lotusblüten, sage ich, Kronen, Tischskulpturen, die zierlich-pompös wie Gnome oder Elfen auf den Tellern hockten.
     Ich habe Frau Dr. Z. noch niemals etwas Persönliches erzählt. Ich habe dergleichen sogar bewußt vermieden, mir schien das besser so. Nun aber, da sie gerade aufstehen will, überkommt mich ein Rededrang, ich möchte ihr etwas erzählen, das ich noch niemals jemandem erzählt habe, möchte mich mit einer längeren Ausführung an sie, dezidiert an sie wenden, ihr etwas anvertrauen, auch wenn ich gar nicht weiß, was, es ist eine Art von Beichtzwang.
     Früher, setze ich an, doch Frau Dr. Z. erhebt sich und läßt ihr Geschirr zurück und nickt mir zu, als erteile sie mir Absolution, noch bevor ich überhaupt dazu komme, etwas zu sagen.
     Das hindert mich keineswegs, ihr trotzdem zu beichten, innen und still.
     Kunst der Serviette: Ich bemühte mich verbissen um Akkuratesse, um exakte Knicke, ich strich mit den Daumennägeln über den Falz, gerade so fest, daß das Papier nicht riß. Mich störte das Nachgiebige der Servietten, die mangelnde Statik, die schlaffen Ziehharmonikafalten, ich arbeitete an gegen die Widerstandslosigkeit des duftigen Materials, während meine Schwester mit ihm eine geheimnisvolle Einheit zu bilden schien. Schlimmer waren nur die Stoffservietten zu hohen kirchlichen Feiertagen, die sich im Grunde nur rollen oder in Wellen versetzen ließen, am schlimmsten aber die feinen, fast durchsichtigen Servietten aus hauchdünnem Japanpapier, die meine Mutter zur Erstkommunion meiner Schwester gekauft hatte und die nach Kerzenwachs rochen, weil sie ein Jahr lang hinten im Schrank gelagert worden waren. Bei diesen hätte es genügt, sie zum Dreieck zu legen und an den Spitzen zu einem Krönchen zusammenzustecken, edel genug für meinen Geschmack, aber Mila bestand darauf, gerade aus ihnen etwas Besonderes zu machen, also mußten wir sie um einen Bleistift legen und mit einer obszönen Melkbewegung raffen und straffen, so daß die Serviette in winzigen Ringen um den Stift riffelte wie ein Waschmaschinenschlauch. Ich ertappte mich, wie dabei meine Zungenspitze zwischen den Lippen herauslugte, ich biß mir auf die Zunge vor Konzentration, dann nahm Mila das Ergebnis an sich und zog und zupfte daran, bauschte hier etwas auf, drückte dort etwas zurecht, sie tat das spielerisch, mit einer Leichtigkeit, die dem Hauch von Papier wohl angemessen war, sie schuf erstaunliche Blüten, gefüllte Pfingstrosen, Lilien, Gladiolen, und was mich am meisten verwunderte, war, daß diese Blüten weit größer wirkten, weit materialreicher als das Stück Serviette, aus dem sie entstanden waren, es schien beinah, als greife Mila diese Dinge aus dem Nichts, während ich doch genau wußte, daß ich mit ihr am Tisch gesessen und schwitzend die Vorarbeiten geleistet hatte.
     Zu Milas Geburtstagsfeier mit den Klassenkameradinnen falteten wir Ponys aus rotem Kreppapier, zu meinem Kindergeburtstag wünschte ich mir etwas Technisches, und Mila brachte graue Papierhandtücher mit, die sie aus einem Spender im Waschraum ihrer Schule genommen hatte. Daraus falteten wir nach dem Prinzip der Wasserbombe Quader, die wir auf einer Seite mit Filzstift als Fernsehschirm bemalten.
     Milas Serviettensammlung: die dünnen Vliese, mit denen man sich den Mund abwischte, den Schoß bedeckte. Von jeder Familienfeier nahm meine Schwester ihre Serviette mit nach Hause und ordnete sie in den Klarsichthüllen eines alten Schallplattenalbums an. Konnte es ihr dabei allen Ernstes um die aufgedruckten Muster und Motive gehen, die in der Regel scheußlich waren, oder doch eher um diese aufgestaute Sinnlichkeit, die Unbenutztheit, die Möglichkeit einer Entfaltung. Es kam darauf an, daß die Tücher schon auf einem Tisch gelegen hatten, aber nicht weiter eingesetzt, sondern geschont worden waren. Unbefleckte Servietten strich sie zu Hause noch einmal glatt.

Ich stehe vom Ärztetisch auf, nicke einer imaginären Frau Dr. Z. zu und trage mein Geschirr zum Teewagen. Ich schiebe mit dem Messer meine Orangenschalen zu den übrigen in die Spülschüssel, wische mit der Serviette nach, stelle den Teller auf den Stapel und werfe das Messer in eine andere Schüssel, wo es mit einem Klick zwischen Besteckteile sinkt. Ich gehe noch einmal an meinen Platz zurück und hole meine Gabel, meine Tasse, meine Untertasse.
     Wir haben dickwandige weißglasierte Tassen, in denen man sich nichts als leicht gesüßten Hagebuttentee vorstellen kann, Tassen, deren Fuß zu augenfällig in die Vertiefung der Untertasse paßt, Tassen, für die es kein einfaches Abstellen gibt, nur ein Einrasten. Ich setze meine Tasse mit dumpfem Scheppern auf die Spitze des Tassenturms. Das deutsche Anstaltsgeschirr: In allen Einrichtungen mit gemeinschaftlicher Beköstigung, in Krankenhäusern, Jugendherbergen, Kinderheimen verwendet man dieses Geschirr, an dem immerwährend der Geruch nach zu scharfem Spülmittel hängt. Man riecht die sterile Spülküche, riecht die riesigen Maschinen, die heiße Lauge um die Körbe mit den eingestellten Tellern wälzen, man riecht den unentwegt gewischten gelblichen Fliesenboden mit, Küchen, gekachelt wie U-Bahn-Eingänge, als sei für uns alle hier der Aufenthalt nur Durchgangsstation.

zu Teil 2
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