Vorgeblättert

Leseprobe zu: Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr. Teil 1

27.08.2012.
Eine glückliche Fügung

Das Alter kam am 23. Mai 2010 gegen 11 Uhr. Ich hatte es mir gerade in einem der Rattan-Imitate vor dem kleinen Café am Fuß der Sternwarte bequem gemacht, unterhalb dieser Einrichtung zum Zoomen der Sterne, wo sie dann von den Kindern bestaunt werden, wenn sie einen Schulausflug in die Hauptstadt machen. Ein klarer Morgen, ein später Frühling, der Duft von Kastanienlaub und Kaffee, der nur hier mit einem kleinen Bajadere-Konfekt serviert wird. Die Vorboten des Sommers werden von Tag zu Tag offenkundiger. Die Füße schlafen seltener ein, der Druck in den Nebenhöhlen ist weg, und auch die Verdauung funktioniert besser. Noch vor wenigen Jahren kam die wärmste Jahreszeit mit offenen Automobilen daher, mit dem Brummen der Motorroller, mit kurzen Röcken, mit Farbe und Bewegung, mit dem, was man nicht mehr haben, aber noch anschauen kann und was von außen nach innen geht, in den Menschen hinein. Heute kommt sie mit dem, was aus ihm herauskommt. Ein großer kompakter Pfropf aus der Nase etwa, der, wenn er nach heldenhaftem Kampf schließlich im Taschentuch gelandet ist, Erleichterung im Bereich der linken Nebenhöhle verschafft. Oder jene zwei, drei Morgenwinde, einem linden Maestral gleich, die einen leise, aber stetig von der Blähung befreien. Und alles wäre auch in Ordnung geblieben, die Sternwarte, die Kastanien und die Wärme, selbst das koffeinfreie Wässerchen, das ich morgens wegen meines hohen Blutdrucks schlürfe, wobei ich Duftspuren von echtem Minas-Kaffee in der Luft nachschnuppere, wäre nicht plötzlich im Winkel meines Gesichtsfeldes, wie Schlafsand im Auge, eine elegante Dame mit hellem Haar und einer etwas aus der Mode gekommenen, aber noch immer schönen Jacke aus schwarzem Boxcalf aufgetaucht. Sie kam aus der Ballettschule und ging die Radi?eva hinunter. Auch jetzt war sie noch nichts Besonderes, eine Person eben, ein Jemand auf einem Schnappschuss, der einen Moment zuvor von zwei Weitwinkelobjektiven geschossen worden war. Erst jetzt begann sich das Bild scharf zu stellen. In den Augen und im Bewusstsein. Das helle Haar, die Bob-Frisur, wie sie französische Tänzerinnen tragen, der spezifische Gang der Ballerina und das bekannte Kleidungsstück. Aber gerade als ich genauer hinsehen wollte, fingerte sie aus der Tasche eine große Sonnenbrille hervor und setzte sie sich auf, sodass ich ihre Augen nicht sehen konnte. Was heißt Augen, das halbe Gesicht war verdeckt. War das tatsächlich sie? War sie nicht größer gewesen? Und schon hatte ich das Tischchen mit der Marmorplatte zurückgeschoben und kam irgendwie auf die Beine, Tässchen und Untertasse klirrten, und ich lief den kleinen Weg hinunter, der zu den Stufen an der Radi?eva führt. Sie hatte nur einen kleinen Vorsprung, hatte aber ein strammes Tempo drauf und entfernte sich ziemlich rasch. Ich sah ihren Rücken in der schwarzen Jacke und die über die Schulter geworfene Tasche. Und die Haare, die im Gehen wippten. Leger, aber in Form, als wären sie Mitglieder eines gut eingespielten Tanzensembles. So ist das Haar in der Werbung für Taft oder L'Oréal. Ich stapfte hinter ihr her, die Radi?eva hinunter, obwohl es mir dumm vorgekommen wäre, einfach hinzugehen und zu fragen:
     - Sind Sie Senka? Ist das die Jacke, die ich vor dreißig Jahren, erfüllt von Liebe, auf Korfu erstanden habe?
     Immer unentschlossener ging ich ihr nach. Eigentlich hatte ich diese kleine Verfolgung aufgenommen, weil ich für einen Moment vergessen hatte, was alles geschehen war. Hätte ich etwas überlegt, hätte ich mich aus meinem bequemen Rattansessel nicht fortbewegt, zumal die Gründe, warum man eventuell ein wenig hätte plaudern können, schon drei Jahrzehnte zurücklagen. Ich folgte ihr trotzdem bis zur Kamenita Vrata, von wo die Straße steil zum Hauptplatz hinunterführt, als mir zwei Dinge siedend heiß einfielen: dass ich meinen Kaffee nicht bezahlt hatte und dass ich, wenn ich hinunterginge, diesen Berg wieder würde hinaufkeuchen müssen. Und so machte ich beim bronzenen Drachentöter Georg halt und sah ihr nach, wie sie unaufhörlich kleiner wurde, wie sie immer wieder vor den Schaufenstern stehen blieb, als wollte sie das Unvermeidliche hinauszögern, und wie sie dann weiter schrumpfte. Ich stand dort, bis die Menschenmenge am Ende der Straße sie verschluckt hatte, und machte mich dann mit müden Schritten auf den Rückweg. Das war die erste Niederlage an diesem Morgen.
     Der Kellner erwartete mich auf der Straße und durchbohrte mich mit frechem Blick. Er sagte nichts, er sah mich nur an und kehrte auf die Terrasse zurück. Offensichtlich hatte er geglaubt, ich wollte mich aus dem Staub machen, ohne dieses Spülwasser von koffeinfreiem Nescafé zu bezahlen. Sehe ich etwa so aus? Wie ein Zechpreller? Ruhig sah ich über die Beleidigung hinweg und machte es mir wieder in meinem falschen Rattansessel bequem. Die Leute auf der Terrasse, ein älteres Ehepaar und zwei jüngere Mädchen, vermutlich aus der Ballettschule, schauten interessiert zu mir herüber. Offenbar hatte der Gastronomiebedienstete einen erheblichen Aufruhr veranstaltet, als er mich der Frau nachrennen sah, die so große Ähnlichkeit mit Senka hatte. Ich griff nach dem Ve?ernji vom Nachbartisch, trank einen Schluck Kaffee, schlug die Seite mit den Todesanzeigen auf und räkelte mich in der Sonne, die durch die Kronen der alten Kastanien drang und bald auch den Turm der Sternwarte überragen würde.
     Mit einem Mal bemerkte ich, dass mich der Kellner herausfordernd ansah. Ich hatte die koffeinfreie Mixtur schon ausgetrunken und saß jetzt einfach da und las in der Kaffeehauszeitung. Ich belegte einen Platz mit Beschlag. Und obwohl es freie Tische gab, hasste mich der Kellner jetzt vermutlich doppelt. Einmal, weil er mich für einen verhinderten Zechpreller hielt, und dann auch prinzipiell, nach dem Kodex seines Standes, weil ich vor einer leeren Tasse saß. Während er zwischen den Tischen hindurchging und andere Bestellungen aufnahm, wanderte sein Blick immer wieder zu meinem Tisch. Zuerst sah er mir ins Gesicht, dreist, dann auf die Zeitung, als könnte er ihr ansehen, ob sie dem Café gehörte oder mir privat, und schließlich fiel der Blick anklagend auf die leere Tasse. Allerdings räumte er sie noch nicht ab. Das wäre vermutlich zu unhöflich gewesen, aber bald würde er es tun. Es war ja klar, dass ich als frisch gebackener Rentner zu Hause störte, wenn die Frau Staub saugte, wenn der Enkel die Kolonne seiner Matchboxautos durch alle Zimmer hindurch auffahren ließ, für die noch immer die Raten bezahlt werden mussten, wenn die Tochter mit den Händen auf den Ohren für die noch verbliebenen Prüfungen lernte, aber dass ich auch hier in dem Café störte, das war für mich an diesem sonnigen Morgen, an dem ich an Senka dachte, etwas völlig Neues. Der Kellner, dieser Kerl, nahm jedenfalls gerade angewidert die Bestellung des älteren Ehepaares auf. Es war keine Diskriminierung des Alters, so benahm er sich auch bei Jüngeren. Die beiden Gymnasiastinnen hatten ihre Portion Frechheit bereits abgekriegt. Er hielt sich für besser als alle, denen er den Kaffee brachte.
     Und da war er schon, er kam und räumte unter dem lauten Scheppern des Porzellans Tasse und Untertasse ab, fuhr ein paar Mal mit dem Tuch über den Tisch, als hätte ich etwas vergossen, was ich aber nicht hatte, und sagte:
     - Zwölf Kuna!
     Dabei musterte er provokativ den Tisch, um zu sehen, ob ich nicht irgendwie doch die glatte Oberfläche aus rötlichem Marmor besudelt hatte, dann ließ er seinen Blick über der Terrasse kreisen, wie eine jener Kameras im Supermarkt, die verfolgen, wenn einer klaut, und suchen, wen man beklauen könnte, wenn er ehrlich bezahlt, was er in den Einkaufswagen gepackt hat. Deutlich gab er den Gästen zu verstehen, dass sie verdächtig waren, aber mich sah er nicht einmal an, als ich fünfzehn Kuna aus der Geldbörse fischte und ihm in die Hand legte. Und erst als er mein Geld eingesteckt hatte, wurde mir klar, dass er nicht kontrollierte, wer flüchten könnte, er wusste genau, wo wer saß, sondern dass er den Augenkontakt vermied, um mir nicht die drei Kuna herausgeben zu müssen. So konnte er immer sagen, er sei in Gedanken abgeschweift, aber meine drei Rentnerkuna, Wechselgeld für ein halbes Brot, hatte er bei seinem Schweifen vergessen. Er hatte sie als Entschädigung für ausgestandene Angst einbehalten. Er murmelte etwas wie danke und kehrte mir seine Rückseite zu. Einen solchen Idioten hatte Senka doch nicht verdient an diesem sonnigen Morgen, der wohl zur Gänze ihr gehören würde. Teils wegen der weit zurückliegenden, vergessen geglaubten Gefühle, die, wer weiß, warum, heute Morgen erwacht waren, aber auch, weil niemand mehr da war, dem sie noch gelten konnten. Die zu Hause waren allzu sehr da, als dass man ihnen den Tag auch noch in seinen Gedanken gewidmet hätte. Es blieb also Senka und wie sie mit raschem Schritt die Straße hinuntermarschiert war. Der Körper gehorchte ihr offensichtlich noch. So wie sie aussah, reckte und streckte sie sich vermutlich dreimal die Woche in der Kraftkammer oder beim Pilates. Und so neutralisierten dieser Frühlingsmorgen, ihre wenigen eiligen Schritte und ihr jugendlich kurz geschnittenes Haar, das den Nacken freiließ, die Tatsache, dass sie geschrumpft war. Denn schrumpfen taten wir zweifellos alle, wir aus der 4c des damaligen XVI. Gymnasiums, die wir in dem einen Krieg geboren und zu einem Gutteil in einem anderen pensioniert worden waren, weil die Firmen für uns Versicherungszeiten nachgekauft hatten. Nur um uns loszuwerden.
     Die Mädchen waren schon längst zum Ballett gegangen, das ältere Ehepaar hatte vor ein paar Minuten der Bus verschluckt, der hier in regelmäßigen Abständen hielt, und ich saß noch immer an dem leeren Tisch. Jetzt hatte ich die Zeitung zusammengefaltet und auf den Tisch zurückgelegt und schaute nur noch umher. Die kleine Kapelle mitten auf dem Illyrischen Platz, das Mažurani?-Haus etwas weiter weg, und aus den offenen Fenstern der Ballettschule drang angenehme Musik. Ein Menuett. Eine Musik, zu der sich junge Körper gelenkig bogen. Senka war Ballettlehrerin gewesen, und vielleicht war das alles hier kein Zufall. Der Trottel stand am Eingang zum Café, das Aluminiumtablett nonchalant unter die Achsel geschoben, und trat mit dem Schuh das künstliche Gras vor der Tür nieder. Offensichtlich wartete er, dass ich mich trollte. Dass ich verschwand und sich hier statt meiner Rentnerfigur befreiende Luft ausbreitete. Ich wusste, dass er auch gern die Zeitung abgeräumt hätte, wenn ich sie nicht so vollgespeichelt hätte. Und während wir uns gegenseitig wie Revolverhelden beäugten, hatte es sich der Gastronomiewerker bequem gemacht. Mit dem Rücken lehnte er am Türrahmen, er entlastete sein Rückgrat so, als würde er in stehender Haltung liegen und diesen Frühlingsmorgen und die angenehme Wärme ebenso genießen wie ich. "Das könnte dir so passen", sagte ich zu mir und hob die Hand. Missmutig löste er sich vom Türrahmen und kam langsam näher, als bereitete er sich auf einen Schlag vor. Selbst das Tablett hielt er wie ein Racket.
     - Schenken Sie Champagner glasweise aus?, fragte ich, denn ich wusste, dass sie es nicht tun. In Zagreb gibt es kein Café, in dem Schaumwein glasweise ausgeschenkt würde.
     - Nein, sagte er verächtlich und wollte bereits weggehen.
Aber da, ich weiß nicht, was mit mir war, alles war eine Sache des Augenblicks, sagte ich:
     - Bitte zahlen!
     Jetzt sah er mich verdutzt an. Er wusste nicht, ob ich ihn verscheißern wollte oder ob ich tatsächlich vergessen hatte, dass ich schon bezahlt hatte. Zuerst geflüchtet, ja, aber dann bezahlt. Man sah es ihm an, er wälzte es in seinem Hirn hin und her, er hatte daran zu kauen. Vielleicht ein Finanzinspektor, vielleicht eine Falle in der Maske eines jüngeren Rentners. Er war am Wälzen, und es hatte tatsächlich den Anschein, als würde er ausrechnen, wie viel ein koffeinfreier Kaffee mit Milch kostet. Und dann stieß er eiskalt hervor:
     - Zwölf Kuna!
     Dieses Mal holte ich einen Zwanziger heraus und reichte ihm den. Er nahm das Geld und gab das Wechselgeld genau heraus. Noch einen Augenblick war die Verwunderung auf seinem Gesicht zu sehen, dann ging er, aber ein wenig unsicher, ins Innere des Cafés zurück. Er dachte vielleicht, dass ich, wenn er aus meinem Gesichtsfeld verschwände, mich nicht erinnern würde, dass ich ihm ein und denselben Kaffee zweimal bezahlt habe. Schon im nächsten Augenblick allerdings, eigentlich schon, als ich ihm noch den Geldschein mit dem Konterfei des Banus Jela?i? hinhielt, fühlte ich, dass ich mich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte. Ich wusste weder, weshalb es gefährlich war, noch wie sehr es das werden konnte, aber dieses Bauchgefühl hatte mich noch nie getäuscht. Und dass der Kellner sich jetzt nicht mehr blicken ließ, dass er sich meinem Blick entzogen hatte, auch das war ein Symptom, dass sich die Konstellationen in diesem Café und an diesem herrlichen Morgen irgendwie geändert hatten. Und fast bedauerte ich, dass er nicht noch immer an den Türrahmen gelehnt dastand und sich sonnte, als ein japanisches Paar mittleren Alters auf der Terrasse erschien. Sie nahmen unweit von meinem Tisch im Schatten Platz. Also musste der Kellner herauskommen und die Bestellung aufnehmen. Er ging an mir vorüber wie an einer krepierten Krähe und hatte den Blick, statt mich herausfordernd anzusehen, weil ich umsonst dasaß, abgekehrt. Jetzt habe ich zumindest das Sitzen bezahlt, dachte ich.
     Der Damm war gebrochen. Dieser Mensch würde mich bis zum Ende seiner Schicht für den einen Kaffee bezahlen lassen. Und sogar Überstunden machen, um weiterkassieren zu können. Als er mit der Coca-Cola für die Japaner zurückkam, wich er meinem Blick noch immer aus, allerdings schien mir, dass er mit jener leichten Verachtung an mir vorübergegangen war, wie sie manche Menschen denen gegenüber empfinden, die weniger glücklich sind als sie. Gegenüber Verrückten und Geisteskranken. Er war einer von denen, die mich verhöhnen würden, wenn ich wirklich krank wäre. Aber ich blieb sitzen. Ich würde noch einmal zahlen, oder zweimal. Einfach nur, um ihn in meinem tiefsten Inneren zu beleidigen, obwohl das Spiel jetzt wirklich gefährlich zu werden schien. Ich wollte das freche Gesicht sehen, wenn ich am Ende nonchalant, ganz nebenbei fragte:
     - Bitte schön, und warum kassieren Sie hier für ein und denselben Kaffee zweimal?
     Unglaublich, was für Leute es gibt. Sie sind imstande, ihren Arbeitsplatz für ein paar Kuna zu riskieren. Ich stierte in die Zeitung, als mein Handy klingelte.
     - Hallo?, fragte ich hoffnungsfroh, weil mich in letzter Zeit niemand ernsthaft anrief. Nur Tanja, damit ich ihr einen Kopf Salat vom Markt mitbringe, oder mein Enkel, damit ich ihm ein Matchboxauto kaufe. Zuerst hörte ich aus dem Telefon ein Krächzen und Räuspern, dann kam das erste verständliche Wort:
     - Tiho, du mich hören? Reinhard da?
     Ich musste ein wenig überlegen, ich verharrte in peinlichem Schweigen, doch dann setzte die Erinnerung ein. Reinhard, der Kollege aus Regensburg. Wir waren im Laufe der Jahre, in denen wir miteinander zu tun gehabt hatten, richtiggehend Freunde geworden und hatten eine Zeit lang mit den Familien gemeinsam Urlaub am Meer gemacht. Sie hatten einen Wohnwagen, einbetoniert auf einem Campingplatz auf Pag. Vor dem Wohnwagen hatten wir Meeräschen gegrillt und sie mit Rotem von der Insel begossen. Reinhard war nett. Er hatte gehört, dass ich seit Kurzem in Rente war, und interessierte sich, wie es mir ging. Ob mir schon das Gefühl der Nutzlosigkeit zu schaffen mache, ob ich die Morgenspaziergänge genösse, wie es mit dem Sex stehe, was genau genommen eine schönere Umschreibung war für: Was macht die Prostata? Und ich sagte zu ihm:
     - Natürlich macht es mir zu schaffen.
     Ich dachte an das Gefühl der Nutzlosigkeit. Aber zu schaffen machte mir auch die Prostata. Ich durfte nicht auf Reisen gehen, wenn ich vorher auch nur ein winziges Glas von irgendwas getrunken hatte, und zwischen Zagreb und Rijeka musste ich zehnmal raus zum Pinkeln, obwohl sie da eine ganz neue Autobahn gebaut haben. Reinhard ging es im Großen und Ganzen gut, er hatte eine neue Frau, die alte war vor zwei Jahren gestorben.
     - Du warst auf Beerdigung, sagte er.
     Ich erinnerte mich, ich war beim Begräbnis in Regensburg gewesen. Reinhard sagte, er habe sich Ende letzten Sommers hervorragend amüsiert. Es hätten sich sechzehn Rentner, alles ehemalige Klassenkameraden vom Gymnasium, zusammengefunden, und sie hätten ihre Abifahrt wiederholt. Von Triest mit dem Schiff nach Griechenland. Er erinnere sich nicht, wann im Leben er mehr Spaß gehabt habe. Und so erzählte er mir von seiner neuen Frau, die etwas jünger sei, aber nicht wesentlich, von den Enkeln, von seinem Passat, den er eingewechselt habe. Wir redeten über Gott und die Welt, tauschten Rentnererfahrungen aus. Er zum Beispiel nahm Klavierstunden und machte einen Japanischkurs. Er wolle Murakami im Original lesen. Das sei seine Rentnerambition. Und noch ein bisschen in der Welt herumgondeln. Ich sagte, dass ich mich noch zu nichts Derartigem entschlossen hätte, aber dass für mich inzwischen Uhren und Kalender sinnlos geworden seien.
     - Das ist erster Schritt, was geht in Ewigkeit, radebrechte Reinhard auf Kroatisch.
     Kaum hatte ich das Gespräch beendet, traf mein Blick auf den des Kellners. Wieder stand er im Türrahmen und fixierte mich dreist. Vermutlich schien ihm, dass ich den einen Kaffee schon lange nicht mehr bezahlt hätte, und das machte ihn nervös. Er war jung, mit Gel im Haar und einem Ringelchen im Ohr, und die gestreifte Schürze an ihm sah aus wie die embryonale Variante eines Sträflingsanzugs. Jetzt rieb der Typ auf dem völlig sauberen Tisch neben mir herum. So einen Mistkerl, das musste ich zugeben, hatte ich noch nicht erlebt. Ich wartete, dass er sich entfernte, um ihn erneut herbeirufen zu können. Damit er mehr zu laufen hatte. Dieses Mal kam er, so schien es, liebenswürdiger zu mir. Ich bestellte einen Martell, und jetzt war sein Blick enttäuscht. Er musste gedacht haben, dass ich ihm auch das dritte Mal denselben Kaffee bezahlen wollte. Aber dann brachte er doch mit unlogischer Fröhlichkeit auf einem Tellerchen das Gläschen mit dem Kognak.
     - Bitte sehr, der Herr!
     Jetzt war er höflich und stellte das Tellerchen mit einer Verbeugung auf den Tisch. Er hoffte, dass ich auch den Martell mehrere Male bezahlen würde. Und auch die Ziffer war größer. Aber anstatt sich zu entfernen wie bisher, blieb er mit dem Tablett unter der Achsel neben mir stehen und wartete. Als ich ihn fragend ansah, bleckte er die Zähne und sagte:
     - Ich muss kassieren! Meine Ablöse kommt.
     Was war das jetzt? Als ich ihm den Kaffee zweimal bezahlt habe, hat er nichts im Voraus verlangt, und jetzt auf einmal heißt es: "Bitte, zahlen!" Warum? Und während ich langsam die Geldbörse herauszog, dämmerte es mir langsam. Der Martell war teurer, und außerdem konnte jemand, der so senil war wie ich, dass er vergessen konnte, dass er schon bezahlt hat, vielleicht noch leichter vergessen, dass er nicht bezahlt hat, und sich mit seinem geschwinden Rentnerschritt vom Acker machen. Vielleicht dachte der Kamerad im embryonalen Sträflingsanzug, er hätte mein Spiel durchschaut. Er tut senil, der Tagedieb, das vergessliche Individuum, zahlt zweimal denselben Kaffee, impft dem Kellner, der sich bezahlen lässt für einen Augenblick der Schwäche und einen Anfall unschuldiger Gier, einen Schuldkomplex ein, den er genaugenommen selbst provoziert hat, dieser Espresso-Provokateur, dieser Polizeispitzel. Dann bestellt er einen teuren Kognak, säuft ihn aus, steht auf und verschwindet. Darf sich da ein Kellner erlauben, ihn anzuhalten und zu behaupten, er habe den Martell nicht bezahlt, vor allem wenn er sich dann vielleicht erinnert, dass er für den Kaffee zweimal bezahlt hat? Und ein original Martell kostet mehr als zwei Kaffee. So dachte der Gastronomierat höchstwahrscheinlich, und deshalb sagte er auf die ganz feine Art: Davaj, rück die Knete raus, alter Zausel! Logisch. So sah er es in seiner Gaunerhaut und mit seinen Gauneraugen, mir wäre die ganze Konstruktion jedenfalls nicht im Traum eingefallen, als ich mich im Bruchteil einer Sekunde, gerade solange wie das Eichhörnchen über mir zum Sprung brauchte, entschlossen hatte, aus Rache denselben Kaffee zweimal zu bezahlen. Ich hatte etwas Gefährliches in Gang gesetzt und war, ja, war in seinen Gauneraugen vielleicht selbst ein Gauner: ein Gaunerrentner, ein alter Knacker, der in den umliegenden Lokalen das anständige Kellnergewerbe provoziert. Als was würde sich das Ganze am Ende noch entpuppen, was würde noch zutage kommen?
     Und genau in dem Augenblick, als ich die dreißig Kuna für den Kognak herauszog und überlegte, ob nicht jetzt der Moment gekommen sei, jene nonchalante Frage an ihn zu richten, betrat eine sehr junge Frau mit Kindergesicht, ein mongoloides Kind an der Hand, die Terrasse. Kaum hatte der Junge den Kellner erblickt, flog er auf ihn zu und packté ihn fest am Bein. Er umarmte es wie die Säule eines Tempels oder einen Baum im Wald. Jedenfalls wie etwas, das wir anbeten. Der Mensch in der gestreiften Schürze hatte sich inzwischen niedergebeugt und das Kind aufgehoben. Er hielt es im Arm und küsste es, der kleine Mongoloide schmiegte das Gesicht an seines, und so standen sie eine Zeit lang da. In dieser kurzen Zeitspanne schien alles stehen geblieben zu sein: die Eichhörnchen im Sprung, das Menuett aus der Ballettschule und die Menschen auf der Terrasse, alle waren erstarrt wie im Märchen.
     - Gib Papa ein Küsschen, sagte die Frau und stopfte dem Kleinen das T-Shirt in die Hose.
     Und der kleine Mongoloide küsste seinen Papa fröhlich auf die Wange. Welch glückliche Fügung, dachte ich im Stillen. Der Kleine wird nie erfahren, was für ein Mistkerl sein Vater ist. Die Enttäuschung bleibt ihm für immer erspart.
     Ich verzichtete darauf, ihn irgendetwas zu fragen, ich stand auf, spazierte an dem Vater mit dem kleinen Mongoloiden auf dem Arm vorbei und sah hinauf zu den Wipfeln der Kastanienbäume. Wieder sprang ein Eichhörnchen völlig lautlos von einem Baum zum anderen, und mein Blick erhaschte es im Flug. Und während ich dem Geschöpf zusah, wie es mit buschigem Schwanz seinen Sprung steuerte, kam mir die Idee, dass auch wir aus der 4c, die wir aller Wahrscheinlichkeit nach bereits alle im Ruhestand und mit Sicherheit schon am Schrumpfen waren, unsere Abiturreise mit dem Schiff wiederholen könnten. Von Opatija nach Zadar. So wie im Jahre '61. Ich war kein großer Organisator, ich ging nicht einmal zu diesen Abenden alle fünf Jahre, aber ich stand in Kontakt mit Jugana. Solche Sachen organisierte sie. Ich würde ihr den Floh ins Ohr setzen, vielleicht würde etwas daraus.
     In der Zwischenzeit, während ich das Café, die Kastanien und den Kellner mit dem Kind auf dem Arm hinter mir ließ, wurde mir langsam klar, zu was sich das Ganze entwickelt hatte. Der Lümmel in der gestreiften Schürze hatte auf meine Senilität gesetzt, seinem geschulten Auge war vermutlich nicht entgangen, dass sie manifest war, die haben das Talent, diese Kellner, die haben das gastronomische dritte Auge, und meine Vergesslichkeit kriegte mit einem Mal auch für mich etwas Überzeugendes. Deshalb nahm es nicht wunder, dass ich mir für einen kurzen Augenblick eine zweite Jugend wünschte oder etwas Ähnliches. Das bedeutete, von nun an und in Hinkunft war ich alt. Viel älter, als ich noch gestern war oder heute Morgen. Wer hätte gedacht, dass das Alter an einem einzigen Tag kommt, dass es einem von einem frechen Kellner serviert wird wie ein schaler Kaffee und dass das zudem noch an der Schwelle vom Frühling zum Sommer geschieht.

zu Teil 2
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