Vorgeblättert

Maria Sonia Cristoff: Unbehaust. Was Menschen mit Tieren machen. Teil 1

06.02.2012.
Eins

In der letzten Zeit schlafe ich, wann und wo immer ich kann: fünfundzwanzig Minuten in der U-Bahn; eine Viertelstunde im Bus; vierzig Minuten am Ecktisch einer Bar - damit niemand kommt und mich weckt oder rauswirft, trage ich dabei eine Sonnenbrille und versuche mich aufrecht zu halten, indem ich mich möglichst unauffällig an die Wand lehne; ein, zwei Stunden am Schreibtisch, die Arme um den Bildschirm gelegt; zwei, drei Stunden in meinem Bett. Angefangen hat diese Zeit der Schlaflosigkeit mit dem Einzug der neuen Nachbarn. Bei ihnen handelt es sich um zwei Vertreter der Spezies Mensch - ein Männchen und ein Weibchen - mit äußerst ungewöhnlichem Sexualverhalten: Obwohl sie ein festes Paar sind, haben sie täglich Sex, und das tagaus, tagein immer zur selben Uhrzeit. Genauer gesagt, um drei Uhr morgens. Und das - ich übertreibe nicht - exakt auf Höhe meiner Ohren. Obwohl ich in Buenos Aires, genauer: im Stadtteil San Telmo, in einer dieser hierzulande als "PH" beziehungsweise "Penthouse" bezeichneten Wohnungen lebe - anderswo würde man wohl eher von "Loft" sprechen -, die unter anderem für ihre alten dicken Wände berühmt sind, dringen die Geräusche von der anderen Seite mit völliger Klarheit bis zu mir durch. Anfangs wirkten sich die Gewohnheiten meiner Nachbarn zugegebenermaßen durchaus positiv auf unser eigenes Liebesleben aus, das zu neuer Blüte gelangte, wie sie mich überhaupt in meinem Glauben an die Ehe bestärkten. Nach Ablauf ungefähr eines Monats jedoch hatte sich beides, die Häufigkeit unseres Geschlechtsverkehrs wie auch mein Glaube an die Ehe, wieder weitgehend auf Normalmaß eingependelt. Während ich die Gewohnheiten der Nachbarn zunehmend als aufdringlich und zuletzt als unerträglich empfand. Wir sollten in ein anderes Zimmer umziehen, sagte ich mir, aber Penthäuser in San Telmo verfügen über derlei nicht, sind die zuvor an ihrer Stelle befindlichen Wohnungen doch so umgebaut worden, dass es, außer dem Bad und dem Arbeitszimmer, nur noch einen einzigen, den gesamten Rest umfassenden Gemeinschaftsraum gibt. Blieb also nur das ausziehbare Sofa im Arbeitszimmer. Weshalb ich von da an auch die Nächte in dem Raum zubrachte, in dem ich tagsüber arbeite. Anders gesagt: Ab sofort war ich täglich fast vierundzwanzig Stunden zwischen ein und denselben vier Wänden eingeschlossen. Abgesehen davon, dass mein Arbeitszimmer an den Flur grenzt, von dem aus man die übrigen PHs dieses Hauses betritt - was bedeutet, dass es immer wieder vorkam, dass mitten in der Nacht die Absätze eines oder mehrerer meiner Nachbarinnen oder Nachbarn an meinen Ohren vorbeistöckelten, bis pünktlich um sechs Uhr morgens die Hausmeisterin unmittelbar neben meinen Ohren ebendiesen Hausflur zu fegen begann. Wir schlugen unser Bett also wieder am alten Platz auf, im Zwischengeschoss, das wir als "unser Zimmer" bezeichnen. Irgendwann wachte ich dann nicht mehr ihretwegen - wegen der feurigen Nachbarn, meine ich - um drei Uhr in der Nacht auf; dafür erwachte ich schon um halb drei von selbst, wie auf den Befehl einer inneren Stimme, die mich anwies, alles Nötige einzuleiten, um die Folgen einer nahenden Katastrophe abzuwenden. Ich schob schwere Möbel vor die Türen, stapelte alle Bücher und Ordner darauf, die womöglich noch irgendwo auf dem Boden herumlagen, verklebte die Fensterritzen mit Paketband und brachte zusätzlich ein Kreuz aus ebendiesem Klebeband auf den Scheiben an (so hatte man es uns zur Zeit des Falkland-Kriegs, als ich noch im Süden Argentiniens lebte, in der Schule beigebracht: damit sollte Vorsorge gegen mögliche Angriffe der Engländer getroffen werden). Zu guter Letzt drehte ich auch noch die Sicherungen raus. Wie mir bald klar wurde, wäre all das im Fall eines Erdbebens, Krieges oder Hochwassers tatsächlich hilfreich gewesen. Irgendwann beschloss ich dann, den Nachbarn einen Brief zu schicken. Sein Inhalt beschränkte sich auf einige wenige Zeilen, in denen ich auf die Grundregeln des Anstands, die allgemein anerkannten Voraussetzungen eines zivilisierten Zusammenlebens und die Notwendigkeit ausreichender Nachtruhe verwies; nicht verkneifen konnte ich mir außerdem eine Bemerkung über die Rücksichtnahme auf das Privatleben unserer Mitmenschen. Insgesamt nicht mehr als eine Handvoll Euphemismen, die sich umstandslos in eine Vorschriftensammlung oder Hausordnung hätten einfügen lassen, aber kaum dafür geeignet waren, wen auch immer dazu zu bringen, sein Verhalten zu ändern. Ich fügte meinen Namen und unsere Telefonnummer hinzu und schob den Brief unter der Eisentür durch, die den Hauseingang des angrenzenden Gebäudes verschließt, in dem sich ebenfalls mehrere PHs befinden. Wenn ich mich nicht täuschte, kamen die Geräusche aus der dortigen Wohnung Nummer 2. Gleich am nächsten Tag erhielt ich einen Anruf meiner Nachbarin. Wieder fügte ich Euphemismus an Euphemismus: Als die Frau erklärte, sie verstehe mich nicht, sagte ich, es gehe nicht darum, ob sie mich verstehe oder nicht, woraufhin sie sagte, sie habe schon während des Umbaus des Gebäudes Beschwerden wegen des Lärms zu hören bekommen, woraufhin ich sagte, es gehe mir nicht um irgendwelche Umbaumaßnahmen, woraufhin sie sagte, in der letzten Zeit werfe immer wieder jemand aus dem Nachbarhaus Mandarinenschalen in ihr Fenster, was ja nun wirklich keine angemessene Form der Auseinandersetzung sei, woraufhin ich sagte, ich wohnte in dem Haus auf der anderen Seite, außerdem äße ich keine Mandarinen, woraufhin sie immer noch nicht verstand, weshalb ich erneut sagte, es gehe nicht darum, ob sie mich verstehe oder nicht, sondern um den Lärm mitten in der Nacht, woraufhin sie erklärte, nachts seien bei ihnen im Haus niemals Handwerker tätig, davon abgesehen, sagte sie ein weiteres Mal, verstehe sie auch jetzt nicht, wovon ich eigentlich spräche. Von Sex, sagte ich da, um bloß nicht noch einmal von Mandarinen und all dem anderen sprechen zu müssen. Ein paar Augenblicke lang war sie still, fast so als hätte ich ihr ein Angebot gemacht. Schön wär?s, sagte sie schließlich seufzend und ließ mich wissen, dass sie im achten Monat schwanger war. Wie ich einsehen musste, lag die Lösung nicht auf dem Feld der Kunst des Briefeschreibens, weshalb ich mich als Nächstes an einen Architekten wandte. Sein Vorschlag lautete, eine Schallschutzwand einzuziehen. Das kostete allerdings eine ziemliche Menge Geld, und garantieren, dass es dadurch besser würde, wollte der Mann nicht - dafür hätte man auch in dem angrenzenden PH eine solche Schallschutzwand errichten müssen. Ich wollte es bloß deswegen aber nicht noch einmal mit den Bewohnern des falschen PH zu tun bekommen. Also setzten sich die schlaflosen Nächte fort. Vor einem Monat dann nannte uns jemand den Namen eines Akustikfachmanns. Angeblich ein weithin bekannter Spezialist. Es dauerte eine Weile, bis wir in den Besitz seiner Telefonnnummer gelangten; nochmals eine Weile, bis er vorbeikommen wollte, um sich "die Sache anzusehen", wie er sich ausdrückte. Dafür müsse er sich allerdings nicht nur mit der Beschaffenheit der betreffenden Wand vertraut machen, sondern auch selbst einmal die Geräusche hören können, die angeblich durch diese Wand zu uns drangen. Außer um drei Uhr morgens gab es dort jedoch nie etwas zu hören. Dann müsse er eben um drei Uhr morgens kommen.

Letzte Woche war er hier. Kaum hatte er die Wohnung betreten und festgestellt, was für dicke solide Wände sie umschließen, sah er mich mit einem Blick an, der erkennen ließ, dass die Geräusche, von denen ich gesprochen hatte, seiner Meinung nach nur in meinem Kopf existierten. Wie so oft bei Leuten, die ganz und gar von einer Sache besessen sind, war der Mann auffallend mager und vital zugleich, so als beraubte der Gegenstand seiner Begeisterung ihn im selben Maß seiner Lebenskräfte, wie er ihn damit versorgte. Unverzüglich trat er an die Wand, die uns von der Nachbarwohnung trennt, und strich mit ausgebreiteten Händen darüber. Dabei machte er ein verzücktes Gesicht, wie ein kleiner Junge, der den Sand glattstreicht, aus dem er gleich eine Burg bauen wird. Dann schlossen sich die lang ausgestreckten Finger plötzlich wie auf einen elektrischen Impuls zu Fäusten, und die dazugehörigen Knöchel schienen ab sofort einzig und allein dem Zweck zu dienen, auf bestmögliche Weise einen Gegenstand abzuklopfen. Wir sagten kein Wort, ja, um eine absolut störungsfreie Geräuschwahrnehmung zu gewährleisten, setzte ich sogar behutsam meine Tasse Lindenblütentee ab. Anschließend baten wir den Mann, uns in unser "Zimmer" im Zwischengeschoss zu folgen, wo die Geräusche, wie ich ihm schon gesagt hatte, am deutlichsten zu hören waren. Wir setzten uns zu dritt aufs Bett. Inzwischen war es bereits nach halb drei. Und wenn das Paar - warum auch immer, sei es, weil einer von beiden krank geworden war, sei es, weil sie gestritten oder aber beschlossen hatten, sich einfach bloß ein klein wenig dem Verhalten normaler Zweibeiner anzupassen - sich ausgerechnet in dieser Nacht nicht paarte? Während wir drei so auf dem Bett saßen und warteten, musste ich auf einmal an eine Gruppe von Fotografen denken, die von der Zeitschrift National Geographic dafür bezahlt werden, dass sie sich tagelang hinter einem Baum auf die Lauer legen, um ein ebenfalls dort lauerndes Krokodil in just dem Augenblick ablichten zu können, in dem es das Maul aufreißt und eine Antilope verschlingt, die so unvorsichtig war, ausgerechnet an dieser Stelle ihren Durst löschen zu wollen. Wie lange würde unser Experte durchhalten? Würde er sich um halb vier davonmachen, oder wäre er wie die Leute von National Geographic und würde folglich keinesfalls aufgeben, bevor er sein Ziel erreicht hatte? Stand uns also ein womöglich Tage, ja Wochen dauerndes Zusammenleben mit ihm bevor? War es vorstellbar, in einem PH in San Telmo ein Zelt aufzuschlagen? Die ersten Seufzer rissen mich aus meinen ängstlichen Überlegungen. Erleichtert atmete ich auf. Unser Experte presste sein linkes Ohr an die Wand - immer nur das linke, warum, frage ich mich bis heute -, und während die Geräusche von der anderen Seite allmählich lauter wurden, murmelte er etwas in sich hinein, wovon ich nur das mehrfach wiederholte Wort "interessant" aufschnappen konnte. Nachdem er jetzt ja den Beweis hatte - und nachdem seine "Feldforschungen" damit gewissermaßen beendet waren -, konnten wir meiner Meinung nach wieder hinuntergehen, auf dass er uns die Sache erklärte. Ich fragte ihn, glaube ich, ob er eine Tasse Lindenblütentee wolle, aber er gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich leise sein solle, und flüsterte irgendwas der Art, dass man unbedingt die Qualitäten der Laute unterscheiden lernen müsse. Während von der anderen Seite die letzten Schreie und Seufzer an unsere Ohren drangen, drehte unser Mann langsam den Kopf hin und her, wie ein Hund, der etwas Aufregendes hört, was er gleichwohl nicht ohne weiteres einordnen kann. "Wirklich interessant", murmelte er immer noch, als wir schließlich den Rückzug antraten. Wie er erklärte, als er sich, unten angekommen, endlich darauf einließ, eine Tasse Kaffee ohne Milch und Zucker zu sich zu nehmen, wie er also erklärte, sorgt die Zeit, beziehungsweise die Dinge, die sich während des Verstreichens der Zeit ereignen - vor allem solche Dinge wie Umbauten von Gebäuden oder der Straßenverkehr -, dafür, dass an Wänden gewisse Schichten umgeschichtet beziehungsweise abgetragen werden, wobei eine Art kleiner zickzackförmiger Kanäle entstehen, durch die wiederum die Geräusche ihren Weg bis zu uns finden, selbst im Fall so dicker solider Wände wie denen unseres PH, "wirklich sehr interessant". Ungefähr so drückte er sich aus. Um halb fünf war er mit seinen Ausführungen fertig; ich war derweil bei der siebten Tasse Lindenblütentee - und zugleich im vierten Monat fortwährend gestörter Nachtruhe - angekommen. Er versprach, uns bis nächsten Donnerstag einen Bericht zu schicken, in dem er alles noch einmal ganz genau darlegen und eine Reihe von Lösungsvorschlägen machen werde. Ich wollte aber weder Berichte noch Vorschläge - ich wollte eine Lösung, und zwar sofort. Schließlich sind wir keine Mitglieder irgendeiner beratenden Kommission, sondern ein verzweifeltes Paar von Bewohnern eines PH mitten in Buenos Aires, wollte ich schon zu ihm sagen, doch im selben Augenblick sah ich, übermüdet wie ich war, die dazugehörige Szene als Film vor mir ablaufen: Zuerst packte ich den Experten am Kragen und schüttelte ihn, dann warf ich mich ihm, völlig am Ende, an den Hals, ganz wie jemand, der glaubt, sich einfach nicht mehr anders helfen zu können. Und daraufhin hielt ich lieber den Mund. Die Akustik, sagte der Experte, als er, bereit sich zu verabschieden, auf der Türschwelle stand, ist keine exakte Wissenschaft, vergessen Sie das nicht - ein Satz, der mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf will. Übermorgen ist Donnerstag. Bis dahin schlafe ich, wo und wann immer ich kann.

zu Teil 2
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