Vorgeblättert

Lutz Seiler: Kruso. Teil 1

01.09.2014.
In den ersten Stunden wusch und schrubbte Ed, ohne aufzublicken. Die abgeschnittenen Fettstreifen, die ineinandergerührten Reste, die Papiertaschentücher voller Rotze oder Blut, die Schiffstickets, die Merkzettel, die Kaugummis, die verknoteten Haargummis (an denen ein paar ausgerissene Haare hingen), die Kippen, die Kotze, die Sonnencreme, der ganze Abfall, der auf den Tellern von der Terrasse zurückkam in den Abwasch, das alles war jetzt Teil seiner Arbeit. Er betrachtete die Biss-Spuren im Fleisch, große Bisse, kleine Bisse, manche winzig, wie von Nagetieren, nicht menschlicher Herkunft jedenfalls. Er schaute sich um, er war allein. Er nahm eine Kartoffel mit dem rot umrandeten Biss einer Frau in die Hand, warf sie in die Luft, fing sie auf und zerdrückte sie langsam in seiner Faust. Dabei bleckte er die Zähne und spuckte den Rest eines imaginären SeewolfZigarillos in die Tonne. Wie es ihm Kruso gezeigt hatte, gab er die guten Reste in verschiedene Schüsseln, das Übrige schabte er mit einem fettigen Stück Pappe vom Geschirr in die Abfalltonne.
     Manchmal war es nicht leicht zu entscheiden, was noch als gut angesehen werden konnte. Kruso hatte dazu einige unverständliche Dinge gesagt und kaum konkrete Beispiele gegeben. Erneut war von den Pilgern die Rede gewesen und von ihrer Suppe, womöglich einer heiligen Suppe oder auch einer eiligen Suppe oder alles zusammen, im öden Nachhall des Abwaschs war alles eine einzige Suppe. Ab und zu gab es Mittagsteller, die fast unberührt zurückkamen, mit ganzen Schnitzeln, Kohlrouladen, Kartoffeln, Gemüse, dann war es einfach.
     Bald schmerzte sein Rücken. Wenn er sicher war, unbeobachtet zu sein, hob er die Hände aus dem Wasser und streckte sich. Etwas von der gelblichen Brühe lief ihm dabei in die Achselhöhlen. Wenn er auf Zehenspitzen stand, konnte er mit seiner Bürste fürs Grobe die Decke des Abwaschs berühren. Hinterzimmer, im Hinterzimmer - hieß das nicht, auf dem besten Weg zu sein?
     Zuerst war Ed wie geblendet vom Auftritt der drei Kellner; er wusste nicht viel von Gastronomie und fand es erstaunlich, dass ihm hier, im Abwasch, an der Abfalltonne (Schweinetonne hatte Kruso sie genannt), Männer mit weißen Hemden und schwarzen Anzügen gegenübertraten, sozusagen im Frack. Das Ganze schien eine Art Zirkus zu sein oder ein absurdes Theater, an dem er als Zuschauer teilnehmen durfte; er hatte die Musik und das Gebrüll der Löwen vernommen, sich klammheimlich davongestohlen, und jetzt sah er der Vorstellung mit pochendem Herzen entgegen. Ein Vagabund, der hofft, unterwegs sein Elend loszuwerden, dachte Ed, und einen Moment lang fühlte er das Schäbige seines von Waschwasser durchnässten Aufzugs. Er kratzte sich unauffällig. Der fettige Dunst über den Becken verklebte die Poren.
     Ab zwölf Uhr wurde Ed von Geschirr überschwemmt. Da in der Mittagszeit nie genug Teller vorrätig waren, musste er gleichzeitig abwaschen, abtrocknen und die frischen Stapel in der dafür vorgesehenen Durchreiche zur Küche platzieren. Er arbeitete schnell, aber allein war es kaum zu schaffen. Die Kellner rannten, doch auch für sie war das Ganze im Grunde zu viel. Trotzdem ging der, den sie Rimbaud genannt hatten, dazu über, seine Teller selbst abzukratzen, um sie dann sofort in Eds Becken fürs Grobe zu werfen. Er tat das mit großem Schwung und verblüffendem Geschick: Die Teller tauchten im Sturzflug an Eds rotierenden Händen vorbei und vollführten erst Zentimeter vor dem Aufprall eine nicht mehr für möglich gehaltene Wendung, um sich schließlich waagerecht und geschmeidig wie träumende Flundern auf den Grund des Beckens zu legen. Ed konnte so mit beiden Händen im Wasser bleiben und erreichte ein viel höheres Tempo. Ihm fiel auf, dass auch Rimbaud jene Regel befolgte, die gute und weniger gute Reste betraf, langsam füllten sich die Schüsseln.
     »Teller, ihr Ratten, ich brauche Teller, Teller - Kreuzspinne und Kreuzschnabel!« Es war Koch-Mike, seine schrille, heisere Stimme aus der Küche. Als auch das Besteck auszugehen drohte, der Römer auf den schmierigen Boden fiel, und Ed nicht mehr wusste, was er zuerst tun sollte, tauchte Kruso wieder auf.
     Eine ganze Stunde blieb er ohne Pause an seiner Seite. Ed bewunderte die Ruhe und das Gleichmaß seiner Bewegungen. Kruso arbeitete anders, auf eine, Ed fand kein besseres Wort, landesunübliche Weise. Alles, was er tat, unterstrich seine Ernsthaftigkeit. Dabei waren es weniger seine Ausdauer oder Schnelligkeit, eher etwas wie Rhythmus und innere Anspannung - als gehöre sein ganzes Dasein etwas Größerem an oder als sei die Arbeit im Abwasch nur Ausdruck von etwas anderem, Eigenem, das sorgsam behandelt werden musste.
     Rimbaud scherzte mit Kruso, aber Ed verstand die beiden nicht. Auch der kleine Kellner, sein Name war Chris, hatte Tempo aufgenommen, in einem seltsam humpelnden, holzschnittartigen Schritt, was vielleicht auf seine O-Beine zurückzuführen war. Sein schwarzlockiges, fettglänzendes Haar bewegte sich dabei wie mechanisch vor und zurück, das Haar humpelte mit.
     Sie machten jetzt schnell Boden gut, und die Teller-Rufe verstummten. Rimbaud stand auf der Seite Krusos und redete leise auf ihn ein. Beide blickten in ein Buch, auf das Foto eines Mannes, soviel Ed erkennen konnte. Das Buch war in Packpapier eingeschlagen, und wenn Ed es richtig gesehen hatte, entstammte es der Schüssel, die von Kruso »unser Nest« genannt worden war, eine blassgrüne Plastikschüssel voller Trockentücher. Rimbaud blätterte um und begann etwas vorzutragen. Er rezitierte Kruso ins Ohr. Dabei stand er steif und leicht vorgebeugt, regungslos wie eine Zeichnung. Als er damit fertig war, zog Kruso ihn an seine Brust. Mitten in die Umarmung platzte ein Schrei aus dem Gang hinter Ed - mit einem gewaltigen Sprung hechtete Kruso an ihm vorbei, um einen Berg langsam, aber unweigerlich rutschender Teller abzufangen; der humpelnde Chris hatte seinen rechten Arm bis auf die Schulter, fast bis auf seinen Kopf hinauf mit schmutzigem Geschirr beladen. Alle lachten. Rimbaud schlug das Buch zu und schob es zurück ins Nest, zwischen die Tücher. Ed hörte, wie ihn Chris in seinem Rücken »Zwiebel« nannte, aber vielleicht täuschte er sich. Der Hallraum des Abwaschs schluckte jedes Wort. Um sich wirklich mitzuteilen, musste man näher zueinander treten. Trotzdem gab es vieles, das Ed nicht verstand, als würde innerhalb der Besatzung eine ihm fremde Sprache gesprochen. Zum Beispiel tauchte öfter der Ausdruck »Vergabe« oder »Vergebung« auf - was auch immer damit gemeint war, es blieb rätselhaft.
     Ich werde es lernen, dachte Ed.
     Das erste Mal seit seinem Aufbruch überkam ihn ein Gefühl von Verlorenheit. Er kratzte die schlierigen Überbleibsel eines Gemüses in die Tonne und ließ den Teller in sein Becken gleiten. Noch einmal spielte sein Schädel ein paar Zeilen des Trunkenen Schiffs; das Summen der Bestände.
     Kurz vor Feierabend kam der stumme Rolf vorbei und trug die Schüsseln mit den guten Resten in die Küche. Ein kleiner Stapel Kaffeegeschirr rutschte Ed aus der Hand und zerschellte. Niemand sagte ein Wort. Koch-Mike drückte die Schwenktür zur Küche auf und schob ihm Handfeger und Kehrblech zu. Ein Schwall von Wasserdampf waberte über den Boden. Ed hatte sich sofort gebückt, um die größten Scherben aufzulesen. Dabei spürte er den Umriss Krusos im Rücken, dann eine Hand in seinem Nacken, flüchtig nur, wie man ein Kind berührt bei seinen Hausaufgaben.


Ans Meer

Gefesselt vom Anblick der Topographien, die unter der Oberfläche des Wassers zu wandern schienen, wäre Ed fast gestürzt. Der Abstieg zum Strand führte über mehrere Tableaus aus Lehm und Sand, verbunden durch Treppen, die ihrer Bauart nach aus verschiedenen Jahrhunderten stammen mussten und in jämmerlichem Zustand waren. Von Stufe zu Stufe ergab sich ein neues Panorama. Der Anblick des Meeres! Ed fühlte die Verheißung. Und nichts anderes war es doch, wonach er sich sehnte, eine Art Jenseits, groß, rein, übermächtig.
     Auf halber Höhe öffnete sich die Aussicht nach Norden, auf den höchsten Küstenabschnitt. Dort im Gestrüpp auf dem Kliff lag das Gelände der Beobachtungskompanie. »Keine große Bewaffnung«, so erzählten es die Festlandlegenden, andere raunten von extrem genauen Geschützen mit einer nahezu unvorstellbaren Reichweite.
     Ed war der Einzige, der die Mittagspause dazu nutzte, ans Wasser zu kommen. Das Leben im Haus stand um diese Zeit still. Nach dem Chaos der Mittagsschicht mit den Schiffen voller Tagestouristen senkte sich Schlaf über die Lichtung. Ed erinnerte das an die Mittagsruhe seiner frühen Schulzeit, wenn sie nach dem Essen die Pritschen von der Rückwand des Klassenzimmers genommen und ausgeklappt hatten und wie auf Kommando in schwere Träume gesunken waren. Rimbaud fiel auf das abgewetzte Chaiselongue im Speisesaal, das in Verlängerung der sogenannten Leseecke aufgestellt war, ein kleiner runder Tisch mit Zeitschriften, FF-Dabei, Du und dein Garten, Guter Rat. Er ließ seine Füße mit den abgelaufenen Kellnerschuhen über die Lehne hängen und bedeckte sein Gesicht mit der Ostsee-Zeitung, die täglich mit dem Postboot angeliefert wurde. Alle Fähren, die zwischen den Inseln verkehrten, wurden von den Einheimischen »das Postboot« genannt. Schiffe, die vom Festland kamen, hießen »der Dampfer«. »Kommst du mit dem Postboot oder mit dem Dampfer?«, war eine der ersten, richtungsweisenden Fragen ... Ab und zu legte Rimbaud sich auch zu den anderen auf die grasbewachsene Böschung am Waldrand, nicht weit von der Stelle, wo der Weg hinüber zum Leuchtturm begann. An manchen Tagen sah Ed dort alle drei Kellner nebeneinander, in ihren weißen, aufgeknöpften Hemden, regungslos ausgestreckt, wie erschossen, wie nach einem Blutbad zu Zeiten der Prohibition - drei tote Freunde, mit weit ausgebreiteten Armen, auf einem der Römerlaken:
     »Was hast du all die Jahre gemacht?«
     »Ich bin früh schlafen gegangen.«
     Nur Kruso ruhte nie. Und er schien nie zu ermüden. Oft arbeitete er im Keller unter dem Abwasch, wo es einen Ofen zum Erhitzen des Wassers und eine Art Werkstatt geben musste. Oder er sammelte Totholz und trug es zum Hackstock. Sein Schurz aus einem rotkarierten Geschirrtuch, der freie Oberkörper, das zum Zopf gebundene Haar - tatsächlich glich Kruso einem Indianer, der mit großer Bestimmtheit, ja, mit Kraft und Eleganz, die nötigen Vorkehrungen traf - ohne dass Ed hätte sagen können, wofür. Es musste etwas Großes sein.
     An jedem Tag wurde Holz gemacht, wie Kruso es nannte, Treibholz oder Totholz auf Ofenlänge geschnitten oder zerstückelt mit der Axt. Öfter baute er auch an seiner Barriere, die sich im Halbkreis um den Klausner zog, eine Art Wildzaun vielleicht, für den er weniger gutes, dünnes Unterholz geschickt ineinanderflocht und dabei die kleineren, dicht beieinanderstehenden Stämme der Kiefern als Pfähle benutzte. Er selbst nannte den Zaun die äußere Palisade, wobei nicht klar war, wo dann die innere Palisade liegen sollte. Die Palisade war eine natürliche Barriere, die sich begrünte mit der Zeit und von selbst zu wachsen schien.
     War Kruso am Hackstock, vibrierte das Wasser in den Becken. Einmal hatte Ed ihn dabei beobachtet, wie gefangen vom Rhythmus der Axt und dem Anblick der ruhigen, kraftvollen Bewegung eines makellosen Körpers. Gewissenhaft wurde ein Holzklotz zu Scheiten zerkleinert. Ed wusste, dass es unmöglich war, ihn durch das verkrustete Fenster des Abwaschs zu erkennen, aber plötzlich hatte Kruso innegehalten und gewunken. Wenig später stand er an seiner Seite, die Axt noch in der Faust. Ernsthaft lächelnd (jene irritierende Verbindung zweier Ausdrücke in seinem großen, ovalen Gesicht) nahm Kruso ihn abermals am Arm und führte ihn im Hof herum.
     »Der Garten muss geschützt werden, die Wildschweine pflügen alles um mit ihren Schnauzen«, dabei deutete er auf eine Anlage am Waldrand, in der mit gutem Willen einige Beete zu erkennen waren. Rund um die Anpflanzungen waren Schnapsflaschen eingegraben. Das Ganze erinnerte an den Garten eines Trinkers und seinen Wunsch nach Versöhnung mit der Welt.
     Kruso ging in die Knie und legte seine Hand auf das Beet.
     »Nur deshalb kommen sie hier herüber - sie wittern die Freiheit, sie sind wie die Menschen.«
     Für einen Moment schaute er Ed in die Augen.
     »Im vergangenen Jahr haben sie den Garten vollständig verwüstet, sämtliche Pilze und die heiligen Kräuter. Die Dosis war natürlich zu hoch. Danach fühlten die Schweine sich vollkommen frei, frei von allem. Sie sind etliche Runden geschwommen, rund um die Insel, und haben Gefechtsalarm ausgelöst. Hast du Schweine je schwimmen sehen, Ed? Vater, Mutter, Kind, in einer Reihe, so ziehen sie durchs Wasser, viel schneller, als du es für möglich hältst, mit weit aus dem Wasser gereckten Schnauzen. Und genauso haben sie sie abgeschossen, Vater, Mutter, Kind - paff, paff, paff. Sie dachten, was sie denken mussten: Flüchtlinge, hartgesottene Grenzverletzer, die nicht einmal auf Zuruf oder Warnschuss reagierten. Der Sand da unten war rot für eine Weile. Es dauerte Stunden, bis sie ihren Irrtum eingesehen und alle Kadaver aus dem Wasser gefischt hatten. Koch-Mike hat natürlich versucht, ein bisschen frisches Fleisch für den Klausner abzustauben, aber da führte kein Weg rein; Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen - sie existieren einfach nicht.«
     Kruso sah zu Boden. Seine Lippen waren blass, die Augen fast geschlossen. Dieser Mann war Ed fremd und doch vertraut. Und nicht wirklich vertraut - es war mehr ein Vertrauen, nach dem man sich sehnte.
     Kruso zupfte etwas aus dem Beet. Für Ed waren Kraut und Unkraut nicht zu unterscheiden. Er versuchte, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen, und wollte Kruso nach den Kräutern fragen.
     »Die Schweine hatten zu viel Freiheit im Blut, verstehst du das, Ed? Diese Freiheit ...«, er deutete auf den Kräutergarten und machte eine Handbewegung hinüber zum Klausner und verstummte.

Teil 2

Stichwörter