Vorgeblättert

Leseprobe zu Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Teil 1

14.07.2014.
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Die verlorene Generation deutscher Frauen

Die Männer und Frauen, die die Terrorsysteme des »Dritten Reiches« aufbauten und lenkten, waren erschreckend jung. Als Adolf Hitler im Januar 1933 mit 43 Jahren zum Reichskanzler ernannt wurde, waren mehr als zwei Drittel seiner Anhänger unter 40 Jahre alt. Der künftige Chef des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, war gerade einmal 37 Jahre alt, als er die Wannseekonferenz leitete und die Pläne der Nazis für den Massenmord an den Juden enthüllte. Die Legionen an Sekretärinnen, die die Maschinerie des Massenmords am Laufen hielten, waren zwischen 18 und 25 Jahre alt. Auch die Krankenschwestern, die im Kriegsgebiet arbeiteten, bei medizinischen Experimenten assistierten und tödliche Injektionen verabreichten, waren noch ganz frisch in ihrem Beruf. Die Geliebten und Ehefrauen der SS-Elite, deren Aufgabe darin bestand, die Reinheit der »arischen Rasse« durch gesunden Nachwuchs auch künftig zu sichern, waren - wie verlangt - im gebärfähigen Alter. Das Durchschnittsalter der KZ-Aufseherinnen lag bei 26 Jahren; die jüngste war gerade einmal 15 Jahre alt, als sie ihren Posten im Lager Groß-Rosen an der Grenze zu Polen antrat.
     Terrorregime zehren vom Idealismus und von der Energie junger Menschen, indem sie diese zu gehorsamen Kadern von Massenbewegungen, zu paramilitärischen Truppen und sogar zu Massenmördern formen. Männliche Deutsche, die das Pech hatten, zur Zeit des Ersten Weltkriegs erwachsen zu werden, entwickelten sich zu einer ganz spezifischen Gruppe, deren Deformationen wir bis heute zu ergründen versuchen. Ein Historiker hat diese jungen Männer als »Generation des Unbedingten« bezeichnet: stramme Ideologen, die beruflich von sich selbst absolut überzeugt waren und ihre Ambitionen in der SS-Elite als Entwickler der Holocaust-Maschinerie in Berlin verwirklichten. Auch eine Generation junger Frauen trug ihren Teil zum Genozid bei, nicht an der Spitze, sondern gleichsam im Maschinenraum. Was die Kader junger berufstätiger Frauen und Partnerinnen, die den Holocaust ermöglichten, auszeichnete - also die Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Osten gingen und dort unmittelbare Augenzeuginnen, Komplizinnen und Täterinnen des Massenmords wurden -, war, dass sie den geburtenstarken Jahrgängen des Ersten Weltkriegs angehörten: gezeugt am Ende einer Epoche und am Beginn eines neuen Zeitalters.

Ende 1918 brach das Deutsche Kaiserreich zusammen: Die militärische Niederlage war besiegelt, Soldaten meuterten, und der zum Kriegsverbrecher erklärte Kaiser floh in die Niederlande. Die patriarchale Welt des alten Regimes lag in Trümmern, und politisch schien nun alles möglich zu sein.
     Den Frauen eröffnete die neue Ordnung - Deutschlands erstes Experiment in Sachen Demokratie, das sich am amerikanischen und britischen Vorbild orientierte - die Chance auf mehr individuelle Freiheit und Macht in einem sich modernisierenden Westen. So durften deutsche Frauen im Januar 1919 zum ersten Mal wählen und waren laut Weimarer Verfassung zumindest auf dem Papier formal gleichberechtigt. Das bedeutete eine enorme Veränderung, wenn man bedenkt, dass Frauen in Deutschland bis 1908 von jeglichen politischen Aktivitäten ausgeschlossen gewesen waren und als das »schwache Geschlecht« in der deutschen Gesellschaft untergeordnete Positionen bekleideten, was die meisten Frauen als ganz natürlich betrachteten. Zwar waren die Frauen durch den Ersten Weltkrieg gezwungen gewesen, in die öffentliche Sphäre der kriegsbedingten Arbeit einzutreten - in Fabriken, Straßenbahnen und Ämtern -, doch in politischen Dingen verfügten sie nur über wenig Erfahrung, und die meisten Frauen bezeichneten sich gerne als unpolitisch. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie öffnete sich die politische Arena, die ihnen so lange verschlossen geblieben war, plötzlich für sie.
     Die Weimarer Republik erlebte eine wahre Explosion an bunt gemischten Bewegungen, Bürgerwehren und organisierten Parteien jeglicher Couleur. Allein in München gab es Anfang der 1920er Jahre 40 solcher Bewegungen, unter ihnen auch die noch junge NSDAP. Die meisten von ihnen bezeichneten sich selbst voller Stolz als »völkisch«, doch als »Volk« waren dabei allein die Deutschen gemeint. Diese Bewegungen waren allesamt zutiefst nationalistisch, fremdenfeindlich und antisemitisch. Sie strebten nach Einheit durch Rassismus, und Liberalismus und parlamentarische Demokratie lehnten sie ab, da diese einer imaginären germanischen Lebensweise, in der Frieden und Ordnung herrschten, vom Ausland aufgezwungen worden seien. Diejenigen, die das »Volk« verherrlichten, pflegten eine verklärte Sicht der Vergangenheit und priesen die Einheit von deutschem »Blut und Boden« sowie die stählerne Entschlossenheit des Kämpfers. Angesichts der Demütigung des besiegten Deutschland nach dem Krieg fielen die Mythen von einer nationalen Wiedergeburt und die Sehnsucht nach einem Retter, der die Ehre des Landes wiederherstellen sollte, vor allem bei der Jugend und bei der armen Landbevölkerung, die sich den zahlreichen Volksparteien anschlossen, auf fruchtbaren Boden.
     Die Rolle deutscher Frauen bei der Herausbildung rechter Bewegungen war vermutlich minimal. Die Männer waren nicht bereit, von ihrer traditionellen Vormachtstellung in der Politik zu lassen, Frauenfragen galten als nachgeordnet und gehörten definitiv nicht zu den nationalen Prioritäten. Ihre Stärke bezogen die völkischen Parteien der Weimarer Republik aus der Männerwelt der Kriegsfront und nicht aus der weiblichen Welt der Heimatfront. Besser repräsentiert waren die Frauen in den etablierten Parteien aus der Vorkriegszeit wie der katholischen Zentrumspartei und der Sozialdemokratischen Partei. Lediglich eine radikale, zumeist städtische Minderheit unterstützte die kommunistische Bewegung (an deren Spitze Rosa Luxemburg stand, die nach einem gescheiterten Aufstand in Berlin brutal ermordet wurde).
     Dem Feminismus mangelte es an einer engagierten Frauenbewegung, wie sie dann in den 1960er und 1970er Jahren entstand. Stattdessen tauchte die »Frauenfrage« in Politik, Kultur und Gesellschaft der Weimarer Republik in eher diffusen, widersprüchlichen Formen auf - beispielsweise in Gestalt organisierter Kampagnen zu so unterschiedlichen Fragen wie Prostitution, Empfängnisverhütung, sexueller Lust, Sozialreformen, Arbeitsbedingungen und der Hilfe für deutsche Flüchtlinge aus den Gebieten, die aufgrund des Versailler Vertrags verloren gegangen waren. Die Bewegung, die im Kampf um das Frauenstimmrecht zusammengefunden hatte, zerfiel nun in eine Fülle von Einzelkampagnen. Einige wie etwa diejenigen, denen es um sexuelle Befreiung und Experimente ging, waren auf explosive Weise innovativ; sie sorgten oft für heftige Kontroversen und brachten die Rechte ebenso in Rage, wie sie die Linke ermutigten.
     Frauenorganisationen bezeichneten sich selbst oft als unpolitisch, doch in Wirklichkeit war ihr Eintreten für Frauen- oder Familienwerte alles andere als Augenwischerei im nationalen Parlament. Diese Werte definierten auf höchst eindringliche, üblicherweise zutiefst umstrittene Art und Weise, was es hieß, deutsch zu sein. Die Frauenabteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft kämpfte schon seit langem gegen die »Rassenmischung« bei Auslandsdeutschen, und der Deutsche Hausfrauenbund brachte jungen Frauen bei, wie ein richtiger deutscher Haushalt aussah, einer, der heimisches Dienstpersonal ausbeutete, nur mit deutschen Gütern ausgestattet war und von einer stramm patriotischen Hausfrau mit blitzsauberer Schürze wissenschaftlich geführt wurde. Es gab auch gegenläufige Entwicklungen, etwa die Arbeit des Deutschen Bundes für Mutterschutz und Sexualreform, der unverheiratete Mütter unterstützte und Heime für alleinstehende Frauen und ihre Kinder unterhielt. Doch selbst diese radikale Bewegung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wies einen Kern von männlichen und weiblichen Medizinern auf, die sich zunehmend der »Rassenkunde« zuwandten, um eine Lösung für die sozialen Probleme zu finden, die Frauen betrafen.
     Die 1920er Jahre brachten dem deutschen Normalbürger eine Ausweitung individueller Freiheiten und ein größeres Maß an politischer Macht. Meinungsfreiheit, Freizeit, Mobilität, Handel, Zugang zum öffentlichen Dienst - all das gab es in größerer Fülle als je zuvor. Zugleich brachten der Rundfunk, Zeitschriften und das Automobil das Tempo der Stadt - und oft auch ihre Hektik - aufs Land. Wie sich freilich zeigte, war das mehr, als die meisten Deutschen wollten. Angesichts des Chaos und der Unsicherheit von Moderne und Demokratie sehnten sich immer mehr Menschen zurück nach Ordnung und Tradition. Konterrevolutionäre Bewegungen brachten die fragile Republik in Bedrängnis. Unzufriedene Patrioten und entmachtete Monarchisten weigerten sich, die deutsche Niederlage zu akzeptieren, und setzten ihre Grabenkämpfe unbeirrt fort, nunmehr auf den Straßen des Landes und gegen neue Feinde, nämlich das rote Gespenst des Kommunismus und die Weimarer »Novemberverbrecher«, die im November 1918 den Friedensvertrag unterzeichnet hatten und damit Deutschland von hinten »erdolcht« hätten. Die alte und die neue Rechte machten die Situation an der Heimatfront und nicht die auf den Schlachtfeldern für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich, und sinnbildlich für diese Heimatfront standen vor allem zwei Figuren: die deutsche Märtyrerin, gezeichnet von der alliierten Blockade, welche die Nahrungsmittelversorgung in Deutschland unterbrach, und »der Jude«, der üblicherweise wie ein kapitalistischer Schwindler oder ein Politiker gekleidet war. Solche Mythen und Vorurteile führten in der fragilen Republik zu einer politischen Polarisierung und zu dysfunktionalen Koalitionen. Blockaden wurden durchbrochen, indem man Neuwahlen ausrief. In Deutschland herrschten quasi ununterbrochen Wahlkampf und eine ermüdende politische Kultur des Agitprop mit ihrer seltsamen Mischung aus Massenwerbung und Druck, die die Menschen häufig an die Wahlurnen schickten. Zwischen 1919 und 1932 versuchten sich 21 verschiedene Koalitionen an einer Regierung.

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