Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Elke Schmitter: Veras Tochter. Teil 3

13.03.2006.
Ich wollte sofort zu Birgit fahren.Um diese Zeit saß sie gewöhnlich noch in ihrer Kanzlei, aber die Nikes längst auf dem Schreibtisch, und blätterte in einem alten Comicheft. Sie hatte, als die Flaute endgültig wurde, ihre Vorzimmerdame nicht mehr ersetzt. Frau Reimann, noch von ihrer Vorgängerin übernommen, ging vor zwei Jahren in den Ruhestand "nicht gern, wirklich nicht, aber mein Mann will endlich mit mir nach Mallorca, auf unsere kleine Finca, ich bliebe ja lieber hier, aber der Garten, wissen Sie ..." -, und obwohl Birgit selbst überzeugt war,daß ein Rechtsanwaltsbüro so ganz ohne Sekretärin, Assistentin, sprechenden Blumentopf imVorzimmer eine armselige,peinliche Sache war, siegte die finanzielle Erleichterung. "Ich kann ganz gut von Spaghetti mit Salbei leben, mir von dir meinen AB besprechen lassen, damit s eine andere Stimme ist, und tagelang Romane lesen. Aber ich kann dabei keine Frau Reimann brauchen, der ich ein Gehalt zahlen und für die ich Arbeit erfinden muß. Außerdem ist das kein tragischer Einzelfall. Die Romane von Dashiell Hammett fangen eigentlich alle so an." Ich wollte ihr zu bedenken geben, daß sie kein Detektiv in San Francisco war, sondern eine Anwältin in Köln-Süd, noch am Beginn ihrer Karriere, und daß sie sich andere Klienten wünschte als Blondinen in den Fängen des organisierten Verbrechens, die sie mit dem Revolver heraushauen mußte. Doch was verstand ich schon von Karriere?

Ich fuhr nicht sofort zu Birgit. Ich hatte die Augen geschlossen, noch auf diesem schwarzen Stuhl, und in mich hineingehorcht: Ich war überzeugt, etwas Entsetzliches endlich begriffen zu haben; der Schatten, den ich seit jeher hinter mir spürte, hatte nun eine Kontur. Doch ich wußte auch - nach so vielen Jahren Therapie weiß man immerhin etwas -, wie ungeduldig ich war und daß ich im Streß zu überstürzten Handlungen neige. Noch war mir ja gar nicht klar, was es zu erzählen gab; ich hatte nur eine starke Intuition, die man noch nicht mal einen Verdacht nennen konnte.Vielleicht sollte ich mir Gewißheit verschaffen.Wenigstens über mich selbst.

Die nächste Buchhandlung war um die Ecke. Nicht mehr 1-A-Lage,wie die Immobilienhändler sagen, doch immerhin 1-B. Der Laden schien auf Sprachen spezialisiert; die Uni war ganz in der Nähe.Um mich herum das Langenscheidt-Gelb, das mich durchs Studium begleitet hatte, das Signalrot der Grammatika und diese bescheuerten Plakate mit heiter parlierenden Menschen darauf, blitzsauber und ausdruckslos, vor dem Big Ben, vor Notre Dame und auf dem Petersplatz. Ich sagte der älteren Frau, die auf mich zukam, genau,was ich wollte, und überraschenderweise hatte sie es da; ich zahlte,ohne das Buch auch nur anzugucken, ließ mir eine kleine Tüte geben (ich sehe das Muster noch vor mir, es war eine alte Schrift, die gar nicht zu dem Plastik paßte, auf das sie gedruckt war, und meine Hände schwitzten sofort) und ging zum Auto zurück. Ich erinnere mich noch genau, wie ich den Wagen aufschloß (den Schlüssel zuvor angehaucht,weil das Schloß so schnell vereiste), mich zwang, die dicke Jacke in Ruhe zu öffnen (fünf Knöpfe und ein Reißverschluß) und die Filzmütze abzunehmen, wie ich die Tüte neben mich legte und mich in einem Selbstgespräch in die Verlangsamung kommandierte: "Du wirst jetzt die Handbremse lösen, den linken Blinker setzen und dabei in den Rückspiegel schauen, du wirst den Rückwärtsgang einlegen und dann, ganz mit Bedacht, einen halben Meter zurückfahren; möglicherweise ist es glatt, deshalb mußt du sehr vorsichtig sein ..." An kritischen Punkten hilft mir das; ich befehle meine Erkaltung und führe mich wie ein Autopilot; es geht vor allem darum, jetzt keinen Fehler zu machen, mich durch die Spannung zu leiten wie durch einen schmalen Tunnel, in dem nur ein Vorwärts möglich ist und der Sauerstoff knapp. Denn hätte ich überlegt, einmal nur das herangelassen, was bei Sascha oder Sven mir so grausam deutlich vor Augen stand: ich wäre im Auto sitzengeblieben und hätte gelesen bis zum Erfrieren. Ich brach allerdings mein Gelübde, indem ich den Anfang überflog, noch während der Blinker tickte, nur den ersten Absatz des Buches, und dann riß ich mich selber los:

Die Straße war frei. Es nieselte, wie oft bei uns in der Gegend, und die Dämmerung ging in Schwärze über - man kann also nicht sagen, daß die Sicht besonders gut war.Vielleicht habe ich ihn deshalb erst sehr spät gesehen, wahrscheinlich aber doch, weil ich in Gedanken war. Ich bin oft in Gedanken. Nicht, daß etwas dabei herauskäme.

"Wir müssen da etwas machen", sagte Birgit sofort.
     Ich saß auf ihrem ausgeleierten Sofa und sie mir gegenüber im Sessel, die Füße angezogen, aber die Hände ausgestreckt: entspannt und sprungbereit.Während ich ein immer noch trockenesTaschentuch inmeiner Rechten zusammendrückte; benommen, aber bei weitem nicht so lädiert, wie ich befürchtet hatte. Kathartisch bin ich eine Niete.Wenn andere sich in ihren Schmerz kuscheln wie in ein mit Samt bezogenes Kissen, bleibe ich steif wie ein Stock, und wenn andere brüllen und weinen, etwas an die Wand knallen, sich aufs Bett werfen und wimmern, merkt man mir kaum etwas an; ich werde nur immer blasser und bewege mich schließlich gar nicht mehr.
     Wir müssen da etwas machen. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Für mich war es eine Tragödie, die ich erzählen mußte,weil ich sie noch nicht begriffen hatte; ein düster schimmerndes Rätsel, das mein eigenes Leben war.

Sie wußte fast alles von mir.
     Was ich noch nicht erzählt hatte, war nicht einmal ein Geheimnis. Es gehörte nur zu den Dingen,die ich nichtausbreiten wollte - ich war noch nicht fertig damit, ich hatte noch keine Meinung, ich wollte es nicht genau wissen. Meine Eltern interessierten mich nur insoweit, als sie für mein Unglück verantwortlich waren.Was damals in Paris gewesen war, warum ich später nach Hagelsdorf kam,das war mir gleichgültig gewesen. Ich kam nie auf den Gedanken, daß ich verschwinden mußte, weil Robert verschwunden war.
     Ich hatte natürlich wahrgenommen, daß sie mich von zu Hause fernhalten wollten.
     Obwohl sie sich etwas einfallen ließen.Die ersten Male kam Oma mit.Wir machten Tagesausflüge in Veras Auto, sie hatten Freßpakete in der großen Cola-Kühltasche, und wenigstens Papa und Hermine schien es Spaß zu machen, die Umgebung des Internats zu erkunden. Papa hatte Prospekte dabei, die er pedantisch studierte. "Hier gibt es ein Wasserschloß mit einem Heimatmuseum, die Küche ist noch so eingerichtet wie im 17. Jahrhundert, außerdem ist der Turm zu besichtigen und ein Sortiment klassischer Folterinstrumente." Man konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er in der Karte suchte, während er sprach, aber man konnte auch so ziemlich sicher sein, daß er sich nichts dabei dachte. Während Vera damals aussah, als hätte man die Folterinstrumente aller Zeiten an ihr ausprobiert so zerdrückt wirkte sie, so eingefroren, abgehärmt, verglüht und ausgehungert trotz Übergewicht, so nervös und zugleich apathisch. Ihre Hände fingen oft leicht zu zittern an, wenn sie nichts halten konnten,kein Lenkrad,keine Zigarette, kein Glas; damals dachte ich, es wäre das Trinken, aber heute bin ich nicht mehr so sicher.Wir besuchten mindestens zwei Burgen, aßen Blechkuchen auf Ausflugsterrassen und gingen einmal in einer Altstadt spazieren, in der ich mir eine Hose aussuchen durfte. (Sie hatte einen unmäßigen Schlag, mit gestickten Blümchen verziert, und war überlang geschnitten, so daß ich sofort den Saum runtertrat. Ich kann mich noch an Veras indignierten Blick erinnern ohne Kraft, aber noch immer urteilend, in der gewohnten schnellen Entschiedenheit, von der ich damals dachte, ich würde sie immer fürchten. Und ich habe noch Hermines mitleidiges Angebot im Ohr, die Jeans noch am Abend für mich zu kürzen sie konnte nun wirklich nicht ahnen, daß runtergetretene Schlaghosen damals der letzte Schrei waren.)

Ich wußte zwar nicht warum, aber ich spürte doch genau, daß Vera wegen der Hose kein Theater machen würde. Ich hatte etwas gut bei den beiden, doch ich wußte nicht, was und warum. Daß ich mich von Vera ungerecht behandelt fühlte, war eigentlich ja nichts Neues; neu war allerdings die entschiedene Einigkeit, mit der sie mich ins Internat schickten, mit der sie gemeinsame Sache machten mir gegenüber obwohl sie sonst fast nichts mehr miteinander zu tun zu haben schienen. Veras gereiztes Gesicht war erloschen, ersetzt durch eine duldende Miene ganz ohne Ostentation (während sie früher die Augenbrauen hochgezogen hatte, die Mundwinkel verzogen, sich auf eine ganz bestimmte Art die Nase puderte, die sagte: Was habe ich mit diesem Kerl zu tun?).Und mein Vater - nie ein großer Kämpfer - hatte seinen manchmal gequälten, beleidigten Ausdruck, seine seltenen, harten Bemerkungen ("Es ist ganz leicht, mit dem Trinken aufzuhören. Meine Frau macht das jeden Tag.") aufgegeben zugunsten einer neutralen und immer gleichen Gestimmtheit, verläßlich wie das "3-Wetter-Taft", das auf der Frisierkommode meiner Mutter stand. Für einen Waffenstillstand schien mir die Sache merkwürdig stabil; es gab auch kein Belauern und kein Mißtrauen, überhaupt gar keine Bewegung mehr, die ich wahrnehmen konnte. Vielleicht hatten sich beide niedergekämpft, nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst, vielleicht war es ein Zustand der absoluten Verheerung, wie nach dem Dreißigjährigen Krieg (Thema meiner großen Klassenarbeit in der Obertertia), unterWahrung des Protokolls, Hermine zuliebe. Aber es fing wirklich an,mir egal zu sein. Ich hatte andere Sorgen. Ich war mit etwas beschäftigt,wovon sie keine Ahnung hatten - zumindest war ich davon überzeugt. Vor noch nicht so langer Zeit hätte ich mich von meinem Vater entsetzlich verlassen gefühlt, nachts heimlich geweint, nach meinen Vergehen und Fehlern gesucht und nach Details in Veras Intrigen, ich hätte gelitten, getrotzt und gekämpft. Jetzt interessierte es mich nicht mehr sehr. Schon ein paarWochen im Internat hatten gereicht, um endgültig zu begreifen:was man mit Familie meinte,war sowieso ein verbeulter Hut. Ich konnte froh sein, daß ich all dem entkommen war.

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages

Informationen zum Buch und zur Autorin hier