Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biografie. Teil 3

13.08.2007.
2. Wer will unter die Soldaten


Von Anfang Juni 1792 bis Anfang April 1799 war Heinrich von Kleist aktiver Soldat der königlich-preußischen Armee. Das waren sechs Jahre und zehn Monate zwischen vierzehn und einundzwanzig, in einem Lebensalter, in dem sich die körperliche, intellektuelle wie emotionale Entwicklung eines Knaben zum jungen Mann zu vollziehen pflegt, prägende Jahre auf dem Wege zu Selbstbewußtsein und Urteilsfähigkeit also. Die ersten drei davon waren hauptsächlich Kriegsjahre mit Märschen und Gefechten quer durch den Westen Deutschlands, der Rest war Garnisonsdienst in Potsdam. Krieg und Kaserne legen nahe, daß hier einem jungen Menschen in einer kritischen Zeit seines Lebens Ge­walt angetan wurde, worunter denn seine Persönlichkeits­entfaltung leiden muß­te, ganz abgesehen von wachsendem Haß auf die Institutionen, die ihm seine Freiheit und Eigenart beschnitten. In solch pauschaler Vermutung vermengt sich indes Richtiges mit Unhistorischem, Mißverstandenem. Die Vorstellungen, die das 20. Jahrhundert mit seinen totalen Weltkriegen und ideologisierten Guerilla-Kämpfen überall in der Welt von Kindersoldaten gewonnen hat, entsprechen nicht den Realitäten des 18. Jahrhunderts. Welche Empfindungen Kleists Mutter und seine Schwestern bewegten, als sich der Knabe zum erstenmal mit der neuen Uniform auf die Reise von Frankfurt nach Potsdam machte, wissen wir nicht, aber ein paar Tränen dürfen wir uns vorstellen. Nur war es für alle ein selbstverständlicher Schritt, und besonders ehrenvoll war es, dem Garde­regiment in der unmittelbaren Nähe des Königs anzugehören. Daß die Söhne des Majors von Kleist, der seinerseits wieder Offiziere als Vorfahren hatte, dereinst zum Militär gehen würden, stand im übrigen so fraglos fest wie das preußische Exerzierreglement. Für adlige Söhne war die Armee der größte Arbeitgeber, soweit sie einen brauchten. Aber sie traten dieser Armee eben auch als Adlige bei, von vornherein privilegiert durch ihre Herkunft, denn die Kluft zwischen Sol­daten und Offizieren war groß und prinzipiell, war doch das Heer eine Berufsarmee und seine Mannschaft zusammen­ge­würfelt aus Einheimischen und "Ausländern" von überall her aus den kleinen und grö­ßeren deutschen Ländern. Patriotisches Engagement, wie es die re­­volutionäre Armee der Franzosen entwickelte und die preußischen Re­­former später für ein "Volksheer" auch auf deutsche Verhältnisse zu übertragen suchten, ging den Soldaten ab. Strenge Disziplinierung hatte zu ersetzen, was an solchem Engagement fehlte.

Die Armee der preußischen Soldaten-Könige des 18. Jahrhunderts hat sich nun allerdings den Ruf erworben, militärischen Drill ins Schikanöse gewendet und ihn mit be­sonderer, ja sadistischer Lust durchgesetzt zu haben. Die brutale Strafe des Spieß­ruten­laufens ist sinnbildlich dafür geworden; in übertragenen Bedeutungen ist das Wort sogar in die deutsche Umgangssprache eingegangen. Noch zu Zeiten Kleists war die preußische Armee, wie gesagt, Berufs- und Söldner­armee, das heißt ein beträchtlicher Teil der Soldaten - nicht der ­Offiziere natürlich - rekrutierte sich aus "Ausländern", also Angeworbenen aus anderen deutschen Staaten. Daher war Desertion ein ­besonders schweres Vergehen, schloß sie doch zugleich den Verlust des gezahlten Werbegeldes ein, was nicht die Staatskasse, sondern gewöhnlich der Kompaniechef zu tragen hatte; das grausame und zum Teil tödliche "Gassenlaufen" als Strafe dafür galt ganz sinnfällig dem Davonlaufen. Drill aber einschließlich der Härte und des Stumpfsinns im militärischen Alltag sowie die Leuteschinderei und der Machtmißbrauch durch Vorgesetzte sind in allen Armeen der Welt zu Hau­se, und Unterschiede hinsichtlich menschenfreundlicherer Behandlung bestehen oft nur in schmalen Nuancen, wenn überhaupt. Aber alle Disziplin und Unterordnung, wie notwendig oder zumindest erklärbar sie auch sein mögen, werden um so lästiger fallen, je geistig unab­hängiger die davon Betroffenen sind. Das aber war nun wirklich der Fall bei Heinrich von Kleist. Das Dilemma, in das er bald mit seiner sich erst entfaltenden eigenständigen Persönlichkeit geriet, wenn er der Fami­lien­tradition treu die Offi­ziers­laufbahn einschlug, ist im Rückblick leicht abzusehen. Keine Armee der Welt hätte ihn davor bewahrt, und das moderne liberale Reservat der Wehr­dienst­ver­weigerung stand damals nicht zur Verfügung, noch hätte es außerdem von vornherein in Kleists Absicht gelegen und zu seinen Optionen gezählt. Bis zur endlichen Befreiung von äußerem Zwang war es ein langer Weg, der ihn zuerst durch die gefährlichste Form des Soldatseins hindurch führte, den Krieg. In dessen Ent­fes­selung von Rauheit, Roheit, Gewalt, Gier, Leiden, Angst und Tod, aber auch durch die intensive Erfahrung mancher Kameradschaft und Hilfsbereitschaft in der Not erfolgte Heinrich von Kleists Initia­tion in das Offiziersdasein als Erwachsenenleben.

Formell begonnen hatte dieser Krieg im April 1792 mit der französischen Kriegs­erklärung an Preußen und Österreich, die sich zu einer Koalition zur Ver­tei­digung der Legitimität und zur Eindämmung des Geistes der Revolution zusammen­geschlossen hat­ten. Eine gewaltige Kriegsmacht von dreiviertel Millionen Soldaten wurde gen Westen in Marsch gesetzt und mußte dann doch der besser geführten und stärker motivierten kleineren Armee der Franzosen nachgeben. Georg Forster und einige Gefährten, dar­unter Georg Wedekind, der elf Jahre später Heinrich von Kleist seine ärztliche Fürsorge zuteil werden ließ, riefen im März 1793 in Mainz einen rhei­nischen Freistaat aus. Mainz aber wurde nach langer Belagerung und Bom­bardement im Juli von den Alliierten zurückerobert. Der Gefreite-Korporal von Kleist war dabei.

Kleists Militärzeit ist spärlich dokumentiert. Aus allen den Jahren von der Einberufung bis zu seiner Unterschrift unter den Revers, mit dem er seinen Abschied aus des Königs "Kriegs­diensten"(17) am 17. April 1799 bestätigte, sind nur drei Briefe von ihm überliefert, obwohl Kleist nicht schreibträge war - von Ludwig Achim von Arnim, Kleist vergleichbar nach Stand und Generation, exi­stieren aus den ersten zwanzig Jahren seines Lebens nicht weniger als 189 Briefe. Am 3. Februar 1793 war Kleists Mutter gestorben; bald darauf mußte der junge Soldat, der seit Dezember auf Heimaturlaub aus Potsdam war, seinem Regiment nachreisen, das schon unterwegs an die Front im Westen war. In Frank­­furt hatte die ältere, verwitwete Schwes­ter der Mutter, Auguste Helene von Massow, die Sorge für den Haushalt übernommen. An sie, die "Tante Massow", ist denn auch der erste Brief des jungen Soldaten von seiner Fahrt in den Krieg gerichtet:

     "Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen? Soll ich Ihnen den Anblick schöner Gegenden, oder den Anblik schöner Städte, den Anblick präch­tiger Paläste oder geschmackvoller Gärten, fürchter­licher Kanonen oder zahl­reicher Truppen zuerst beschreiben. Ich würde das Eine vergeßen u das Andere hinschreiben, wenn ich Ihnen nicht von Anfang an alles erzählen wollte."(18)

Welch ein Anfang! Ein Vierzehnjähriger schreibt das und ist doch schon perfekt als der Erzähler, als den er sich selbst ausdrücklich bezeichnet, ist es mit der Kraft der Anschauung, dem Rhythmus seiner Sprache und der Öko­no­mie ihrer Mittel, von der Lust an solchem Erzählen ganz abgesehen. Gegenstand ist die Reise von der Oder an den Main und Ort das andere Frankfurt, von wo aus Preußens König Friedrich Wilhelm II. die alliierte Streitmacht kommandierte und sich, wie es seine Art war, nebenbei in die schöne Frankfurter Patrizierstochter Sophie von Bethmann verliebte, allerdings erfolglos in diesem Falle.(19) Über Leipzig, Lützen, Weißenfels, Naumburg, Auerstedt, Gotha, Eisenach, Fulda und Hanau war Kleist, begleitet vom Kaufmann Romerio aus dem heimatlichen Frankfurt, unterwegs an den Main, neugierig und für viele Eindrücke offen. Die Pleißenburg in Leipzig wird besichtigt - seinen Kohlhaas wird er dereinst die Häuser um sie herum in Brand setzen lassen. In Lützen wird Gustav Adolphs gedacht, in Roßbach ehrfurchtsvoll der Stuhl betrachtet, von dem "König Friedrich"(20) nach der für ihn siegreichen Schlacht dort aufgestanden war. In Gotha wird der General­superintendent Josias Friedrich Christian Löffler besucht, einstmals Lehrer an der Viadrina und aufgeklärter, undogmatischer Theologe, der sich des Kleistschen Hauses "mit vielem Vergnügen" erinnerte. Ein Räuber wird mit der blanken Klinge vertrieben, die Wartburg wird erstiegen, und das Staunen über die schöne Landschaft hält an, "denn je näher ich nach Franckfurth kam je schöner je romantischer wurde die Ge­gend." Abwechslungsreiche, vielgestaltige Natur war mit diesem Romantischen ge­meint; ein neuer, ästhetische Konzepte betreffender Sinn des Wortes insbesondere für die Literatur war erst im Entstehen begriffen. "Ich habe nie geglaubt daß es in der Natur so schöne Landschaften geben kön­ne", wird der Tante in der flachen, kargen Odergegend mitgeteilt aus der ganzen Herzensfülle jugendlicher Be­gei­ste­rung. Aber ein Sonnenaufgang bringt den jungen Reisenden dann auch wieder zu sich selbst: "Sonderbar ist es was solch ein Anblick bei mir für Wirkungen zeigt. Tausend andere heitert er auf; ich dachte an meine Mutter u an Ihre Wohlthaten. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen." Und dann war Krieg.

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(17) DKV, Bd. 4, S. 35.
(18) DKV, Bd. 4, S. 9.
(19) Friedrich Wilhelm II., S. 26.
(20) Diese und die folgenden zitierten Stellen DKV, Bd. 4, S. 9-16.

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Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages
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