Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Rainer-K. Langner: Kopernikus in der Verbotenen Stadt. Teil 2

17.09.2007.
Manch Kranker wurde zu oft zur Ader gelassen und verblutete, bevor er der eigentlichen Erkrankung erlag. Wer aber die "holländische Krankheit" und die unberechenbare See glücklich überlebte, den erwarteten vielleicht Kriegsschiffe anderer Nationen, holländische oder englische Freibeuter und Piraten, die einzig an der Ladung der aufgebrachten Schiffe interessiert waren, nicht an deren Passagieren. Das Hauen und Stechen auf dem Atlantik, dem indischen oder dem chinesischen Meer war Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, die von jenen europäischen Nationen betrieben wurde, die ihre eigenen Interessen in der Aufteilung der Welt durch Papst Alexander VI. unberücksichtigt fanden. 1494, nach langem Gezänk, wurde der Vertrag von Tordesillas zwischen dem Papst, Spanien und Portugal unterzeichnet, nach dem alle Länder östlich des Meridian 46° 37? Portugal, westlich von ihm Spanien zugesprochen wurden. Diese Grenzziehung war beliebig und blieb daher weiterhin zwischen den beiden Königreichen auf der Iberischen Halbinsel ein steter Zankapfel. Frankreichs König Franz I. dagegen reagierte eher amüsiert. "Ich möchte zu gerne den Paragraphen in Adams Testament sehen, der die Neue Welt zwischen meinen Brüdern, dem Kaiser Karl V. [von Spanien] und dem König von Portugal, teilt."

In Lissabon läuteten die Kirchenglocken, allen voran die der "Cinco Chaga", ("Fünf Wunden Christi"); die Menge schrie, jeder wollte den Seeleuten dieses oder jenes noch hin­überrufen. Zur festgesetzten Zeit durchschlug ein Kanonenschuss die Geräuschkulisse, Schiffstaue fielen ins Wasser, und das Schiff entfernte sich langsam vom Kai in den Wind.

Die "Nossa Senhora de Jesus" war der zweite der fünf Ostindienfahrer, die sich vom Kai lösten. Begleitet wurde die Flottille von weiteren Schiffen, die Madeira oder einige der portugiesischen Forts an der westafrikanischen Küste ansteuerten. Das machte die ersten Tage auf See sicherer, holländische oder englische Freibeuter würden den starken Verband, der von zwei Kriegsschiffen begleitet wurde, nicht angreifen. Irgendwann kippte die Silhouette Lissabons unter die Horizontlinie, verschwand Europas letzter Küstenstreifen in der dunstigen Ferne. Manche sollten nie mehr Land sehen, viele Europa nicht mehr betreten.

635 Passagiere fanden Platz auf der "Nossa Senhora de Jesus", einem Dreimaster mit quergestellten Rahsegeln an Vorder- und Hauptmast, einem Lateinersegel am hinteren Besanmast. Der Segler, eine typische Karracke, wurde von 200 Seeleuten in den Wind gebracht, zur Hälfte von "grimetes", unerfahrenen, nicht ausgebildeten jungen Burschen unter 20 Jahren.

Sechs bis acht Monate waren für die Überfahrt nach Goa kalkuliert, dafür nahm man pro Person durchschnittlich 850 kg Nahrungsmittel und Wein an Bord - über 1000 Zentner Schiffszwieback, mehr als 300 Zentner Pökelfleisch und 36 Zentner Sardinen. Käse, Eier, Olivenöl, Butter, Marmelade, Bohnen, Erbsen, gebackene Pflaumen, Mandeln, Knoblauch, Zwiebeln, Zucker, Honig, Hühner, Ziegen, Schafe und Schweine. Ein Proviantmeister wachte mit aller Strenge darüber, dass die tägliche Ration exakt ausgegeben wurde. Eine Kanne Wasser, etwa ein Liter, eine halbe Kanne Wein; 1 ¾ Pfund Schiffszwieback und jeden Monat ungefähr ein "arroba" Pökelfleisch, etwa 14,5 Kilogramm. Gekocht wurde an Deck in zwei Sandkästen, die links und rechts am Hauptmast aufgestellt waren - wenn das Wetter günstig war und die See relativ ruhig.

Johannes Schreck hatte mit vier Ordensbrüdern - Trigault, Adam Schall von Bell, Wenzeslaus Kirwitzer und Johann Alberich - Platz in einer winzigen Außenkajüte im Achterdeck gefunden. Noch in der ersten Nacht auf See versuchte er, aus dem geöffneten Fenster heraus mit einem Quadranten die inzwischen zurückgelegte Entfernung zu bestimmen. Er musste seine Bemühungen aufgeben, immer wieder hüpfte der anvisierte Polarstern aus der Kimme, auch fand er unter der rollenden Schaukelbewegung des Bootskörpers keinen festen Stand. Er zog sich auf das offene Schanzdeck zurück, gefolgt vom 14 Jahre jüngeren Adam Schall, dessen Anhänglichkeit ihn eher störte. Kann sein, dass an Bord der "Senhora de Jesus" zwischen beiden Männern jene Antipathie entstand, die später dem Gerücht Nahrung bot, dem zufolge Adam Schall von Bell am Tod seines Ordensbruders nicht ohne Anteil war. Noch aber standen sie Nacht für Nacht, wenn der Himmel nicht von Wolken verhangen war, nebeneinander an Deck und erlebten die Überfahrt als eine Reise in eine scheinbar verkehrte Welt.

Mit jedem Breitengrad, den ein Segler südwärts fahrend erreicht, stehen die bekannten Sternbilder tiefer über dem Horizont, selbst der Polarstern scheint aus seiner Verankerung am Himmelsgewölbe zu fallen. Bruder Johannes hatte die Kugelgestalt der Erde nie in Frage gestellt, auf der "Nossa Senhora de Jesus" konnte er sie wahrnehmen. Wer sich auf ein Schiff begibt, mit Kepler hatte er darüber gesprochen, erfährt manches Geheimnis der Natur und all ihre Wunder. In Äquatornähe beginnt mittags die Sonne zu tanzen, mal steht sie im Norden, mal im Süden, abhängig von der jeweiligen Jahreszeit, jenseits des Äquators kulminiert sie im Norden. Nachts sind die gewohnten Sternbilder verschwunden, und bislang ungesehene steigen den Himmel hinauf. Wie alle Seeleute auf der südlichen Erdhalbkugel richtete auch Schreck seinen Quadranten zum "Kreuz des Südens" aus, um den südlichen Breitengrad zu ermitteln, dabei verwies ihn das Fünffache der Kreuzachse auf den südlichen Himmelspol.

Mit guten Winden war die Flottille in südwestliche Richtung auf Madeira zu und weiter in Richtung Kapverden gesegelt. Anfang Mai verließen die Begleitschiffe die Ostindienfahrer, die vor einem stabilen Nordostpassat in schneller Fahrt südwärts kamen, tagelang ohne besondere Vorkommnisse. Es wurde heißer, doch was macht das schon, solange die Segel Wind einfangen und auf Deck eine leichte Brise weht. Manche wünschten, dass der Kurs dichter an Afrikas Westküste verliefe, um am Horizont wieder Land zu sehen. Käme der Segler aber der afrikanischen Küste näher, würde er vom starken Guineastrom erfasst und in den Golf von Guinea getrieben. Sicherheitshalber segelten die Kapitäne daher einen steten Südwestkurs, folgten darin ihrem großen Vorbild Vasco da Gama, der als erster Portugiese 1497 Afrikas Südspitze umrundete und dabei einen gewaltigen Umweg nehmen musste, westwärts über den Atlantik. Leicht war es nicht, es Vasco da Gama gleichzutun; verpasste ein Schiff um wenige Nuancen den vorgegebenen Kurs, würde es von einer nordäquatorialen Strömung erfasst werden, die es erst in der Karibik wieder freigeben würde. Dann bliebe nur noch die Rückkehr nach Lissabon und ein erneuter Versuch im folgenden Jahr. Es war eine Fahrt durch das Nadelöhr, im Osten lauerte der Guinea-, im Westen der Karibikstrom. War die Linie durch das Wind- und Strömungsnadelöhr glücklich gefunden, brauchte es weiteres Glück, um den Kalmengürtel zu durchqueren, ein Gebiet der Windstille, des Nebels und drückender Hitze. Spätestens hier fiel jeder Flottenverband auseinander, das gefürchtete riesige Tiefdruckgebiet wollte jeder Kapitän möglichst schnell durchqueren, und die Verantwortung für das eigene Schiff war wichtiger als der Zusammenhalt der Flotte.

Dann steckte auch die "Senhora de Jesus" im Nebel, hing die Takelage kraftlos an den Rahen, und das Trinkwasser in den Fässern erwärmte sich. Der Segler war im Kalmengürtel gefangen. Wenn einen kurzen Augenblick die Dunstbänke sich lichteten, blickten die Seefahrer auf eine bleiern liegende, glänzende See. Die Jesuiten hatten alle Hände voll zu tun, am Schiffsaltar Messen zu zelebrieren und Beichten abzunehmen. In den ersten Tagen waren über den ausschleiernden Nebelschwaden die Maste der anderen Schiffe noch zu sehen gewesen, jetzt waren sie verschwunden, und Trostlosigkeit nistete über und unter Deck. Häufiger wurden die Jesuiten gerufen, jenen beizustehen, die über Übelkeit, Erbrechen und Fieber klagten. Mit einer Kanne Essigwasser, das mehr faulig als erfrischend war, trat auch Schreck einen aussichtslosen Kampf gegen eine Seuche an, von der niemand sagen konnte, um welche es sich handelte. Hätte er sie diagnostizieren können, wäre damit nichts geändert. Aderlass und die Verabreichung eines Purgiersirups, eines Abführmittels, blieben erfolglos, Antimoniumpulver dagegen schien eine therapeutische Wirkung zu versprechen. Einige Patienten zeigen Symptome des Skorbuts, andere eines Typhus. Die ersten Menschen starben, und die Zahl der Toten nahm von Tag zu Tag zu. Das Sterben machte keinen Unterschied an Bord, ein Schiffsjunge wurde ebenso dem Meer übergeben wie der 2. Offizier der "Senhora de Jesus", auch der Kapitän lag auf Leben und Tod in seiner Koje. 45 Menschen starben, unter ihnen fünf Chinamissionare, auch Pater Alberich, Trigaults Vetter. Einmal fiel Feuchtigkeit aus dem Nebel und brachte doch keine Abkühlung, machte die Luft nur zusätzlich schwüler und bot dem Ungeziefer an Bord die Chance zum schnelleren Wachstum, die es im Schiffszwieback und im Pökelfleisch auch nutzte. Nach dem kleinen Regenguss senkte sich Apathie über die Szenerie.

Teil 3

Informationen zum Buch und zum Autor hier