Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Teil 1

10.07.2006.
Prolog

Der Kampf der monotheistischen Religionen


Mitternacht, und noch fünf Stunden bis Marrakesch. Ich konnte noch nie im Zug schlafen. Der von den Rädern unerbittlich auf die Schienen geklopfte Rhythmus hält mich wach. Ein melodischer Klang, viel zu laut, um ihn zu ignorieren. Nicht einmal der Einbruch der Dunkelheit scheint zu helfen, im Gegenteil. Nachts ist es am schlimmsten, wenn von der grenzenlosen Weite und Stille der Wüste, die vor dem Fenster vorüberzieht, nur der Sternenhimmel zu sehen ist.
Das ist bedauerlich, denn eine Zugfahrt durch Marokko übersteht man schlafend am besten. In den Zügen tummeln sich illegale faux guides, falsche Führer, die von Abteil zu Abteil gehen, auf der Suche nach Touristen, denen sie ihre Dienste anbieten können: Empfehlungen der besten Restaurants, der billigsten Hotels und der attraktivsten Frauen. Die faux guides in Marokko sprechen ein halbes Dutzend Sprachen, und das macht es schwierig, einfach über sie hinwegzusehen. Meine olivbraune Haut, die dicken Augenbrauen und mein schwarzes Haar läßt sie gewöhnlich Abstand wahren. Doch die einzige Möglichkeit, sie sich ganz vom Leib zu halten, ist zu schlafen. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihr Glück beim nächsten Reisenden zu versuchen.
Genau diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich aus dem Nachbarabteil laute Stimmen hörte. Ich vermutete einen Wortwechsel zwischen einem dieser hartnäckigen faux guides und einem unwilligen Touristen. Das unnachgiebige Arabisch-Geschnatter, für meine Ohren viel zu schnell, wurde immer wieder von den ungehaltenen Entgegnungen eines Amerikaners unterbrochen.
Ich war schon mehrfach Zeuge derartiger Auseinandersetzungen gewesen: im Sammeltaxi, im Basar und oft auch im Zug. Während der Monate, die ich bisher in Marokko unterwegs war, hatte ich mich an die plötzlichen Wutausbrüche der Einheimischen gewöhnt. Sie donnern los wie aus heiterem Himmel. Doch genauso schnell verebbt der Ausbruch wieder, verliert sich in leisem Grummeln und freundlichem Schulterklopfen.
Die Stimmen nebenan wurden lauter, und jetzt glaubte ich zu verstehen, was los war. Es war gar kein faux guide. Ein scharfer Tadel wurde ausgesprochen. Schwer zu sagen, worum genau es ging, aber ich hörte Sprachfetzen des berberischen Dialekts heraus, der manchmal von den Behörden benutzt wird, um Ausländer einzuschüchtern. Der Amerikaner sagte immer wieder: "Wait a minute", und dann: "Parlez-vous anglais? Parlez-vous français?" Der Marokkaner, soviel verstand ich, verlangte die Pässe.
Neugierig geworden, stand ich auf und stieg behutsam über die Beine des neben mir schnarchenden Geschäftsmanns. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und schlüpfte hinaus auf den Gang. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erhaschte ich durch die Glastür des Nachbarabteils einen Blick auf die bekannte rot-schwarze Uniform des Zugschaffners.
Ich klopfte leise und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
"As-salam alaikum", sagte ich. Friede sei mit dir.
Der Schaffner hielt in seiner Zurechtweisung inne und wandte sich mir zu mit dem Gruß "Wa-alaikum as-salam." Friede sei auch mit dir. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen waren blutunterlaufen, aber er wirkte nicht wütend. Sein strähniges Haar und die zerknitterte Uniform ließen vermuten, daß er gerade erst aufgewacht war. Seine Stimme klang träge, und er war schwer zu verstehen. Meine Anwesenheit beflügelte ihn.
"Werter Herr", sagte er in klarem, verständlichem Arabisch, "das ist kein Nachtclub. Hier gibt es Kinder. Das ist kein Nachtclub."
Ich hatte keinen Schimmer, was er meinte.
Der Amerikaner packte mich an den Schultern. "Würden Sie diesem Mann bitte sagen, daß wir geschlafen haben?" Er war jung und auffallend groß, mit großen grünen Augen, und fuhr sich unablässig mit den Fingern durch seinen blonden Haarschopf. "Wir haben geschlafen", wiederholte er und artikulierte dabei die Worte so überdeutlich, als müßte ich sie ihm vom Mund ablesen. "Comprendez-vous?"
Ich wandte mich wieder an den Zugschaffner und übersetzte: "Er sagt, er hat geschlafen."
Der Schaffner, aschfahl im Gesicht, verfiel in seiner Nervosität erneut in einen unverständlichen Berber-Dialekt. Er fing an, wild zu gestikulieren, um seine Aufrichtigkeit zu unterstreichen und mir begreiflich zu machen, daß er sich wegen eines schlafenden Paares nicht so aufregen würde. Er habe selbst Kinder, betonte er immer wieder. Er sei ein Vater; und er sei ein Muslim. Er fuhr mit seiner Aufzählung fort, aber ich hörte ihm nicht mehr zu. Eine andere Person im Abteil beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit.
Da saß eine Frau hinter dem Mann, dicht hinter ihm, um Deckung zu finden, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände im Schoß gefaltet. Ihr Haar war zerzaust, ihre Wangen glühten. Sie sah uns nicht direkt an, sondern verfolgte das Geschehen im verzerrten Spiegelbild des Abteilfensters.
"Haben Sie ihm gesagt, daß wir geschlafen haben?" fragte mich der Amerikaner.
"Ich denke nicht, daß er Ihnen glaubt", erwiderte ich.
Mein Englisch verblüffte ihn sichtlich, doch der Schock über die Anschuldigung war viel zu stark, als daß er den Gedanken weiterverfolgt hätte. "Er glaubt mir nicht? Na fein. Und was will er jetzt machen? Uns zu Tode steinigen?"
"Malcolm!" rief die Frau, lauter, als sie es wohl beabsichtigt hatte. Sie streckte die Arme aus und zog ihn zu sich herunter.
"Ist ja wunderbar", sagte Malcolm mit einem Seufzer. "Fragen Sie ihn, wieviel er haben will, damit er geht." Er fummelte in seinen Hemdtaschen herum und zog einen Packen zerfledderter bunter Geldscheine heraus. Bevor er sie dem Schaffner entgegenstrecken konnte, trat ich dazwischen und nahm den Schaffner am Arm.
"Der Amerikaner sagt, es tut ihm leid", sagte ich. "Es tut ihm außerordentlich leid."
Ich führte ihn behutsam zur Tür, aber er wollte die Entschuldigung nicht annehmen. Erneut forderte er die Pässe. Ich tat, als verstünde ich nicht. Seine Reaktion kam mir ein bißchen überzogen vor, fast als spielte er Theater. Vielleicht hatte er das Paar tatsächlich in einem unschicklichen Augenblick überrascht, aber in dem Fall hätte eine scharfe Rüge ausgereicht. Sie waren jung; sie waren Ausländer; die komplizierten Anstandsregeln der muslimischen Welt waren ihnen fremd. Das wußte der Schaffner ganz gewiß. Und trotzdem schien er durch dieses so offensichtlich harmlose Paar zutiefst beunruhigt, ja persönlich gekränkt. Nachdrücklich wiederholte er, er sei ein Vater und ein Muslim und ein anständiger Mensch. Ich stimmte ihm zu und versprach, bis zur Ankunft in Marrakesch bei dem Paar zu bleiben.
"Gott vermehre Ihre Freundlichkeit", sagte ich und öffnete die Tür.
Widerstrebend legte der Schaffner die Hand auf seine Brust und dankte mir. Schon im Begriff, in den Gang hinauszutreten, wandte er sich noch einmal um und wies mit zitterndem Zeigefinger auf das auf dem Bettrand sitzende Paar. "Christian!" stieß er auf Englisch hervor, und seine Stimme bebte vor Verachtung. Er schloß die Tür, und wir hörten, wie er geräuschvoll den Gang entlangstapfte.
Einen Augenblick sprach niemand ein Wort. Ich blieb an der Tür stehen und hielt mich an der Gepäckablage fest, als der Zug in eine weite Kurve bog. "Eine sonderbare Bemerkung", sagte ich lachend.
"Ich bin Jennifer", sagte das Mädchen. "Und das ist mein Mann, Malcolm. Danke für Ihre Hilfe. Es hätte ein schlimmes Ende nehmen können."
"Das glaube ich nicht", sagte ich. "Er hat die Sache bestimmt längst vergessen."
"Es gibt nichts zu vergessen", sagte Malcolm.
"Natürlich."
Plötzlich wurde Malcolm wütend. "Die Wahrheit ist, der Mann lauert uns auf, seit wir in diesen Zug eingestiegen sind."
"Malcolm", flüsterte Jennifer und drückte seine Hand. Ich versuchte, ihren Blick aufzufangen, aber sie sah mich nicht an. Malcolm zitterte vor Wut.
"Aber warum?" fragte ich.
"Sie haben doch gehört, was er gesagt hat", erwiderte Malcolm mit erhobener Stimme. "Weil wir Christen sind."
Ich fuhr zusammen. Es war eine unwillkürliche Reaktion, nur ein Zucken der Augenbrauen. Doch Jennifer war es nicht entgangen, denn sie sagte beinah entschuldigend: "Wir sind Missionare und unterwegs in die Westsahara, um das Evangelium zu predigen."
Und auf einmal begriff ich, warum der Schaffner das Paar nicht aus den Augen gelassen hatte; warum er so voller Groll und Unduldsamkeit war, als er sie in einer kompromittierenden Situation erwischt hatte. Mein Blick fiel auf einen kleinen offenen Karton zwischen zwei Rucksäcken auf der Gepäckablage, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Darin lagen grün gebundene Taschenbuchausgaben des Neuen Testaments in arabischer Übersetzung. Drei oder vier davon fehlten.
"Möchten Sie eins haben?" fragte Jennifer. "Wir verteilen sie kostenlos."

Seit den Anschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001 erklären Experten, Politiker und religiöse Prediger in den Vereinigten Staaten und Europa, es herrsche ein "Kampf der Kulturen", um Samuel Huntingtons inzwischen zum Schlagwort gewordene Formulierung zu benutzen. Ein Kampf zwischen den modernen, aufgeklärten, demokratischen Gesellschaften des Westens und den archaischen, barbarischen, autokratischen Gesellschaften des Nahen Ostens. Einige durchaus anerkannte Wissenschaftler haben diesen Gedanken aufgegriffen und behauptet, die Schuld daran, daß es in der islamischen Welt keine Demokratie gebe, trage in erster Linie die muslimische Kultur selbst, die mit den Werten der Aufklärung, mit Liberalismus, Pluralismus, Individualismus und Menschenrechten, grundsätzlich unvereinbar sei. Es sei daher nur eine Frage der Zeit, bis diese beiden großen Kulturkreise mit ihren konträren Ideologien aufeinanderprallten. Und was könnte diese These besser belegen als der 11. September?
Hinter dieser törichten, Zwietracht säenden Rhetorik steckt eine subtilere, ungleich gefährlichere Geisteshaltung: daß es sich weniger um einen kulturellen als vielmehr um einen religiösen Konflikt handle; nicht um einen "Kampf der Kulturen", sondern um einen "Kampf der monotheistischen Religionen".
Aus dieser Gesinnung heraus lassen sich die Äußerungen des prominenten, politisch einflußreichen Erweckungspredigers Reverend Franklin Graham verstehen. Der Sohn Billy Grahams und geistliche Ratgeber des amerikanischen Präsidenten George W. Bush bezeichnete den Islam öffentlich als eine "bösartige Religion". In ähnlicher Weise argumentierte die extreme, doch ausgesprochen populäre konservative Kolumnistin Ann Coulter, die nach dem 11. September in ihren Artikeln die westlichen Länder aufrief, muslimische "Länder anzugreifen, ihre Führer zu töten und die Bevölkerung zum Christentum zu bekehren". Diese Gesinnung zeigt sich auch in der Rhetorik des Kriegs gegen den Terrorismus, der auf beiden Seiten des Atlantiks in entschieden christlich geprägter Terminologie als Kampf zwischen Gut und Böse beschrieben wird. Und sie bildet den Hintergrund für die Geschehnisse in den Gefängnissen Iraks und Afghanistans, wo muslimische Kriegsgefangene unter Androhung von Folter gezwungen wurden, Schweinefleisch zu essen, Alkohol zu trinken und den Propheten Muhammad zu verfluchen.
Freilich herrscht auch im Islam durchaus kein Mangel an antichristlicher und antijüdischer Propaganda. Bisweilen scheint es, als könnten selbst die Gemäßigteren unter den Predigern und Politikern der muslimischen Welt nicht widerstehen, gelegentlich von einer Verschwörung der "Kreuzzügler und Juden" zu sprechen - womit meist der gesichtslose, kolonialistische, zionistische und imperialistische "Andere" im Gegensatz zur eigenen, muslimischen Gemeinschaft gemeint ist. Der Kampf der monotheistischen Religionen ist jedoch kein neues Phänomen. Angefangen mit der islamischen Expansion über die blutigen Kriege und Inquisitionstribunale der Kreuzzugszeit bis hin zum Kolonialismus mit seinen tragischen Folgen und dem Teufelskreis der Gewalt in Israel und Palästina waren die Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen seit jeher von Feindseligkeit, Mißtrauen und oftmals Intoleranz und Gewalt geprägt.
In den letzten Jahren jedoch wird das Szenario eines apokalyptischen, endzeitlichen Kampfes heraufbeschworen und die politische Agenda theologisch unterfüttert, so daß die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen der feindseligen, auf Unkenntnis beruhenden Rhetorik der verheerenden Religionskriege der Vergangenheit und der Rhetorik der gegenwärtigen Kriege im Nahen Osten nicht mehr zu ignorieren sind. Wenn Reverend Jerry Vine, ehemals Vorsitzender der Southern Baptist Convention, der größten protestantischen Kirche in den USA, den Propheten Muhammad als einen "vom Teufel besessenen Kinderschänder" bezeichnet, gleicht er auf fast gespenstische Weise den mittelalterlichen päpstlichen Propagandisten, die in Muhammad den Antichristen und in der islamischen Expansion ein Zeichen für die herannahende Apokalypse erkennen wollten. Wenn der republikanische Senator James Inhofe aus Oklahoma vor dem US-Kongreß erklärt, die aktuellen Konflikte im Nahen Osten seien keine politischen oder territorialen Kriege, sondern "ein Kampf um die Wahrheit von Gottes Wort", so bedient er sich, wissentlich oder nicht, der Sprache der Kreuzfahrer.
Man könnte dem entgegenhalten, daß der Kampf der monotheistischen Religionen die unausweichliche Folge des Monotheismus selbst ist. Während eine Religion mit mehreren Göttern viele Mythen kennt, die die conditio humana beschreiben, hat eine Religion mit einem einzigen Gott tendenziell nur einen Mythos. Sie lehnt nicht nur alle anderen Götter ab, sondern auch alle anderen Beschreibungen Gottes. Wenn es nur einen Gott gibt, kann es auch nur eine Wahrheit geben. Ein solches Verständnis führt leicht zu blutigen Konflikten zwischen unversöhnlichen absoluten Positionen. Missionarische Aktivitäten, selbst wenn sie den Armen dieser Welt Gesundheit und Schulbildung bringen, gründen unweigerlich auf der Überzeugung, daß es nur einen einzigen Weg zu Gott gibt und daß alle anderen Wege zu Sünde und Verdammnis führen.
Malcolm und Jennifer gehörten, wie ich im Eisenbahnzug nach Marrakesch erfuhr, zu einer rasch wachsenden Bewegung christlicher Missionare, die zunehmend beginnen, ausschließlich in der muslimischen Welt zu operieren. Weil die christliche Evangelisierung in muslimischen Ländern stark in Mißkredit steht - vorwiegend aufgrund der immer noch wachen Erinnerung an den Kolonialismus, als die desaströse europäische "Zivilisierungsmission" mit einer vehement antiislamischen "Christianisierungsmission" Hand in Hand ging -, weisen evangelikale Organisationen ihre Missionare neuerdings an, in der muslimischenWelt "verdeckt" zu operieren, eine muslimische Identität anzunehmen, muslimische Kleidung (einschließlich des Schleiers) zu tragen, ja sogar zu fasten und zu beten wie Muslime. Gleichzeitig hat die Regierung der Vereinigten Staaten christliche Hilfsorganisationen aufgerufen, sich am Aufbau der Infrastrukturen im Irak und in Afghanistan nach dem Krieg aktiv zu beteiligen. Damit bestätigt sie das Mißtrauen all jener, die in der Besetzung dieser Länder von vornherein einen christlichen Kreuzzug gegen die Muslime gesehen haben. Hinzu kommt, daß viele Menschen in der muslimischen Welt an geheime Absprachen zwischen den Vereinigten Staaten und Israel glauben, die gegen muslimische Interessen allgemein und die Rechte der Palästinenser im besonderen gerichtet sind. Durchaus verständlich, daß unter diesen Vorzeichen Ressentiments und Argwohn der Muslime gegenüber dem Westen zugenommen haben - mit verhängnisvollen Konsequenzen.
Bedenkt man, wie mühelos sich religiöses Dogma mit politischer Ideologie verquicken ließ, stellt sich die Frage, wie es uns je gelingen kann, die Mentalität eines Kampfes der monotheistischen Religionen zu überwinden, die sich in das Bewußtsein der modernen Welt so tief eingegraben hat. Bildung und Toleranz spielen natürlich eine wichtige Rolle. Was wir aber am dringendsten brauchen, ist nicht so sehr ein besseres Verständnis für die Religion unserer Nachbarn, sondern ein tieferes und umfassenderes Verständnis der Religion an sich.
Religion ist etwas anderes als Glaube. Religion ist die erzählte Geschichte des Glaubens. Ein institutionalisiertes Gefüge aus Symbolen und Metaphern (Ritualen und Mythen) in einer Sprache, die es einer Glaubensgemeinschaft ermöglicht, einander ihre Begegnung mit dem Numinosen, dem Göttlichen, mitzuteilen. Religion handelt nicht von der faktischen, sondern von der sakralen Geschichte, die eben nicht wie ein Strom durch die Zeit verläuft. Die sakrale Geschichte gleicht eher einem geheiligten Baum, dessen Wurzeln tief in die Urzeit reichen und dessen Zweige in die faktische Geschichte ausgreifen, ohne sich um die Grenzen von Raum und Zeit zu kümmern. Ja, Religionen entstehen immer dann, wenn sakrale und faktische Geschichte aufeinanderstoßen. Zum Kampf der monotheistischen Religionen kommt es, wenn der Glaube, geheimnisvoll, unfaßbar und jegliche Kategorisierung scheuend, sich im knorrigen Geäst der Religion verfängt.

Das vorliegende Buch also erzählt die Geschichte des Islams. Eine Geschichte, die in den Erinnerungen der ersten Generation von Muslimen verankert und von den ersten Biographen des Propheten Muhammad, Ibn Ishaq (gestorben 768), Ibn Hischam (gestorben 833), al-Baladhuri (gestorben 892), al-Tabari (gestorben 922) u. a., aufgezeichnet worden ist. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht der heilige Koran, Gottes Offenbarung, die Muhammad in einem Zeitraum von dreiundzwanzig Jahren in Mekka und Medina zuteil wurde. Aus Gründen, die bald deutlich werden, erzählt der Koran nur sehr wenig über Muhammads Leben (ja, der Prophet findet darin kaum Erwähnung). Doch für das Verständnis des muslimischen Glaubens in seiner frühesten Zeit - also noch bevor der Glaube zur Religion und die Religion zur Institution wurde - ist der Koran von unschätzbarem Wert.
Dennoch dürfen wir nicht vergessen, daß der Koran und die Überlieferung der Worte und Taten des Propheten, so unverzichtbar und historisch wertvoll sie sein mögen, in der Mythologie verwurzelt sind. Es ist bedauerlich, daß das Wort Mythos, das ursprünglich nichts anderes bedeutete als "Geschichten vom Übernatürlichen", zum Synonym für Lüge und Falschheit wurde, wo doch Mythen an sich immer wahr sind. Sie besitzen eine ureigene Legitimität und Glaubwürdigkeit, auch wenn die Wahrheiten, die sie übermitteln, mit den historischen Fakten wenig zu tun haben. Die Frage, ob Mose das Rote Meer tatsächlich geteilt, ob Jesus Lazarus tatsächlich von den Toten auferweckt oder Gott tatsächlich aus dem Munde Muhammads gesprochen hat, ist vollkommen unerheblich. In bezug auf eine Religion und ihre Mythologie lautet die einzig wichtige Frage: Was wollen diese Geschichten zum Ausdruck bringen?
Es ist eine Tatsache, daß kein Verkünder der großen Weltreligionen je bestrebt war, historische Ereignisse in möglichst objektiver Form festzuhalten. Es ging ihnen nicht um die Weitergabe beobachtbarer Fakten! Vielmehr deuteten sie bestimmte Ereignisse, um den Mythen und Ritualen ihrer Gemeinschaft Form und Geltung zu verleihen, künftigen Generationen eine gemeinsame Identität, ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Geschichte zu geben. Schließlich ist Religion per definitionem Deutung, Interpretation; und per definitionem haben alle Interpretationen ihre Berechtigung, auch wenn einige vernünftiger sind als andere. Und wie schon der jüdische Philosoph und Mystiker Moses Maimonides bemerkte, ist es der Verstand und nicht die Phantasie, der entscheidet, was glaubwürdig ist und was nicht.
Wissenschaftler formulieren eine vernünftige Interpretation einer bestimmten religiösen Tradition, indem sie die Mythen dieser Religion mit dem in Verbindung bringen, was über die spirituelle und politische Landschaft bekannt ist, in der diese Mythen entstanden sind. Gestützt auf den Koran und die Überlieferungen des Propheten und unter Berücksichtigung dessen, was wir über das kulturelle Umfeld wissen, in dem Muhammad geboren und seine Botschaft geformt wurde, können wir ein vernünftiges Bild über die Ursprünge und die Entwicklung des Islams gewinnen. Eine schwierige Aufgabe, die jedoch dadurch erleichtert wird, daß Muhammad "im vollen Licht der Geschichte" geboren wurde, um mit Ernest Renan zu sprechen, und als ein enorm wirkungsmächtiger Prophet starb (was ihm seine christlichen und jüdischen Kritiker nie verziehen haben).
Auf der Grundlage einer vernünftigen Interpretation über den Aufstieg des Islams im Arabien des 6. und 7. Jahrhunderts läßt sich nachvollziehen, auf welche Weise Muhammads revolutionäre Botschaft der moralischen Verantwortung und sozialen Gleichheit von seinen Nachfolgern allmählich neu interpretiert wurde; wie konkurrierende Auffassungen einer strengen Gesetzesfrömmigkeit und kompromißlosen Orthodoxie entstanden, die die muslimische Gemeinschaft spalteten und die Kluft zwischen der sunnitischen Hauptströmung des Islams und den beiden sektiererischen Strömungen Schiitentum und Sufismus immer weiter vergrößerten. Trotz ihrer gemeinsamen sakralen Geschichte strebte jede dieser Gruppen danach, ihre eigene Deutung der Schrift, ihre eigenen theologischen und juristischen Vorstellungen und ihre eigene Glaubensgemeinschaft zu entwickeln. Und jede dieser Gruppen fand im 18. und 19. Jahrhundert eine andere Antwort auf den Kolonialismus. Die koloniale Erfahrung zwang die gesamte muslimische Gemeinschaft, die Rolle des Glaubens in der modernen Gesellschaft neu zu überdenken. Während die einen auf eine eigenständige islamische Aufklärung drängten und sich bemühten, islamische Alternativen zu den westlichen säkularen Ideen der Demokratie zu entwickeln, plädierten die anderen für die Loslösung von den kulturellen Idealen des Westens zugunsten einer vollständigen "Islamisierung" der Gesellschaft. Mit dem Ende des Kolonialismus und der Entstehung des islamischen Staats im 20. Jahrhundert haben diese beiden Gruppen - vor dem Hintergrund der in der muslimischen Welt bis heute anhaltenden Debatte über eine eigene islamische Demokratie - ihre Argumente geschärft. Wie wir jedoch sehen werden, steht im eigentlichen Mittelpunkt der Debatte über Islam und Demokratie das ungleich wichtigere innere Ringen um die Definition der islamischen Reformation, die in weiten Teilen der muslimischen Welt bereits im Gange ist.
Die Reformation des Christentums war ein gewalttätiger Prozeß, aber er war nicht, wie häufig gesagt wird, eine Auseinandersetzung zwischen protestantischem Reformwillen und katholischer Intransigenz. Die christliche Reformation war vielmehr ein Kampf um die Zukunft des Glaubens - eine gewaltsame, blutige Auseinandersetzung, die Europa mehr als hundert Jahre lang Verwüstung und Krieg brachte.
Die islamische Reformation verlief bisher nicht viel anders. Für den Westen signalisierte der 11. September 2001 den Beginn eines weltweiten Kampfes zwischen dem Islam und dem Westen - die ultimative Manifestation des Kampfes der Kulturen. Aus islamischer Sicht dagegen waren die Angriffe auf New York und Washington Teil eines noch immer tobenden Kampfes zwischen denjenigen Muslimen, die ihre religiösen Werte mit den Gegebenheiten der modernen Welt in Einklang zu bringen suchen, und denjenigen, die dem Modernismus und Reformwillen mit einer Rückbesinnung auf die "Fundamente" ihres Glaubens entgegentreten - bisweilen auf fanatische Weise.
Das vorliegende Buch ist nicht nur eine kritische Bestandsaufnahme von Ursprung und Entwicklung des Islams; nicht nur eine Darstellung der gegenwärtigen innermuslimischen Auseinandersetzung um die Zukunft dieses großartigen, doch oft mißverstandenen Glaubens. Es ist vor allem ein Plädoyer für Reformen. Einige mögen finden, es bedeute eine Abkehr vom Glauben, aber das ist nicht weiter schlimm. Niemand kann für Gott sprechen - nicht einmal der Prophet (der über Gott spricht). Andere mögen es für apologetisch halten, aber das ist keine schlechte Sache. Eine Apologie ist eine Verteidigung, und was gibt es Nobleres, als den eigenen Glauben zu verteidigen, insbesondere gegen Ignoranz und Haß, und mitzuwirken, die Geschichte dieses Glaubens zu erzählen - eine Geschichte, die vor eintausendvierhundert Jahren, am Ende des 6. Jahrhunderts n. Chr., in der heiligen Stadt Mekka begann, wo Muhammad ibn Abdallah ibn Abd al-Muttalib geboren wurde, der Prophet und Gesandte Gottes. Möge Frieden und Segen auf ihm ruhen.

Teil 2