Vorgeblättert

Leseprobe zu William T. Vollmann: Europe Central. Teil 3

11.04.2013.
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Was die Strafgefangene anging, sie ließ sich kaum herab, aus ihren halb geschlossenen Augen einen Blick auf die Krupskaja zu werfen. Die Besucherin verstand diese unaufhörliche Kälte, oder zumindest Reserviertheit, als Schuldeingeständnis. Aber in ihrem sozialistischen Glauben, genau wie in der privaten Beziehung zu ihrem Gatten, hatte sie sich schon so lange daran gewöhnt, individuelle Eigenheiten für irrelevant zu halten, dass diese Verschlossenheit sie kaum berührte. Fragen ließen sich beantworten, ohne dass die "Persönlichkeit" auch nur eines der Worte einfärbte. Die säuberlichen Reihen von Buchrücken hinter Wolodjas Schreibtisch hielten Statistiken, Irrtümer, Energie, Düngemittel bereit. Was bedeutete da der Blick ihrer Verfasser? An Fanny Kaplan war sie nur insoweit interessiert, als sie eine Kraft verkörperte, die ihr eigenes Geschichtsverständnis in Frage stellte.
     Schließlich wischte sich die andere Frau, halb abgewandt, mit einer langfingrigen fahlen Hand die Haare aus dem Gesicht, räusperte sich und sagte heiser: Nun, warum sind Sie gekommen?
     Die Krupskaja erwiderte: Ich bin nicht gekommen, Sie zu retten. Ich bin gekommen, Sie zu verstehen und mir eine Last von der Seele zu nehmen.
     Ah! Sie sprechen wie eine echte Russin - so mystisch, so gefühlvoll . . .
     Und Sie? Sie sind keine Russin?
     Ich bin Jüdin.
     Was hat das schon zu sagen? Trotzki ist Jude und Swerdlow, Litwinow, Tschitscherin, Radek, Sinowjew, Kamenew, Krestinski . . .
     Als ich noch am Leben war, war ich eine Sozialrevolutionärin, aber nun, da ich tot bin, bin ich ganz zur kleinen Jüdin geworden. Als sie mich verhaftet haben, haben sie immer nur von meinen jüdischen Zügen gesprochen . . .
     Papperlapapp, insistierte die Krupskaja. Sie wissen, dass die Herkunft ohne Bedeutung ist. Sagen Sie mir nicht, dass Sie gerade dieses Verbrechen begangen haben, weil Sie Jüdin sind.
     Sie ertappte sich dabei, wie sie gerade dieses Verbrechen sagte, weil sie vor dieser Schurkin nicht den Namen ihres Gatten in den Mund nehmen wollte. Ihn Lenin zu nennen, würde bedeuten, ihre Beziehung zu ihm zu verleugnen, was ihr fast wie Verrat vorkam; Wolodja dagegen wäre zu vertraulich; bei F.D. Kaplan war sie gewiss nicht auf Vertraulichkeit aus. In der Öffentlichkeit gebrauchte sie das familiäre Iljitsch, das hier denkbar war, aber sie zog es irgendwie vor, die Präsenz des Opfers unbenennbar und drohend zwischen ihnen hängen zu lassen wiedie Schneide einer gigantischen Guillotine.
     Warum nennen wir meine Tat nicht einfach eine religiöse Handlung?, fragte die Frau mit einem nervösen, aufreizenden Lächeln. Warum nennen wir sie nicht ein Mysterium?
     Mit zusammengekniffenen Lippen und ganz leicht vorgeschobenem Kinn sagte die Krupskaja: Dann haben Sie aus fanatischem Aberglauben gehandelt . . .
     Ich habe auf Lenin geschossen, weil ich ihn für einen Verräter halte.
     Dann verdienen Sie den Tod. In einer Zeit wie dieser, in der Russland . . .
     Natürlich bin ich eine Fanatikerin. Je weniger Möglichkeiten ich habe, desto dringender brauche ich meine Vorstellungskraft.
     Ich kann Sie nicht verstehen.
     Der grüblerische Mund sprach: Nadeschda Konstantinowna, Sie wissen ganz genau, was wir fordern: allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit, Macht den Bauern, eine repräsentative Volksregierung . . .
     Aber Ihre pseudodemokratischen Phrasen stehen auf der ganzen Welt in den Verfassungen der kapitalistischen Republiken! Verstehen Sie denn nicht, dass sie nichts bedeuten? Wie können Sie das allgemeine Wahlrecht fordern, wenn die Reichsten die Wahl bestimmen? Pressefreiheit? wem gehört diese Presse? Eine Volksregierung - wer ist das Volk? Sie haben sich zu einer Schachfigur der Weißen Garde machen lassen . . .
     Selbst eine Schachfigur entscheidet manchmal das Schicksal, erwiderte die Frau mit anmutigem Lächeln. Ihr Sozialrevolutionäre wollt in der Mitte stehen; das ist euer Fehler. Ihr versucht, dem Volk einzureden, dass man sich nicht zwischen uns und den Kapitalisten entscheiden muss. Das ist ein Verbrechen, für das man euch alle erschießen muss wie tollwütige Hunde . . .
     Aber die Verbrecherin lächelte zu diesen Gegenargumenten wieder nur. Etwas beinahe Unausdrückbares fand in ihr seinen Ausdruck. Was war es? Die Empörung und der Hass der Krupskaja wurden langsam von Anzeichen einer trüben Verwirrung verdrängt.


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In Lenins Augen glitzerte das berühmte ironische Funkeln, als er zu Stalin sagte: Hoffentlich ist sie gut. Du weißt, dumm ist Nadja nicht.
     Stalin grinste unverschämt zurück und dachte: Über ihre Intelligenz wird man möglicherweise diskutieren müssen.
     Und mehr noch der schaurigen Gleichklänge: Nadja war zufällig auch der Name von Stalins braunäugigem Eheweib, zwanzig Jahre jünger als er, das er eben geheiratet hatte und das ihm jetzt schon Ärger bereitete. Natürlich war sie so schön wie eine vollkommene Geschichte. Die Locken umspielten ihr Ohr wie eine Nachahmung des Buchstabens Pe; einer der wenigen nicht eckigen im hebräischen Alphabet, er ist nicht nur mit dem Ohr verknüpft, sondern auch mit Unterwerfung (und, natürlich, deren Gegenteil) und zufällig auch mit dem Traum aller Politiker, ewig vollendeter Redegewandtheit. Zu ihren Lebzeiten war die Genossin N. A. Stalin wahrlich nicht mehr als ein geknechtetes Ohr. Scharfsinniger als die Krupskaja, oder zumindest empfindsamer, wurde sie von Freunden und Verwandten mit dem abgegriffenen Bild des zitternden Rehs beschrieben. Ihre Zukunft war der Freitod. Neben ihrer blutenden Leiche hinterließ sie einen Zettel, in dem sie die Verbrechen ihres Gatten anprangerte. Und so dominierte sie ihn am Ende wirklich, und ihm hing jener Buchstabe Pe von nun an für immer über dem Kopf, unerreichbar, und verdammte ihn. Aber im Jahr 1918 war ihr finales Zerwürfnis noch vierzehn Jahre entfernt. Stalin hatte ein paar Lettern der drohenden Botschaft auf ihrer Stirn entziffert, aber er hielt ihr Schweigen für Leere und redete sich ein, dort nichts gelesen zu haben - eine klägliche Abweichung von seiner Paranoia allen anderen Menschen gegenüber. In sein Gesicht schrieb Gott: Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er traf mich, und vor dem mir bangte, das kam über mich. Ohne Zweifel färbte dieses Motto seinen Blick auf die Krupskaja. Gelegentlich hatte sie sich in fraulicher Beflissenheit zwischen Lenin und ihn gestellt, was unverzeihlich war. Und im gegenwärtigen Fall stellte ihre zwanghafte Zuneigung zu einer Verräterin, der sie nie begegnet war, nicht weniger als einen Anschlag auf die Partei dar. Sie hatte Lenin blamiert. Hier bot sich eine Gelegenheit, auf einen Streich Lenin einen Gefallen zu tun und der alten Vettel einen Dämpfer zu verpassen. Außerdem hatte er nun ein perfektes Mittel in der Hand, um Lenin zu erpressen, falls das jemals nötig werden sollte.
     Also zündete Stalin sich die Pfeife an, als die Schauspielerin zu ihm ins Büro gebracht wurde und so kerzengerade vor ihm stand wie der Buchstabe Waw, der an einen Nagel erinnert, sah sie sich von oben bis unten an und sagte dann: Nun, Genossin, du weißt doch, dass man dir eine wirklich große moralische Verantwortung übertragen hat?
     Ja, Genosse Stalin, ich . . .
     Ich zweifle doch sehr daran. Hör mal zu. Wir wollen nicht, dass diese alte Fotze uns den ganzen Ärger noch einmal macht. Dass sie mit Lenin das Badezimmer teilt, heißt noch lange nicht, dass ich ihr Respekt zollen muss. He! Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du bist doch nicht krank, oder?
     Nein, Genosse Stalin.
     Sie soll dich hassen, und sie darf dich nicht auf irgendetwas festnageln. Mystifikation ist gefragt, kapiert? Nu, du bist ein Jid, also machs wie ein Jid.
     Stalin wollte, wenn die schwarzgekleidete Frau es korrekt entschlüsselt hatte, dass sie die Krupskaja bestrafte und ihr Angst einjagte. Jede Silbe, die ihren Mund verließ, musste sich auf die Seele der großen alten Dame stürzen wie ein raubgieriges Tier.
     Anders als andere Gefangene dieser Epoche konnte die Frau die Zukunft so deutlich vor sich sehen wie einen sechszackigen Stern aus purpurnem Feuer, um den alle Zeichen des Himmels herumwirbelten. Bis sie aus dem Leben geschieden war, würden Lenin und Stalin fürchten müssen, dass der Schwindel aufflog. Und daher musste sie sich auf aphoristische Äußerungen beschränken. - Ihre Angst schwang sich nun höher auf, bis ihr klar wurde, dass ihr selbst ein so obskurer Kurs, Mystifikation, wie er es nannte, nichts nützen würde. Was sie auch tat oder sagte, sie war verloren.
     Und so fühlte sie sich sogar noch stärker ins Schweigen geworfen als Fanny Kaplan, die nichts getan hatte, als aus dem Fenster ihrer Zelle zu starren und auf die Kugel in den Rücken zu warten. Alles war ganz aussichtslos.
     Aber sobald die Krupskaja in ihre Zelle getreten war, wurde die Frau von Mitleid ergriffen. Sie wollte sich an die Worte halten, deren Lettern die so unruhig umtanzten: Das Los wird geworfen in den Schoß, aber es fället, wie der HERR will.


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Die meisten Literaturkritiker sind sich einig, dass man Dichtung nicht auf reine Behauptung reduzieren kann. Solide gebaute Protagonisten erwachen zum Leben, Pornografie erzeugt Höhepunkte, und die Täuschung, das Leben sei so, wie wir es gerne hätten, mag durchaus den herbeigesehnten Zustand zeitigen. Daher religiöse Parabeln, sozialistischer Realismus, Nazipropaganda. Und wenn es in dieser Geschichte ebenso von reaktionärem Supernaturalismus wimmelt, dann vielleicht deshalb, weil ihr Verfasser sich danach sehnt, Buchstaben über Zimmerdecken huschen und zart in Engel sich verwandeln zu sehen. Denn wenn sie es können, warum dann nicht wir?
     Eine ähnliche Sehnsucht nach Selbstbestimmung beseelte zweifelsohne die Gefangene, als sie mit ihrer tiefen und bleiernen Stimme wisperte: Nadeschda Konstantinowna, haben Sie je die Kabbala gelesen?
     Ich habe keine Zeit für solchen Schund. Sie können sagen, was Sie wollen . . .
     Es steht geschrieben, der Mensch sei die tätige Hand und Gott der Schatten. Nur der Mensch kann Gott retten. Und nun sind Lenin und Sie die beiden Götter Russlands. Streiten Sie es nicht ab, Nadeschda Konstantinowna! Sie selbst sind Gott. Und nur ich kann Sie retten. Nur ich kann Ihre Glorie wiederherstellen.
     Die Krupskaja erhob sich halb und starrte sie verblüfft an. - So eine sind Sie also, sagte sie. Sie sind nicht einmal intelligent.
     Überhaupt nicht. Aber wenigstens bin ich wirklich. Ich habe versucht, Lenin zu ermorden, weil er Gott sein wollte, aber nun, da er sein Ziel erreicht hat, ist er mein Schatten geworden, und ich muss ihn anbeten. Und auch Sie mit ihrem Zittern, ihrer Einsamkeit und ihrer Albernheit, auch Sie sind mein Schatten! Nur um meinetwillen sind Sie hier . . .
     Sie gehören ins Irrenhaus. Ich gehe.
     Ich suche nach verborgenen Welten, sagte die Frau der Krupskaja ins unerschütterlich glotzende Gesicht. Und dann flüsterte sie ganz leise (da hinter der Wand bestimmt Stalin lauschte): Sind Sie sich selbst treu?
     Ich muss doch bitten! Vor Ihnen habe ich mich nicht zu rechtfertigen, Sie Mörderin!
     Ich bin nicht auf Rechtfertigungen aus, Nadeschda Konstantinowna. Ich bitte nur um Ihr Mitleid.
     Der Krupskaja schlug das Herz bis zum Hals. Sie rieb sich die Stirn, schnappte nach Luft und fragte sich, wann ein Schlaganfall ihr den Rest geben würde.
     Werden Sie mir Ihr Mitleid schenken?, forderte die Frau.
     Ich . . .
     Sehen Sie mich an. Sehen Sie, wo ich bin. Werden Sie mir Ihr Mitleid schenken?
     Die Krupskaja wollte weinen, aber das wagte sie nicht. Sie räusperte sich und sagte stockend: Ich kann mich noch an meine Gefängniszeit erinnern, als ich so leidenschaftlich an die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes glaubte. Und ich . . . ich denke, auch Sie werden ihre Leidenschaften haben.
     Das Gesicht der Frau schwoll an vor dumpfer Ekstase, und sie fiel auf dem Steinboden der Zelle vor der Krupskaja auf die Knie, warf den Kopf zurück und bot ihr die Kehle dar, so dass ihre Gestalt an den Buchstaben Beth erinnerte, der für Weisheit und Wahnsinn zugleich steht.
     Aber Sie sind verrückt! Sie brauchen einen Arzt. Ich sage Iljitsch . . .
     Machen Sie sich keine Mühe, Nadeschda Konstantinowna . . .
     Da begann die Krupskaja zu zittern, und sie sagte: Sie sind nicht Fanny Kaplan, oder?
     Wenn ich nicht die bin, die ich zu sein behaupte, müssen Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen . . .      Ist sie tot?
     Die Frau stand auf und sagte: Mit anderen Worten, Sie möchten wissen, ob ich die Attentäterin selbst bin oder die Erscheinung einer Attentäterin.
     Wer sind Sie?
     Ich bin Ihre Offenbarung.
     Dann fiel die Frau (die, anders als die Krupskaja und Fanny Kaplan, ihren eigenen Untergang hinauszögern wollte) erneut auf die Knie und begann, die folgenden Worte zu murmeln: Suria, Prinz der Gegenwart, mit dem Kopf zwischen den Knien habe ich gefastet; nun beschwöre ich Dich einhundertundzwölf Mal mit dem Namen Gottes. Ich beschwöre Dich mit dem Namen NADESCHDA KONSTANTINOWNA KRUPSKAJA HA-SCHEM ELOHEI JISRA'EL.
     Blasser und blasser wurde sie im Dunkel, bis ihr Fleisch wie eine weiße Flamme war, einhundertundelf Mal wiederholte sie den geheimen Namen (jedes Mal in einem langen Atemzug), nickte bei jeder Silbe mit dem Kopf, zählte an den Fingern ihrer ekstatisch ausgestreckten Hände mit.
     Gelähmt saß die Krupskaja da. Hinterher konnte sie sich ihrer Empfindungen kaum erinnern. Es war, als wäre sie überhaupt nicht dort gewesen, oder nur auf unwirkliche Weise, wie ein Fähnlein Rauch . . . Und dann flüsterte die Frau LI'ARSIJ JEHOL MEHS-AN AJAKSPURK ANVONITNATSNOK ADSCHEDAN, fiel zitternd und mit Schaum vor dem Mund zu Boden, und in ihren Augen war eine Dunkelheit wie das Dunkel in den Nasenlöchern der Krupskaja. Im gleichen Augenblick färbten sich die auf den Mauern sich windenden hebräischen Lettern rot wie Feuer, erhoben sich in die Luft und verdichteten sich über dem Gesicht der Frau zu einem kreisförmigen Schwarm, so dass ihre Züge verdeckt waren, gerade so wie Fanny Kaplans Hinrichtung vom mysteriösen Dröhnen eines Automotors verschleiert worden war (Malkow hatte befürchtet, Schaulustige könnten sonst die Schreie hören). Dann verschwanden die Lettern im Mund der Frau. Der Krupskaja fehlten die Worte. Die Frau begann stärker und stärker zu leuchten, bis das Licht, das von ihr ausging, so weiß und rein war wie das Papier der Torah.
     Sie stand auf und näherte sich der Krupskaja, die sie, von einer geheimnisvollen Regung getrieben, auf den Mund küsste, so dass die beiden endlich voneinander tranken.
     Dann, in einer Stimme, so zart wie Spitze in den russischen Schaufenstern, bevor diese von der Revolution leergeräumt worden waren, sagte die Frau: Ich habe dich erschaut, ich habe dich angebetet und mit der Kraft der Rechtgläubigkeit habe ich deine Glorie wiederhergestellt. Du stehst ohne Schuld. Ich aber, da ich dich erschaut habe, muss gewisslich sterben.
     Wer bist du?, sagte die Krupskaja und nahm die Hand der Frau.
     Und wenn ich es dir sage, wird es dich dann davonfegen?
     Wer bist du?
     Ich bin du. Ich bin du geworden. Ich habe mich dir ganz gegeben. Und was wirst du nun tun? Du bist so unschuldig, so vollkommen, du kannst alles tun.
     Wer bist du?
     Ich bin unergründlich, wisperte die Frau. Ich bin nichts.


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Sie rauschte an den aufgesetzten Bajonetten der feixend höflichen Tschekisten vor den Kremlmauern vorüber und stieg die drei langen, steilen Treppen hinauf, die zitternden Hände ineinander vergraben. Die Frau, die sie angebetet hatte, hatte aus ihrem Mund den Kuss der Erleuchtung getrunken, wer aber konnte die Göttin selbst erleuchten? Die Krupskaja fühlte sich wie in einem Feuerkreis gefangen.
     Gestern haben wir davon gesprochen, sie zu legalisieren; heute verhaften wir sie!, hörte sie Wolodja mit dem ihm eigenen munteren Glucksen sagen. So macht man der Konterrevolution den Garaus . . . Nicht lange darauf machte ihr die Genossin Angelica Balabanoff ihre Aufwartung. Als Letztere das Thema der Hinrichtung der Fanny Kaplan anschnitt, vergoss die Krupskaja, wie überliefert wird, viele Tränen.


13

Hier, vielleicht, sollte die Parabel enden, denn in ihren letzten Jahren pflegte die Krupskaja kaum Schwesternschaft mit einer der beiden Fanny Kaplans. Sie predigte, hielt Vorträge, reiste, ließ Schulen errichten, allzeit, ohne es jemals zugeben zu können, im Bann des alten Mottos der Narodniki: Geh hin zum Volk. - Nun, so glich sie den Attentätern ihres Mannes am Ende doch! Wie also könnten wir hier schließen? - Sie verfasste nüchterne Aufsätze über Pädagogik. (Die Krupskaja liebte Kinder und hätte so gerne eigene zurWelt gebracht. AberWolodja lag inzwischen einbalsamiert in jenem Mausoleum, gegen das sie sich ausgesprochen hatte. Immer wieder tauchte in ihren Schriften die eine Redewendung auf: Die Aufgaben, die vor uns liegen . . . In den Jahren, als ihre Partei Millionen von Ukrainern ermordete, erzählte ihr ein Genosse, dessen Name nicht überliefert ist, die Geschichte eines armen, kleinen Jungen, der gerne Blumen zeichnete, aber von Geburt an von derHüfte abwärts gelähmt war, so dass er drinnen bleibenmusste und kaum je echte Pflanzen sah; die Krupskaja weinte wie üblich; sie wollte etwas tun. Und welches Recht habe ich, ihr Weinen schlechtzumachen? Sprachen ihre Güte und ihr Urteilsvermögen nicht gegen all ihre Feinde? - Kabbalistisch betrachtet, besaß sie nun eine Neigung zum Buchstaben Jod, der an eine verformte, aus einer Leiche geborgene Kugel gemahnt und vor allem Praxis bedeutet. Kurz, sie ging den vorgezeichneten Weg und blieb der Höchsten Erfahrung würdig. Häftlinge erzählten ihr: Ich werde gut behandelt . . . - Schon vor Wolodjas Tod gab sie Direktiven aus, nach denen Bibliotheken unerwünschte Bücher zu unterdrücken hatten, darunter die Ekstasen der Tolstojaner mit ihrer schädlichen Oberflächlichkeit. Schieben Sie Wolodja die Schuld dafür zu, wenn Sie wollen. Seinen Anweisungen folgend hatte sie vor langer Zeit mit den Narodniki gebrochen, deren Drucker einst im Untergrund seine in unsichtbarer Tinte geschriebenen Gefängnisaufsätze gesetzt hatten. War also Wolodja der Schlüssel zu ihrem Gehorsam gewesen? Oder war es einfach ihr Mangel an intellektuellem Selbstbewusstsein, der sie zeit ihres Lebens in der Überzeugung hielt, dass sie noch immer zu wenig wusste, um ihre Opfer selbständig zu bringen?
     Als im Jahr 1928 die neue Welle der "Repressionen" losbrach, erhielt sie viele Briefe von den Bauern, die sie verehrten und sie baten, ihre Familien vor Entkulakisierung,Vertreibung und Haft zu bewahren. Es ließen sich unmöglich alle beantworten. Sie sagte sich:Wie ich diese Worte persönlich verstehe, ist irrelevant. Die Revolution muss gerettet werden. - Dahin war die Verzückung. Sie hoffte nicht länger darauf, sich ins Buch des Lebens einzuschreiben oder auch nur Lenins Lektorin zu sein; alles was ihr noch blieb war, laut vorzulesen, was auch immer man ihr vorlegte. Im Jahr 1936 schrieb sie zur Verteidigung der Schauprozesse Stalins, viele ihrer eigenen früheren Kampfgefährten verdienten es, erschossen zu werden wie tollwütige Hunde (einer der geschraubten Gemeinplätze jener Zeit). Da war sie eine traurige, rundgesichtige Babuschka geworden, eine gute Kommunistka mit verlangsamtem Blick auf dieWelt. Manchmal flüsterte man ihr ein, Fanny Kaplan lebe noch. Gutgläubig verschlang sie solche Gerüchte, die man ihr darbot wie Opfergaben.
     In ihrem Schicksal der gemordeten Mörderin überlegen, entkam sie sogar den Schauprozessen. Dem Gerücht, dass Stalin sie vergiftet habe, muss man keinen Glauben schenken. Sie starb im Jahr 1939 an Arterienverkalkung, und für einen Menschen, dem man mit der Zeit alle Lebenskraft und Spontanität abgewürgt hatte, scheint mir das seltsam passend. Stalin tat sich unter jenen hervor, die ihre Urne zu der Nische in der Kremlmauer trugen, die auf sie wartete.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(Copyright Suhrkamp Verlag)

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