Vorgeblättert

Leseprobe zu Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Teil 3

14.07.2014.
In der Schlacht des Reiches um den Nachwuchs mussten Hitlers Kämpferinnen sich unterordnen, Befehlen gehorchen, sich für die größere Sache opfern, Nerven aus Stahl entwickeln und im Stillen leiden. Sie mussten die Kontrolle über den eigenen Körper abgeben, der nun ganz im Dienste des Staates stand. Siege bemaßen sich nicht an der Zahl der Geburten, sondern an der Zahl gesunder »arischer« Kinder. Die Massenkampagne zur selektiven Züchtung betraf deutsche Frauen über Generationen und Klassen hinweg, sie alle hatten am Ende unter dem »Rassenkrieg« der Nazis zu leiden und trieben ihn zugleich voran. Der Beruf der Hebamme erlebte einen wahren Boom. Um der nationalsozialistischen Überhöhung von Reinheit und Natur zu genügen, gab es nur in begrenztem Maße Geburten per Kaiserschnitt, und Frauen, die ihre Kinder stillten, wurden belohnt. Doch nicht alle Frauen galten als geeignete »Soldatinnen« in diesem Kampf um »Rassenreinheit«. Diejenigen mit sogenannten erblich bedingten Störungen (darunter Alkoholikerinnen und Depressive), Prostituierte mit Geschlechtskrankheiten, Frauen der Sinti und Roma sowie Jüdinnen wurden zwangssterilisiert und mussten abtreiben. Von den 400.000 nichtjüdischen Deutschen, die einer Zwangssterilisation unterzogen wurden, waren ungefähr die Hälfte Frauen. Einige tausend starben infolge schlampiger Eingriffe. Gewöhnliche deutsche Frauen und Mädchen wurden von Hebammen und Krankenschwestern verraten, denn diese meldeten nach der Geburt eines Kindes angebliche Defekte und empfahlen aufgrund von gynäkologischen Routineuntersuchungen Abtreibungen und Sterilisationen. In dem Bürgerkrieg um perfekte »arische« Kinder, der schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in vollem Gange war, fällten somit Frauen für andere Frauen grausame Entscheidungen über Leben und Tod, was sich verheerend auf das moralische Empfinden auswirkte und Frauen in die Verbrechen des Regimes verstrickte.
Von deutschen Frauen und sogar Mädchen wurde politische Fügsamkeit verlangt. Formal begann die Indoktrination mit zehn Jahren. Ab 1936 war die Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel (BDM), dem weiblichen Pendant zur Hitler-Jugend, verpflichtend. Später dann machten die Nazis den meisten anderen Jugendorganisationen ein Ende oder gliederten sie in die Hitler-Jugend ein; ausgenommen waren nur ein paar katholische Jugendgruppen, die unter dem Schutz des Vatikans standen. Da Eltern, die ihr Kind vor der NS-Bewegung zu schützen und abzuschirmen versuchten, ihre häusliche Autorität und ihr gesellschaftliches Ansehen verloren, gaben sie in der Regel dem Drängen der Parteiagitatoren, Nachbarn und Kollegen nach. In Städten wie Minden versorgten lokale Beamte die Partei mit Listen der registrierten Mädchengeburten, und damit gingen Freiwillige der NSDAP von Tür zu Tür, um deutsche Mädchen für die Bewegung zu gewinnen.
Der BDM erfüllte den Wunsch vieler Mädchen - ob sie nun politisch gesinnt waren oder nicht - nach Gemeinschaft und dauerhaften Freundschaften. Für einige war die BDM-Zugehörigkeit ein Sprungbrett zur NSDAP-Mitgliedschaft und für eine Karriere in der Bewegung, denn dort lernte man die entsprechenden Fertigkeiten. Die örtliche BDM-Führerin in Minden war »wahnsinnig autoritär […], die war in der ganzen Stadt Minden bekannt, daß sie furchtbar schrie und nahezu bösartig war«. Noch die widerlichsten lokalen Nazi-Führerinnen konnten so als Rollenmodell für junge Mädchen dienen, die in Kleinstädten aufwuchsen.
Die jungen Frauen dieser Zeit blickten nach vorne, nicht zurück. Sie waren keine selbsternannten Feministinnen; tatsächlich lehnten die meisten ihrer Generation die Suffragetten als passé ab. Als die Nationalsozialisten 1933 das Frauenstimmrecht abschaffen wollten, traten die deutschen Frauen nicht in den Hungerstreik. Ihr Gegner war nicht der »männliche Unterdrücker«, für viele wurde »der Jude«, »der Asoziale«, »der Bolschewist« oder »die Feministin« zum Feindbild. Der jüdische Intellekt habe das Wort von der Emanzipation der Frauen erfunden, erklärte Hitler 1934 in Nürnberg. Der NS-Bewegung hingegen ging es mit den Worten Alfred Rosenbergs um die »Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation«. Tatsächlich hatten deutsche Jüdinnen eine wichtige Rolle bei den Sozialreformen und in den Frauenbewegungen der Weimarer Zeit gespielt. Hitlers Äußerungen dienten also zwei Zielen: Juden aus der deutschen Politik zu drängen und eine unabhängige Frauenbewegung in Deutschland zu zerschlagen. Das Versuchslabor der Weimarer Republik musste vollständig diskreditiert und beseitigt werden, und gleichzeitig galt es, mit dem Nationalsozialismus eine andere emanzipatorische Alternative zu bieten, eine, die auf Disziplin und Konformität setzte. Deutsche Frauen, die sich durch die NS-Bewegung gestärkt fühlten, erfuhren eine Art Befreiung in der Kameradschaft - nicht als Feministinnen, die das Patriarchat in Frage stellten, sondern als Verfechterinnen einer konservativen, rassistischen Revolution. Als vollwertige »arische« Mitglieder von Hitlers faschistischer Gesellschaft waren sie selbst gleichwohl politisch. Tatsächlich nahm die »Frauenfrage« jetzt eine andere Form an: dass nämlich Frauen und Mädchen für Umzüge und Aufmärsche auf die Straße gingen; dass sie auf Bauernhöfen Arbeitseinsätze leisteten; dass sie an Sommercamps, an Marschübungen, an Hauswirtschaftskursen, an Musterungen und an feierlichen Flaggenappellen teilnahmen.
Die völkische Ideologie hatte ihre ganz eigene weibliche Ästhetik. Schönheit war demzufolge das Ergebnis gesunder Ernährung und sportlicher Betätigung und hatte nichts mit Kosmetik zu tun. Deutsche Frauen und Mädchen sollten sich nicht die Fingernägel lackieren, die Augenbrauen zupfen, Lippenstift auftragen, die Haare färben oder zu schlank sein. Hochrangige NS-Vertreter verurteilten den Schminkboom der 1920er Jahre als jüdisches Gewerbe, das die deutsche Weiblichkeit herabwürdige, da es Frauen zu Prostituierten mache und zu »rassischem« Verfall führe. Deutsche Männer sollten das Mädchen von nebenan heiraten, nicht irgendeine Großstädterin oder eine Verführerin nach Hollywood-Art. Der natürliche Glanz einer jungen Frau sollte von körperlicher Betätigung, vom Draußensein und, in seiner höchsten Form, von der Schwangerschaft herrühren.
Hitler wollte das »Rassenbewusstsein« der normalen Deutschen steigern, doch für viele Frauen war das »rassische« Erwachen auch ein politisches. Frauen begannen nach der ehrgeizigen - mitunter lähmenden, zumeist aber beflügelnden - Vorstellung zu handeln, dass sie eigentlich mehr vom Leben erwarten durften. In ihren Erinnerungen und in den Gesprächen berichteten Hitlers Helferinnen von ganz ähnlichen Erfahrungen in ihrer Jugend: Als sie die Volksschule beendet und das junge Erwachsenenalter erreicht hatten, merkten sie, dass sie etwas werden wollten. Dieses Bestreben ist heute natürlich ein Klischee, aber damals war es revolutionär. Junge Frauen bescheidener Herkunft behaupteten sich, indem sie ihre Heimatdörfer verließen, eine Ausbildung zur Schreibkraft oder Krankenschwester begannen und sich einer politischen Bewegung anschlossen. Die Töchter der Frauen, die in der Weimarer Zeit erstmals hatten wählen dürfen, witterten ihre Chance in Deutschland und darüber hinaus.
Die nationalsozialistische Judenpolitik der Vorkriegszeit wird von den Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen, nur selten geschildert oder auch nur erwähnt. Brigitte Erdmann, die die Truppen in Minsk unterhielt, schrieb 1942 sogar an ihre Mutter, sie sei in Weißrussland zum ersten Mal einem deutschen Juden begegnet. Wussten deutsche Frauen, dass die »Judenfrage« im Zentrum von Hitlers Ideologie stand, und bekamen sie mit, was mit den Juden geschah? Natürlich sahen Mädchen, die im nationalsozialistischen Deutschland aufwuchsen, auf Plakaten und in Zeitungen die primitive Propaganda, die Bilder von den Juden als minderwertiger Rasse. In Romanen und Filmen wurde der Jude als gefährlich - und im Hinblick auf die Mädchen als lüstern - dargestellt. In dieser sexualisierten Form traf der Antisemitismus den intimsten, emotional aufgeladensten Bereich, in dem deutsche Nichtjuden und deutsche Juden miteinander verkehrten. Er richtete sich gezielt an die »arische« weibliche Bevölkerung in Deutschland, die Frauen galten als verletzliche Sexualobjekte, deren Körper von wachsamen Beschützern gegen die Juden verteidigt werden mussten. Diese Form des Antisemitismus rührte auch an den Machismus deutscher Männer: Ihre Frauen vor den »gefährlichen« Juden zu schützen war eine Frage der Ehre und der Männlichkeit.
In Kursen zur Kinderbetreuung erhielten Frauen Hinweise zur »Rassenhygiene«, wonach die widerlichen Charaktermerkmale von »Untermenschen« an den Gesichtszügen oder an der Kopfform zu erkennen seien. In weiterführenden Schulen erstellten alle Kinder ausgefeilte Abstammungstafeln, die zweierlei zum Ziel hatten: Die Kinder wurden sich ihrer deutschen »Blutszugehörigkeit« bewusst, und die Lehrer wussten, wer »arisch« war und wer nicht. In Neuausgaben von Schulbüchern paarten sich antisemitische Parolen und fratzenhafte Darstellungen von Juden mit NS-Symbolen und erbaulichen Zitaten, die einem attraktiven, retuschierten »Führer« zugeschrieben wurden. Das öffentliche Beschimpfen und Schikanieren von Juden auf Spielplätzen, in Schwimmbädern und bei Sportereignissen wurde geduldet. Auf einem Karnevalsumzug in einer katholischen Region waren ein aufwendiger Festwagen sowie Deutsche zu sehen, die, als orthodoxe Juden verkleidet, auf dem Weg nach Palästina waren. Überdies trugen einige Teilnehmer »jüdische Nasen«.
In der Zwischenkriegszeit wurden deutsche Mädchen auf den Straßen sowie in der Schule Zeugen politischer Gewalt. Sie lernten nicht nur, wie man diese Gewalt tolerierte, sondern auch, wie man gegen ausgewählte Feinde und verletzliche Klassenkameraden vorging. Als ein deutsches Mädchen an einer Schule versuchte, eine frühere jüdische Freundin zu schlagen, wehrte sich zu ihrer Überraschung das jüdische Mädchen, woraufhin die Deutsche meinte: »Du bist Jüdin, du darfst nicht zurückschlagen.«
Zur Zeit des Novemberpogroms 1938 wurden die »Babyboomer« des Ersten Weltkriegs erwachsen. Sie wurden Zeugen der zerstörerischen Angriffe auf Juden überall in Deutschland oder hörten und lasen zumindest darüber. In Groß- und Kleinstädten wurden Hunderte von Synagogen in Brand gesteckt und Schaufenster von Geschäften zertrümmert. SA und SS verwüsteten jüdische Friedhöfe, stürzten Grabsteine um und zerschlugen sie. Tausende von Juden wurden verprügelt, 30.000 landeten in Konzentrationslagern. Offizielle deutsche Quellen gaben die Zahl der getöteten Juden mit 91 an. Der Historiker Richard J. Evans jedoch schätzt, dass es zwischen 1000 und 2000 Tote gab, darunter 300 Selbstmorde. Mehr als drei Viertel der rund 9000 jüdischen Geschäfte in Deutschland wurden geplündert und zerstört. Frauen und Mädchen, die beim Einkaufen waren, erlebten die Zerstörung; viele von ihnen meinten, das ganze Durcheinander müsse beseitigt werden, oder sie beschwerten sich über die Unordnung und die Unannehmlichkeiten. Der normale Berliner bezeichnete das Pogrom euphemistisch als »Kristallnacht«, womit der Eindruck erweckt wurde, die Zerstörungen seien in erster Linie materieller Art. Als eine Berlinerin am Morgen all die Glasscherben sah, fuhr ihr durch den Kopf: »Die Juden sind die Feinde des neuen Deutschland. Sie haben diese Feindschaft heute nacht zu spüren bekommen.«
In ihrer Rolle als Kundinnen und Verkäuferinnen begegneten deutsche Frauen tagtäglich Juden in der Konsumgesellschaft des »Dritten Reiches«. Sie entschieden, welche Geschäfte sie während der ersten Boykotte aufsuchten und welche sie mieden, und sie erlebten, wie lokale Läden den Besitzer wechselten. Vor 1933 besaßen Juden einige der größten Kaufhäuser in Deutschland, wie etwa die Warenhauskette Tietz, zu der auch das KaDeWe in Berlin gehörte. Im Zuge der Boykottmaßnahmen beschmierten SA-Leute die Schaufenster und versuchten Frauen am Betreten der Geschäfte zu hindern. Zumeist handelte es sich um kleine jüdische Familienunternehmen, doch in den größeren Warenhäusern wie Tietz waren viele Frauen als Verkäuferinnen beschäftigt. Die NS-Führung und deutsche Geldgeber drängten die Juden aus der Wirtschaft und zwangen sie, ihre Unternehmen unter Wert zu verkaufen, während zugleich Juden aus der Geschäftsführung entfernt wurden. Für die meisten deutschen Verkäuferinnen konnte diese »Arisierung« des jüdischen Einzelhandels den Verlust des Arbeitsplatzes oder einen neuen Chef bedeuten. Auf jeden Fall war es ein Ereignis, eine sichtbare Veränderung, die die Viktimisierung und dann den »Weggang« ihrer jüdischen Nachbarn und Arbeitgeber markierte.
Die unablässigen nationalsozialistischen Angriffe in den 1930er Jahren wurden für die deutschen Juden erdrückend, und wer konnte, floh aus dem Land. 1940 hatte rund die Hälfte von ihnen Deutschland verlassen, zwei Drittel davon Kinder. Aus deutscher Sicht waren die Juden, die geblieben waren, als menschliche Wesen unsichtbar, aber als Phantom einer bösen Macht, die Deutschland bedrohte, allgegenwärtig. Und so glaubten Frauen wie die in Minsk als Truppenunterhalterin tätige Brigitte Erdmann, die über die Präsenz von Juden im Osten erstaunt waren, dass sie zuvor noch nie einen wirklichen Juden gesehen hätten, während tatsächlich viele in ihrer Jugend im deutschen Alltag mit jüdischen Menschen in Kontakt gekommen waren.
Die soziale Norm, die schlimme Situation der deutschen Juden zu ignorieren, verband sich mit der Erwartung, deutsche Mädchen sollten eine weibliche Form von Härte verkörpern. Zu den Sportübungen junger Frauen im BDM gehörten Marschdrill und scharfes Schießen. Sie, die im Grunde noch Mädchen waren, lernten, in Formation zu marschieren und mit dem Luftgewehr zu schießen. Die lange Tradition des preußischen Militarismus pflegte nicht nur eine Kultur des totalen Krieges und der »Endlösungen«, sondern integrierte in ihrer faschistischen Form des 20. Jahrhunderts Frauen als patriotische Erzieherinnen und Kämpferinnen in eine kriegerische Gesellschaft.
Die körperliche Ertüchtigung war gepaart mit einer Verdummung der Bevölkerung. Deutsche Schulmädchen wurden nicht in Fächern wie Latein unterrichtet, denn künftige Mütter brauchten derartiges Wissen nicht. Stattdessen bekamen sie Broschüren mit Ratschlägen, wie man einen Mann findet. Die erste Frage, die man einem künftigen Ehegatten stellen sollte, lautete: »Wie sieht es mit deiner arischen Abstammung aus?« Für Frauen im heiratsfähigen Alter galten solche Hinweise und gesellschaftliche Unterstützung als nützlich. Auch das öffentliche Bekenntnis zur Mutterschaft übte einigen Reiz aus. »In meinem Staat ist die Mutter die wichtigste Staatsbürgerin«, verkündete Adolf Hitler. Nie zuvor waren deutsche Mütter in den Genuss von so viel Anerkennung und so vielen Leistungen gekommen: Es gab mehr Kinderbetreuungseinrichtungen, mehr »Rassenhygiene« und unzählige feierliche Ehrungen wie etwa die Verleihung des »Mutterkreuzes« an Frauen mit mehr als vier Kindern.
Selbstverständlich muss man sich davor hüten, die NS-Propaganda und die Erklärungen von NS-Größen für bare Münze zu nehmen. Die Propaganda sollte Frauen wieder in den privaten Bereich von »Kinder, Küche, Kirche« zurückdrängen, und die finanziellen Anreize, die die Zahl der Eheschließungen und die Geburtenrate steigern sollten, brachten nicht die von der NS-Führung erwarteten Resultate. Nach 1935 sank die Geburtenrate, während die Scheidungsrate stieg. Wie die Statistik zeigt, waren die meisten deutschen Frauen nicht verheiratet, nicht ständig schwanger und blieben nicht zu Hause. Als das »Dritte Reich« seine wuchernden Institutionen und Ämter überall in Deutschland (und später in den besetzten Gebieten) etablierte, waren Frauen stärker als je zuvor in der deutschen Geschichte deutlich sichtbarer Bestandteil der berufstätigen Bevölkerung. Eine Frau aus dieser Generationenkohorte fasste das so zusammen: Der Erste Weltkrieg habe ihnen beigebracht, »daß da schon jeder einen Beruf zu haben hatte, man konnte doch gar nicht damit rechnen, daß man unbedingt heiratete […]. Wer wußte denn, wie die Zeiten nachher weiter wurden, ob es nicht nötig war und nützlich war, daß man einen Beruf hatte.«
Gleichwohl darf man die Entscheidungsfreiheit, die Frauen in Hitlers Deutschland genossen, nicht überschätzen. So konnten sie sich mit Sicherheit nicht dafür entscheiden, einen Juden zu heiraten oder ein Kind mit einer angeblichen Erbkrankheit aufzuziehen. Politische Optionen gab es nicht mehr, denn die NSDAP war jetzt die einzige Partei. Und die Karrierewege, die ihnen offen standen, waren begrenzt. Vor dem Krieg mussten alle Deutschen, die frisch von der Schule kamen oder ein Universitätsstudium planten, einen sechsmonatigen Arbeitsdienst für das Reich verrichten, und zwar üblicherweise in der Landwirtschaft. In diesen Lagern des Reichsarbeitsdienstes herrschte zwar Geschlechtertrennung, aber ansonsten waren hier alle sozioökonomischen Schichten vertreten, denn die jungen Leute sollten ein nationales Kameradschaftsgefühl entwickeln. Als Teil von Hitlers Kriegsvorbereitung hatte Anfang 1938 jede Frau, die sich an einer höheren Bildungseinrichtung oder an einer Handelsschule einschrieb, eine Grundausbildung in drei Bereichen zu absolvieren: Luftabwehr, Erste Hilfe und Fernmeldewesen.
Das NS-System duldete keine Nonkonformisten. Sobald sie einmal in Büros der Wehrmacht oder der Zivilverwaltung saßen, konnten weibliche Angestellte nicht mehr entlassen werden, es sei denn aus Gesundheitsgründen (zu denen auch eine Schwangerschaft zählte) oder wegen Fehlverhaltens, für das sie bestraft wurden. Die Pflicht, dem Reich zu dienen, war den Kindern schon in der Schule und in Jugendprogrammen eingebleut worden, und diejenigen, die als »arbeitsscheu« oder als »Drückeberger« galten, kamen zur »Umerziehung« in Konzentrationslager.
Als Hitlers Truppen im Sommer 1941 weitere Gebiete im Osten eroberten, wurde die Arbeitspflicht ausgeweitet, und immer mehr Frauen wurden in kriegswichtigen Industriezweigen, Ämtern und Krankenhäusern eingesetzt. Die NS-Führung bereitete sich auf einen totalen Krieg und ein totales Imperium vor. Schließlich sollte ganz Europa ein Hort des »Ariertums« sein, der von Hitlers Hauptquartier in Berlin aus regiert wurde. Solche globalen Bestrebungen verlangten die Schaffung einer neuen Kaste, einer deutschen Imperialelite, die aus jungen Männern und Frauen bestand.

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags (Copyright Hanser Verlag)

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