Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Ulrich Peltzer: Teil der Lösung. Teil 3

20.08.2007.
Von irgendwoher haben die Ballerinas plötzlich Digitalkameras, mit denen sie die Ereignisse aufnehmen, zierlich wirkende Geräte, die sie in Brusthöhe leicht von sich gestreckt halten. Als betrachteten sie auf den Displays schon den Film, der sich vor ihren Augen gerade erst abspielt.
"Kennen Sie diese Geschichte?" fragt der Clown und wendet sich dem Publikum zu.
"Sofort Schluss", sagt Fiedler, während zwei andere Wachschützer, beide in Jacken mit dem Aufdruck, sich vor die Mädchen stellen, um sie am Filmen zu hindern.
"Nicht anfassen", ruft eine laut.
"Keine Sorge, Sie fasst niemand an", sagt Fiedler in einem Ton, der zwischen Verachtung und unterdrückter Wut hängt, Zeugen im Dutzend, eine konfuse Situation. Die Leute erwarten sich was, Material für ihre gefräßigen Objektive. Um es in Endlosschleifen durch ihre Player zu jagen, Stoptrick und Zeitlupe, auf der Suche nach einem bezwingenden Moment, in dem sich Einzigartiges offenbart.
Fiedler telefoniert. Er sagt wenig, es hört sich an, als gebe er lediglich einen Code durch. Als eine der filmenden Ballerinas sich ihm nähert, wehrt er sie mit ausgestrecktem Arm ab, ihr möglichst keinen Vorwand liefernd, sich als Opfer
zu produzieren. Man kennt das, hysterische Ausbrüche, Geschrei, Verletzungen, die mitleidheischend vorgetäuscht werden. Penner, der sich auf der Erde wälzt, nachdem man ihn scharf angeguckt hat.
"Und deshalb, meine Damen und Herren", sagt der Clown, "sehen Sie sich ohne Hemmungen um, unter der Kamera sind wir alle gleich."
"Gleich", pflichtet ihm der Melonenmann bei, "das ist Demokratie."
Sie scheinen es bis zum Äußersten treiben zu wollen, rechnen mit den Zuschauern, die sie in spontanem Einverständnis auf ihrer Seite wähnen. Als es am Rand zu Gerangel zwischen einer der Ballerinas und einem der Kollegen von PROTECTAS kommt, schreitet Fiedler ein, um die Lage unter Kontrolle zu halten.
"Wir bleiben ruhig", sagt er und stellt sich zwischen die beiden. "Wir bringen das hier ruhig zu Ende."
"Da oben", sagt eine Frau, nachdem sie den Flyer gelesen hat, und tippt ihre Begleiterin an, während sie die Hand zum Schutz vor den Reflexionen der Sonne an die Stirn legt. "Das Ding da muss eine sein."
Andere verhalten sich ähnlich, wie bei einer Kettenreaktion. Mit dem Lageplan auf dem Flyer ist es nicht schwer, die Kameras auszumachen, längliche viereckige Zylinder, die unter Vordächern befestigt sind, an Säulen, über Drehtüren oder einfach auf einem Metallgestänge an einer Gebäudewand, meist in fünf, vielleicht sechs Metern Höhe. Kleine Strahlenkanonen, die sich abrupt und geräuschlos um ihre Achsen bewegen, wie Roboter in vollautomatisierten Fabriken. Man beginnt sie zu zählen, erkennt die verschiedenen Perspektiven und Aufnahmewinkel, die der Plan als Kegelschnitte verzeichnet. Der Kreis lockert sich ein wenig auf, auch weil einige jetzt mit Hilfe des fotokopierten Zettels entferntere Kameras suchen, als seien sie auf einer Schnitzeljagd durch das Center. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass etwas passiert, was sie aus ihrer touristischen Routine herausreißt, großstädtische Erfahrungen, brandneues Wissen. Auf den Monitoren sind die Leute zu sehen, wie sie herumgehen, stehenbleiben, nach oben deuten und sich gestisch über die Koordinaten ihres Standorts verständigen: da die Passage zur Bellevuestraße, dort der Brunnen mit seinem glatten Edelstahlrand, weiter hinten die Youth.lounge und ein Aufzug ins Parkhaus. Es gibt sogar welche, die filmen die Kameras, um dann zu der Stelle hinüberzuschwenken, an der sich das loser gewordene Menschenknäuel befindet, Fiedler und die anderen.
"Wir dürften uns einig sein", sagt der kräftige Polizist, auf dessen Stirn einzelne Schweißtropfen glänzen. Wie seine Kollegin, unter deren Mütze ein lockiger Pferdeschwanz hervorschaut, trägt er ein kurzärmliges, grünlichbeiges Hemd, einen breiten Ledergürtel mit Pistolentasche, Handschellen, Notizblock, Patronenreserve.
"Durchaus nicht", sagt der Clown und hebt abwehrend seine Gummihände. "Bis da vorne ist privat, hier sind wir jenseits der Grundstücksgrenze."
"Der Bürgersteig gehört dazu", sagt Fiedler im Ton eines Mannes, der es besser weiß und nicht gewillt ist, zu diskutieren. "Ende der Durchsage."
"Haben Sie denn ?ne Anmeldung für Ihre Aktion? Oder Demonstration, oder wie wir das jetzt nennen wollen."
"Und außerdem", sagt Fiedler, näherrückend, "wart ihr drinnen, genau am Kaisersaal."
"Seit wann duzen wir uns?" fragt der junge Mann mit der Melone. "Aber gut", ihm die Hand hinstreckend, "ich bin Robert Bresson, du kannst Robbie zu mir sagen."
"Ich würde vorschlagen, ihr packt euren Krempel zusammen, und die Sache ist für mich erledigt."
Kaum älter als die vier, die ihr Spiel getrieben haben, lächelt der Polizist entgegenkommend, größerer Aufwand wäre fehl am Platz. Irgendwelche Aktivisten für oder gegen dies oder das, die nicht aussehen, als würden sie es auf eine Konfrontation anlegen. Ihre Verkleidung deutet darauf hin, dass es ihnen nur um das Publikum ging, Aufklärungsarbeit, die jetzt getan ist. Er blickt zu den Ballerinas, dann mit versöhnlich gehobenen Brauen in die Augen des Clowns.
"Was meinen Sie?"
"Ich meine, dass Sie unrecht haben, aber wir beugen uns der Macht des Gesetzes. Es lebe das Gesetz, das uns schützt und bewahrt."
"Schön zu hören."
Der Clown ergreift die rechte Hand des Polizeibeamten und schüttelt sie unter tiefen Verneigungen, die Zuschauer applaudieren. Die Ballerinas machen Knickse nach allen Seiten. Den alten Koffer unter seinen Arm geklemmt, tritt Robert Bresson, wie er sich vorgestellt hat, melonenbehütet zwischen die beiden.
"Bleiben Sie wachsam, meine Damen und Herren, und kümmern Sie sich um Ihre Aufnahmen."
Zu Fiedler gewandt, sagt er so laut, dass ihn wirklich jeder versteht: "Schicken Sie uns bitte eine Kopie von dem Band, nicht wieder heimlich verkaufen wie sonst."
"Hau ab", erwidert Fiedler, "sonst gibt?s ?ne Anzeige."
Im Gänsemarsch, der Clown als erster, schreiten sie winkend durch die Leute davon, eine der Ballerinas wirft Kusshändchen in sämtliche Richtungen. Am Straßenrand steht der silbergrüne Polizei-BMW, dessen stumm rotierendes Blaulicht in der flimmernden Luft ganz matt erscheint, wie von der Mittagshitze gebleicht. Das flache dunkle Stahldach der S-Bahnstation, auf die sie zugehen, verschwimmt in der Ferne, als lösten sich die unscharf gewordenen Kanten langsam von ihren Trägern ab. Steil aufragend rechts ein Hochhaus mit rostroter Backsteinfassade, das an amerikanische Wolkenkratzer aus den zwanziger Jahren erinnert, aus der heroischen Epoche von Fließband und Gangsterfilm, gegenüber der gläserne halbrunde Turm, dahinter ein Luxushotel in der Manier eines doppelten, sich sprunghaft nach oben verjüngenden Zikkurats. Bankautomaten, Modegeschäfte und Snackbars. Edellimousinen in raffiniert beleuchteten Showrooms und Pizza auf die Hand, Pralinen und Computerspiele, Büros über Büros in den Etagen bis zum Himmel. Einige Besucher sind noch immer mit den Kameras beschäftigt, versuchen sie an ihren Positionen aufzuspüren, mit akribischer Begeisterung die numerierte Liste auf dem Flyer abzuhaken. Die meisten haben den Vorfall fast schon vergessen und streben der nächsten, irgendwo auf sie wartenden Aufregung zu. Lediglich ein paar Jugendliche, halbe Kinder, von der Langeweile eines Klassenausflugs befreit, schneiden Fratzen in ein Objektiv hinein, posieren wie Models, nehmen sich gegenseitig auf die Schultern. Zeigen ihre Muskeln und wackeln mit den Hüften in einem imaginären Castingwettbewerb. Ein Lehrer ist natürlich nicht zu sehen. Idioten, denkt Kremer.


Mit freundlicher Genehmigung des Ammann Verlages
(Copyright Ammann Verlag)


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