Vorgeblättert

Loretta Napoloeoni: Die Ökonomie des Terrors, Teil 1

23.02.2004.
16       Die Ökonomie des Schattenstaats  

"Bleibt aufrecht, sterbt in Würde, denn die Kapitulation wäre das Ende von Widerstand und Intifada."  
Scheich Ahmed Jassin, Chef der Hamas, zu Jassir Arafat

Im Süden Beiruts leben in einer Barackenstadt, dem so genannten Elendsgürtel, Hunderttausende Flüchtlinge aus Palästina; die meisten von ihnen sind arme schiitische Bauern. Die ungepflasterten Straßen sind weder beschildert noch beleuchtet, ein Netz von Stromkabeln spannt sich über die unfertigen Häuser, heruntergekommenen Gebäude und gewundenen Gassen - eine Siedlung, die sich über 28 Kilometer erstreckt. Hier fällt es der Hisbollah nicht schwer, junge Leute anzuwerben. Die monotone Landschaft aus Ziegelsteinen und Zement wird nur durch bunte Wandgemälde aufgelockert, die Khomeini und die Märtyrer der Hisbollah zeigen. An Balkonen und Fenstern hängen neben den grün-gelben Fahnen des Islam schwarze Trauerflaggen, die die seltenen Besucher an das Schicksal der Bewohner erinnern, und die wenigen Straßen, die einen Namen tragen, sind nach Selbstmordattentätern benannt - Leute, die außerhalb des Elendsgürtels kaum bekannt sind. In einem bescheidenen Häuschen sieht der vierjährige Mohammad mit seiner kleinen Schwester ein Video: Vor einer öden Landschaft ist eine Häuserreihe zu sehen - eine Momentaufnahme, die einen beliebigen Ort der Dritten Welt zeigen könnte. Plötzlich sieht man eine Explosion, die das ganze Bild füllt. Als wäre ein riesiger Feuerwerkskörper gezündet worden, schießen Flammen in die Höhe, Schutt und Stahlteile fliegen durch die Luft. Voller Erregung springt der Junge auf und ruft: "Mein Papa, mein Papa!"(1)

Salah Ghandur, Mohammads Vater, war ein Selbstmordattentäter. Am 25. Mai 1995 griff er einen israelischen Konvoi an und jagte sich mit 450 Kilogramm Sprengstoff in die Luft; zwölf israelische Soldaten starben mit ihm. Die Hisbollah hat den Anschlag gefilmt und das Video der Familie als Zeichen der Anerkennung übergeben. Zwar ist es nicht die Regel, dass ein Familienvater eine Selbstmordmission übernimmt, aber Salah hatte sich stets gewünscht, zum Märtyrer zu werden, und konnte schließlich die Führung der Hisbollah überzeugen, seiner Berufung nachzukommen. Seine Frau und seine Angehörigen billigten diese Entscheidung: "Ich war von Freude erfüllt, weil er bei einer solchen Operation den Tod fand", sagte seine Frau Maha. "Darauf sind wir stolz, voller Stolz gehen wir hocherhobenen Hauptes, vor allem weil es ihm gelungen ist, Israel in Angst und Schrecken zu versetzen."(2) Salahs letzter Wunsch war gewesen, sein Sohn Mohammad möge in seine Fußstapfen treten.

In diesem tödlichen Konflikt ist der Märtyrertod das höchste moralische Ziel, das die Flüchtlinge erreichen können. Paradoxerweise stellt der Tod die Würde wieder her, die sie mit dem Land und der daran gebundenen politischen Identität verloren haben. Die Würde ist der Lebensinhalt der Flüchtlinge; wie Nackte inmitten von Bekleideten suchen sie panisch nach etwas, womit sie ihre Blöße bedecken können. Der Märtyrertod ist der beste Schutz, dessen sie habhaft werden können: Er beendet ein Leben im Elend und garantiert einen so hohen sozialen Status, dass die ganze Familie stolz darauf sein kann.

Selbstmordattentäter: eine Kosten-Nutzen-Analyse

Für jene, die auf diese Weise in den Tod gehen, für junge Männer also wie Mohammads Vater, ist das Leben letztlich das Kapital, über das sie verfügen - Salah verschacherte das seine für die Zukunft seiner Gemeinschaft. "Viele Menschen ziehen in den Dschihad und sind bereit, ihre Seele zu opfern", erklärte Schehadeh Salah, "und das ist das Wertvollste, was ein Menschen besitzt."(3) Für bewaffnete Gruppen ist der Märtyrertod vorrangig ein Vermögenswert, eine Waffe so wie Raketen, und daher stellt der Selbstmordattentäter in der Zahlungsbilanz des Terrors einen Aktivposten dar. Wie Abdel Asis Rantisi, ein Hamasführer in Gaza, sagt: "Hamas benutzt diese Taktiken und Kampfmittel, weil wir keine F-16, Apaches, Panzer und Raketen haben... Es geht nicht nur um das Paradies oder die Jungfrauen, sondern darum, dass wir im Besatzungszustand leben und die Schwachen sind."(4) Selbstmordattentate sind eine Angriffswaffe. Die Liberation Tigers of Tamil Eelam, die diese Kunst perfektioniert haben, räumen ein, dass sie auf diese Weise ihre zahlenmäßige Unterlegenheit und militärische Schwäche zu kompensieren versuchten.(5) Bei diesem makabren Geschäft werden Menschenleben zur Ware. "Selbstmordattentäter sind Handelsartikel, die von Hand zu Hand weitergereicht werden", erklärte ein hochrangiger israelischer Beamter. "Nehmen wir an, Sie gehören zu einer Terroristenzelle in Bethlehem und Sie überzeugen jemanden oder jemand kommt zu Ihnen und ist bereit, ein Selbstmordattentat zu begehen. Dann haben Sie einen Schatz, und den können Sie mit einer anderen Zelle - zum Beispiel in Ramallah - gegen Geld oder Waffen tauschen."(6)

Wenn Selbstmordattentäter Aktivposten sind, dann ist ihre Mission auf der Ausgabenseite zu verbuchen. Die Logistikkosten sollten jedoch nicht unterschätzt werden. Zwar ist die Ausrüstung in Form von Bomben und Sprengstoff selbst in den besetzten Gebieten Palästinas leicht zu beschaffen. Militante Mitglieder der Hamas und der al-Aksa-Märtyrerbrigaden erklären, eine Bombe sei bereits für fünf Dollar herzustellen. Düngemittel, Zucker, Metallreste und eine Umkleidung aus Plastik - mehr braucht man nicht. Die Planung kann hingegen teuer kommen; das Ziel muss gewählt und gefilmt, die Dynamik des Anschlags in allen Einzelheiten durchdacht werden. Das erfordert Arbeit und Ausrüstung. Auch die Transportkosten schlagen zu Buche. Heute ist der höchste Logistikposten für ein Selbstmordattentat in Israel die Reise des Attentäters zu seinem Bestimmungsort. Diese Kosten können sich auf hundert bis zweihundert Dollar(7) belaufen, weil ein Großteil der Anwärter auf den Märtyrertod in den besetzten Gebieten lebt und Israel mehrere Kontrollpunkte errichtet hat, um sie am Grenzübertritt zu hindern.

Überdies müssen die Folgekosten in Betracht gezogen werden. Die Israelis sind seit 1999 dazu übergegangen, die Häuser der Familien von Selbstmordattentätern zu zerstören. Häufig ist das Haus der einzige Besitz der Angehörigen. Diese skrupellose Maßnahme hat inzwischen Früchte getragen: Seit ihrer Einführung zögern immer mehr Familien, ihre jungen Leute in den Märtyrertod zu schicken. Der höchste Posten, der in der Gesamtrechnung anfällt, ist der Schadensersatz, den die Familie für den Verlust eines Angehörigen erhält. Wie hoch darf man das Leben eines Kindes veranschlagen? Wer kann das beantworten? In den besetzten Gebieten erhalten Familien etwa 30.000 Dollar für den Tod des Sohnes oder der Tochter; das Geld kommt von Wohltätigkeitsorganisationen, Sympathisanten oder ausländischen Regierungen wie der saudi-arabischen oder bis vor kurzem auch von Saddam Hussein aus dem Irak. Die Organisatoren der Selbstmordmission müssen es also nicht selbst aufbringen. Überdies bezahlt Saudi-Arabien den Familien eine Pilgerfahrt nach Mekka.(8)

Doch auch wenn man all diese Aufwendungen sowie die Folgekosten in Betracht zieht, bleiben Selbstmordattentate die kostengünstigsten Terrorangriffe. Für S. Thamilchelvam, den politischen Anführer der Liberation Tigers of Tamil Eelam in Sri Lanka, garantieren Selbstmordattentate "maximalen Schaden bei einem minimalen Verlust".(9) Durch den 11. September wurde beispielsweise die israelische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Die Einwanderungsquote ging um 40 Prozent zurück, während eine wachsende Zahl von Menschen das Land verlässt.(10) Selbstmordattentate treffen auch die Wirtschaft des Feindes schwer. Entschädigungen für die Familien der Flugzeugentführer nicht mitgerechnet, kostete der Anschlag vom 11. September nur 500.000 Dollar, während sich die Gesamtverluste für die Vereinigten Staaten - die Zerstörung von Eigentum, Aufräumarbeiten und Hilfszahlungen der US-Regierung - auf über 135 Milliarden Dollar belaufen werden.(11)

In Grosny, einer Stadt, die an das zerstörte Dresden nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs erinnert, liegen die Kosten für den Märtyrertod weit niedriger. Manchmal ist es mit dem Preis des Sprengstoffs schon getan, weil die Selbstmordattentäter häufig aus Familien stammen, die von russischen Soldaten ausgelöscht wurden. Die von Moskau verfolgte Politik sieht so aus: Wenn ein Rebell gefangen genommen oder getötet wird, dann knöpft sich die Armee die Familie vor: Die Männer werden erschossen oder inhaftiert, die Häuser niedergebrannt oder gesprengt, die Frauen und Kinder sich selbst überlassen. Heute, nach einem Jahrzehnt des Krieges, kämpfen zwischen 60.000 und 100.000 russische Soldaten gegen islamistische bewaffnete Gruppen und eine Handvoll Überlebende, vor allem Frauen und Teenager; der Tod ist für diese Menschen eine Erlösung. Wie Sulichan Bagalowa, die Leiterin des Moskauer Zentrums für tschetschenische Kultur, hervorhob, waren die Frauen, die Ende Oktober 2002 an der Geiselnahme im Moskauer Nordost-Theater beteiligt waren, allesamt erst Anfang zwanzig. Sie gehörten zu einer Generation, die im Krieg aufgewachsen war, keine Schule besuchen konnte, für die der Krieg Leben ist und das Leben unaufhörliche Angst. Sie sind täglich mit Todesschwadronen, Vergewaltigung, Folter, Mord und Verstümmelung konfrontiert. Für sie ist der Tod dem Leben vorzuziehen.(12) "Ich kenne persönlich mehrere Frauen, die vor den Augen ihrer Väter, Brüder und Ehemänner von Soldaten vergewaltigt wurden", sagte Bagalowa. "Nach so einem Erlebnis sterben die Frauen entweder, oder sie werden verrückt oder lassen sich zu Kamikazetäterinnen ausbilden. Es gibt viele Mädchen, die bereit sind, ein Kamikazeattentat zu begehen, und es werden noch mehr werden. Nach dieser Demütigung hat das Leben jeden Sinn für sie verloren."(13)
Teil 2
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(1) Hala Jaber, Hizbollah, Born with a Vengeance (New York: Columbia University Press, 1997).
(2) Ebd., S. 5.
(3) "Inside a Terrorist's Mind", Interview with Salah Shehadeh, The Middle East Media Research Institute, Special Dispatch Series Nr. 403, 24. Juli 2002, www.memri.org.
(4) Suzanne Goldberg, "The Men behind the Suicide Bombers", Guardian, 12. Juni 2002.
(5) Die Tamilen stellen ein Viertel der im übrigen singhalesischen Bevölkerung Sri Lankas. Amy Waldman, "Master of Suicide Bombing: Tamil Guerrillas of Sri Lanka", New York Times, 14. Januar 2003.
(6) Ebd.
(7) James Dunnigan, "The Rise and Fall of the Suicide Bombers", 21. August 2002, www.stragypage.com.
(8) Goldberg, "The Men behind the Suicide Bombers".
(9) Waldman, "Master of Suicide Bombing: Tamil Guerrillas of Sri Lanka".
(10) Ebd.
(11) Kimberly L. Thachuk, Terrorism's Financial Lifeline: Can it be Severed?, Strategic Forum, Institute for the National Strategic Studies Defense University, Washington DC, Nr. 191, Mai 2002, S.7.
(12) Chris Kline und Mark Franchetti, "The Woman behind the Mask", Sunday Times, 3. November 2002.
(13) Ebd.

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