Vorgeblättert

Leseprobe zu Victor Serge: Die große Ernüchterung. Teil 3

03.09.2012.
"Ich bin aus dem Dorf zurückgekommen, ah, Cholera!" Cholera mußte ihr Lieblingswort sein, sie sagte es ganz sanft, stieß dabei manchmal eine Rauchwolke aus, manchmal spuckte sie neben sich auf den Boden. "Die Pferde sind erledigt, Cholera! Was soll jetzt aus den Leuten werden? Erst haben sie die schönsten Tiere für das Kollektiv genommen; dann hat die Distriktskooperative für die Tiere, die den Bauern, den Widerspenstigen übrigblieben, das Futter verweigert … Es gab übrigens in Wirklichkeit kein Futter mehr, die Armee hatte die letzten Vorräte beschlagnahmt. Die alten Leute, die sich noch an die Hungersnöte von früher erinnerten, ließen die Tiere mit dem Stroh von den Dächern füttern, das vom Schnee ausgelaugt, unter der Sonne vertrocknet ist; ein Futter, bei dem die armen Tiere krepieren konnten! Cholera! Die Gäule mußten einem leid tun mit ihren flehenden Augen, ihren hängenden Zungen, den Rippen, die die Haut durchstießen, ganz wund waren sie, das kannst du mir glauben, die Gelenke geschwollen, einen Haufen Geschwüre am Bauch, am Rückgrat, mit Würmern drin, das wimmelte nur so im Eiter, im Blut, im bloßen Fleisch - sie sind bei lebendigem Leibe verwest, die armen Tiere - man mußte ihnen nachts Bauchgurte anlegen, um sie aufrecht zu halten, sonst hätten sie am Morgen nicht mehr die Kraft gehabt aufzustehen. Man ließ sie in den Höfen frei herumlaufen, sie leckten am Holz der Zäune, sie zerknabberten die Erde nach ein paar Halmen … Bei uns, weißt du, hängt man mehr am Pferd als am Kind. Kinder gibt's immer zuviel zu ernähren, die kommen, auch wenn man sie nicht will, die Kinder, oder glaubst du, daß mir was dran gelegen war, auf die Welt zu kommen? Pferde, davon hat man für die Feldarbeit nie genug; hat man ein Pferd, so haben die Kinder zu leben, ohne Pferd ist ein Mensch kein Mensch mehr, hab ich nicht recht? Es gibt kein Heim mehr, es gibt nichts mehr als den Hunger, es gibt nichts mehr als den Tod … Na, die Pferde waren erledigt, nichts zu machen. Die Alten setzten sich zusammen. Ich hockte in einer Ecke neben dem Ofen, auf dem Tisch stand eine kleine Lampe, und von Zeit zu Zeit mußte ich den Docht putzen, sie hat nämlich geraucht, die Lampe. Was sollte man tun, um die Pferde zu retten? Die Alten hatten keinen Ton mehr in der Kehle, das Leid hatte sie übermannt. Schließlich sagte mein Vater, und er sah schlimm genug aus, der Mund war ganz schwarz: 'Nichts mehr zu machen. Man muß die Pferde umbringen, dann leiden sie wenigstens nicht länger. Die Haut wird man immer noch verwenden können. Und wir, wir werden krepieren oder nicht, wie es Gott gefällt.' Da sagte keiner ein Wort mehr, es gab eine Stille, daß ich die Schaben unter den warmen Ziegeln des Ofens kriechen hören konnte. Der Alte stand schwerfällig auf. 'Ich gehe jetzt', sagte er und holte das Beil unter der Bank hervor. Meine Mutter warf sich auf ihn: 'Nikon, Nikonitsch, Erbarmen …' Der Alte sah selber erbarmungswürdig aus mit seinem Mördergesicht. 'Schweig, Frau', sagte er. Und zu mir: 'Komm, mein Kind, mach uns Licht.' Ich trug die Lampe. Der Stall war am anderen Ende des Hauses; wenn das Pferd sich in der Nacht bewegte, hörten wir es. Das war immer tröstlich gewesen. Das Pferd sah uns mit dem Licht eintreten, das arme Tier, es schaute uns an wie ein kranker Mensch, traurig, mit feuchten Augen, wandte kaum den Kopf, weil es überhaupt keine Kraft mehr hatte. Der Vater versteckte das Beil, denn das Tier hätte verstanden, das ist mal sicher. Der Vater näherte sich ihm, klopfte es. Und er sagte zu ihm: 'Du bist ein braves Tier, Brauner. Meine Schuld ist's nicht, daß du leiden mußtest. Gott verzeihe mir.' - Und er hatte das Wort noch nicht ausgesprochen, da hatte er dem Gaul schon den Schädel gespalten. 'Wasch das Beil', sagte mein Vater zu mir. 'Jetzt sind wir im Elend …' Was hab ich damals in der Nacht draußen geweint, denn man hätte mich geschlagen, wenn man mich im Haus weinen gesehen hätte; ich glaube, daß alle im Dorf sich versteckt hatten, um zu weinen …"
Romaschkin gab dem Mädchen noch fünfzig Kopeken. Sie wollte ihn auf den Mund küssen. "Du wirst sehen wie, Liebling", sagte sie, aber er sagte: "Nein, danke", er sagte es demütig und floh mit hängenden Schultern unter die schwarzen Bäume.
Alle Abende des Lebens glichen einander, waren gleich leer. Nach Büroschluß schlenderte Romaschkin, wie viele andere, von einer Kooperative zur anderen. Die Regale der Läden waren mit Schachteln gefüllt, auf die aber die Angestellten, um jedem Irrtum vorzubeugen, geschrieben hatten: Leere Schachteln. Immerhin zeigten graphische Darstellungen, wie die Kurve der Verkäufe von Woche zu Woche anstieg. Romaschkin kaufte gesalzene Schwämme und sicherte sich einen Platz in einer Schlange, in der die Leute auf Wurst warteten. Von einer verhältnismäßig gut beleuchteten Straße bog er in eine andere dunkle ein. Lichtreklamen, die unsichtbar waren, warfen einen hellen Schimmer auf das Ende dieser Straße. Plötzlich erfüllten glühende Stimmen das Dunkel. Romaschkin blieb stehen. Eine brutale Männerstimme verstummte in diesem Durcheinander, eine rasche, heftige Frauenstimme stieg auf, schmähte die Verräter, die Saboteure, Bestien mit Menschengesichtern, Agenten des Auslands, Gewürm. Die Beschimpfungen ergossen sich aus einem Lautsprecher ins Dunkel, der in einem leeren Büro vergessen worden war. Es war furchtbar, die Wut dieser Stimme ohne Gesicht, im Dunkel eines Büros, unter dem roten Licht am Ende der Straße. Eine heftige Kälte bemächtigte sich Romaschkins. Die Frauenstimme kreischte: "Im Namen von viertausend Arbeiterinnen …" In Romaschkins Hirn wiederholte das Echo passiv: Im Namen von viertausend Arbeiterinnen der Fabrik … Und so waren vier tausend Frauen jeden Alters - und darunter gab es ergreifende Gestalten, zu früh Gealterte, warum? Hübsche, Unzulängliche, kaum Erträumte - einen ungreifbaren Augenblick lang vor ihm gegenwärtig, und sie alle schrien: "Wir verlangen die Todesstrafe für diese feilen Hunde! Kein Erbarmen!" Ist es möglich, Frauen, erwiderte ihnen Romaschkin streng, kein Erbarmen? Wir alle, ihr und ich, bedürfen doch des Erbarmens so sehr! "Erschießen! " Die Versammlungen in den Fabriken dauerten während des Prozesses der Ingenieure an - oder der Nationalökonomen oder der Leiter der Versorgung oder der alten Bolschewiken; über wen saß man diesmal zu Gericht? Zwanzig Schritte weiter blieb Romaschkin abermals stehen; vor einem erhellten Fenster. Durch die Vorhänge sah er einen gedeckten Tisch, Tee, Teller, Hände, nichts als die Hände auf einer karierten Wachstuchdecke: eine große Hand, die eine Gabel hielt, eine graue, eingeschlafene Hand, eine Kinderhand. Ein Lautsprecher im Zimmer schleuderte auf diese Hände das Gebrüll der Versammlungen: Erschießen, erschießen, erschießen … Wen? Darauf kommt's nicht an. Warum?
Weil sich in Angst und Leiden überall ein unerklärlicher Triumph mischte, den die Zeitungen unablässig hinaustrompeteten.
"Guten Abend, Genosse Romaschkin, Sie wissen, daß Marfa und ihrem Mann die Pässe verweigert wurden, weil sie als selbständige Handwerker das Wahlrecht verloren haben. Sie wissen, daß der alte Bukin verhaftet wurde, er soll angeblich Dollar versteckt haben, die sein Bruder, ein Zahnarzt in Riga, ihm geschickt hatte … und der Ingenieur hat seine Stelle verloren, er ist der Sabotage verdächtig. Sie wissen, daß es eine neue Säuberung unter den Beamten geben wird, machen Sie sich darauf gefaßt, ich habe beim Hauskomitee sagen hören, daß Ihr Vater Offizier gewesen ist."
"Das ist nicht wahr", sagte Romaschkin mit erstickter Stimme, "er war nur während des imperialistischen Krieges Sergeant, er war eigentlich Buchhalter …" Aber dieser wohlgesinnte Buchhalter hatte der Vereinigung des Russischen Volkes angehört, und so hatte Romaschkin kein ganz ruhiges Gewissen.
"Sehen Sie zu, Zeugnisse aufzubringen, es heißt, daß die Kommissionen sehr streng sein werden … Es heißt, daß es Unruhen in der Smolensker Gegend geben soll; kein Getreide mehr…"
"Ich weiß, ich weiß … Spielen Sie eine Partie Dame mit mir, Piotr Petrowitsch …"
Der Nachbar trat bei Romaschkin ein und begann halblaut von seinem persönlichen Mißgeschick zu sprechen: Seine Frau, die in erster Ehe mit einem Kaufmann verheiratet gewesen war, lief Gefahr, ihren Paß für Moskau nicht erneuert zu erhalten. "Man gibt einem drei Tage Frist zum Abreisen, Genosse Romaschkin, mindestens hundert Kilometer weit; wird man dort aber einen Paß bekommen?" Und wenn es so war, könnte ihre Tochter natürlich doch nicht die Forsthochschule besuchen. Das Beil, vom Widerschein der Lampe vergoldet, fiel auf einen Pferdeschädel mit Menschenaugen herab, entfesselte Stimmen in rötlicher Finsternis verlangten Todesurteile, Menschenmassen füllten die Bahnhöfe, warteten, fast hoffnungslos, auf Züge, die auf dem Papier dorthin rollten, wo das letzte Getreide, das letzte Fleisch, die letzte Möglichkeit einer Schiebung waren; eine Dirne vom Boulevard Trubnoi warf sich bereitwillig auf eine Matratze, neben einem schlafenden Kind, das rosig war wie ein kleines Ferkelchen, rein wie ein kleines von Herodes todgeweihtes Wesen, und sie war teuer, die Dirne, fünf Rubel, einen Taglohn - ja, man müßte Zeugnisse aufbringen, um die Säuberung zu überstehen; wird der neue Miettarif in Kraft treten? Wenn in all dem nicht irgendein ungeheurer Fehler wäre, eine grenzenlose Schuld, ein verborgenes Verbrechen, so müßte wohl eine Art Wahnsinn über alle Köpfe hinwegwehen.
Nach der Partie verzog sich Piotr Petrowitsch, von Sorgen bedrängt: "Das Schlimmste, das Problem des Passes …" Romaschkin richtete sein Bett, zog sich aus, spülte den Mund, legte sich nieder. Die elektrische Lampe brannte neben dem Bett, die Decke war weiß, die Bilder stumm; zehn Uhr. Vor dem Einschlafen durchflog er aufmerksam die Zeitung des Tages. Das Gesicht des Chefs nahm darin ein Drittel der ersten Seite ein, wie zwei- oder dreimal wöchentlich, eingerahmt von einer Rede, die sieben Spalten füllte: Unsere wirtschaftlichen Errungenschaften … Erstaunlich! Wir sind das erwählte Volk, beglückt unter allen, beneidet von dem Westen, der Krisen, Arbeitslosigkeit, Klassenkämpfen, Kriegen ausgeliefert ist; unsere Wohlfahrt wächst von Tag zu Tag, die Löhne weisen, infolge des sozialistischen Wetteifers der Stoßbrigaden, eine Steigerung von 12 Prozent gegenüber dem vergangenen Jahr auf; es ist Zeit, sie zu stabilisieren, denn der Ertrag der Produktion hat sich nur um 11 Prozent gehoben. Wehe den Skeptikern, den Glaubensschwachen, denjenigen, die im tiefsten Herzen die Giftschlange der Opposition nähren! Das wurde in verschlungenen Perioden ausgedrückt, die mit 1, 2, 3, 4, 5 numeriert waren; numeriert waren auch die fünf - erfüllten - Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus, numeriert die sechs Gebote der Arbeit, numeriert die vier Gründe der historischen Gewißheit… Romaschkin wollte seinen Sinnen nicht glauben und prüfte mit scharfem Blick die zwölfprozentige Erhöhung der Löhne. Dieser Erhöhung der nominellen Löhne entsprach eine, gering gerechnet, dreifache Verminderung der tatsächlichen Löhne infolge der Entwertung des Papiergeldes und der Preissteigerungen … Doch bei dieser Gelegenheit machte der Chef in seiner Rede eine spöttische Bemerkung über die unehrlichen Spezialisten im Finanzkommissariat, denen eine exemplarische Strafe bevorstand. "Langanhaltender Beifall. Die Anwesenden erheben sich und jubeln dem Redner zu. Salven von Ausrufen: Es lebe unser unerschütterlicher Chef! Es lebe unser genialer Steuermann! Es lebe das Politbüro! Es lebe die Partei! Die Ovationen erneuerten sich immer wieder. Mehrere Stimmen: Es lebe die GPU. Donnernder Beifall."
Romaschkin dachte in seiner abgrundtiefen Traurigkeit: Wie er lügt! Und seine eigene Verwegenheit erschreckte ihn. Zum Glück konnte niemand ihn denken hören; das Zimmer war leer; jemand kam aus dem Abort, schlurfte in Pantoffeln über den Gang, ohne Zweifel der alte Schlem, der ein Darmleiden hat; eine Nähmaschine surrte leise; vor dem Schlafengehen zankte sich das Ehepaar auf der anderen Seite des Korridors, kurze Sätze pfiffen durch die Luft wie schmale Riemen. Man ahnte, daß der Mann die Frau zwickte, ihr mit langsamer Faust die Haare drehte, sie auf die Knie warf, um sie mit dem Handrücken über die Lip- pen zu schlagen. Der ganze Korridor wußte es, man hatte sie angezeigt, aber sie leugneten, sie waren verurteilt, jedes Geräusch zu vermeiden, wenn sie einander peinigten, so wie sie sich nachher mit den stummen Vorsichtsmaßnahmen vorsichtiger Tiere paarten. Und die Leute, die an der Tür horchten, erlauschten fast nichts, errieten aber alles.
Zweiundzwanzig Personen bewohnten die sechs Zimmer und den fensterlosen Verschlag am Ende des Korridors; alle im nächtlichen Schweigen an den leisesten Geräuschen erkennbar. Romaschkin löschte die Lampe aus. Das schwache Licht einer Straßenlaterne zeichnete durch die Vorhänge hindurch die gewohnten Gestalten auf die Zimmerdecke. Eintönig wechselten sie von einem Tag zum anderen. Das massive Profil des Chefs legte sich in diesem Halbschatten über die Konturen des Mannes, der lautlos im Nebenzimmer seine kniende Frau schlug. Würde sie denn niemals dieser Sklaverei entrinnen? Werden wir der Lüge entrinnen? Verantwortlich ist derjenige, der einem ganzen Volk ins Gesicht log, als ob er es schlagen würde. Die furchtbare Idee, die bis zu diesem Augenblick in den dunklen Bezirken eines Gewissens gereift war, das vor sich selbst Angst hatte, das tat, als wisse es nichts von sich, das sich alle Mühe gab, sich vor dem inneren Spiegel zu entstellen, enthüllte sich jetzt. So macht der Blitz in der Nacht eine Landschaft von Bäumen sichtbar, die sich am Rand von Abgründen krümmen. Romaschkin hatte das Gefühl, fast die Vision einer Erleuchtung. Er sah den Schuldigen. Eine durchscheinende Flamme erfüllte seine Seele. Er dachte nicht daran, daß diese Erkenntnis vielleicht eitel sein mochte. Von nun an würde sie ihn besitzen, sein Hirn, seine Augen, seine Schritte, seine Hände lenken. Mit offenen Augen schlief er, zwischen Begeisterung und Furcht schwebend, ein.
Manchmal morgens vor der Bürozeit, manchmal am Ende des Nachmittags, wenn er mit seiner Arbeit fertig war, ging Romaschkin auf den großen Markt. Viele tausend Menschen bildeten dort von Tagesanbruch bis in die Nacht eine stagnierende Masse, die völlig unbeweglich wirkte, so vorsichtig und geduldig vollzog sich jede Bewegung. Verstreute Farben, Gesichter, Gegenstände, alles verschmolz in dem einförmigen Grau des gestampften, schlammigen, niemals völlig getrockneten Bodens; die Not brannte hier jedem Geschöpf ihr zermalmendes Merkmal ein. Sie schaute aus den trotzigen Blicken der Weiber, die sich in Wolle oder Kattun hüllten, aus den erdfahlen Gesichtern der Soldaten, die keine richtigen Soldaten mehr sein durften, wenn sie auch noch Uniformteile aus der Zeit der Niederlage trugen, sie schaute aus dem verschlissenen Stoff der Mäntel, aus die erstaunliche Waren anboten: einen Samojedenhandschuh aus Rentierleder, mit roten und grünen Fransen besetzt und im Inneren gefüttert. "Weich wie Flaumfedern, Bürgerin, versuchen Sie doch, bitte!" Ein einziger Handschuh, die einzige Ware, die eine kleine kalmückische Diebin heute anzubieten hatte. Man konnte die Verkäufer kaum von den Kunden unterscheiden, die einen wie die anderen standen herum oder umkreisten einander mit langsamen Schritten.
"Eine Uhr, eine Uhr, eine gute Uhr, Marke Cyma, wollen Sie sie haben?" Die Cyma ging nicht länger als sieben Minuten. "Hör doch, wie gut sie geht, Bürger!" Sie ging just die Zeit, die der Verkäufer benötigte, um seine fünfzig Rubel einzukassieren und zu verschwinden. Ein Pullover, am Kragen abgeschabt, in der Taille geflickt, zehn Rubel, rein geschenkt! Nein, es ist nicht wahr, daß noch der ganze Schweiß eines Typhuskranken darin steckt, das ist der Geruch des Koffers, Bürger. "Tee, echter Karawanentee, Tschai, Tschai!" Der schielende Chinese summt unablässig diese zauberhaften Silben, sieht euch scharf an und geht weiter; wenn ihr verständnisvoll zwinkert, zieht er aus dem Ärmel halb sichtbar einen winzigen Würfel des einstigen Kusnetzowtees hervor mit der farbenprächtigen Packung. "Echter! Er kommt aus der Koop der GPU. " Verhöhnt er dich, dieser Chinese, oder ist sein Mund mit den grünlichen Zähnen so beschaffen, daß er zu höhnen scheint? Warum redet er von der GPU ? Gehört er vielleicht auch dazu? Komisch, daß man ihn nicht verhaftet, daß er alle Tage da ist! Aber die dreitausend Spekulanten und Spekulantinnen zwischen zehn und achtzig Jahren sind auch alle Tage, die Gott gegeben hat, da - ohne Zweifel, weil man sie nicht alle auf einmal verhaften kann und weil die Miliz Razzien veranstalten kann, soviel sie will, diese Menschen sind Legion. Zwischen ihnen streifen auch in flachen Kappen die Leute von der Polizei auf der Jagd nach ihrem Wild: Mörder, Entsprungene, Betrüger, gescheiterte Gegenrevolutionäre. Eine unerkennbare Organisation herrscht in diesem Menschengewimmel. Gebt acht auf eure Taschen, ja? Schüttelt euch gut, bevor ihr weggeht, ihr habt ganz gewiß Flöhe abgekriegt; hütet euch vor diesem Ungeziefer, das vom Land, aus den Gefängnissen, aus den Zügen, aus den Elendsvierteln Eurasiens kommt; es bringt den Typhus mit sich; ihr wißt, man erwischt sie auch vom Boden her, es gibt Lumpen beiderlei Geschlechts, die sie beim Gehen auf die Erde ausstreuen, und das verdammte kleine Vieh sucht auch seine Beute, es klettert euch an den Beinen hoch bis dorthin, wo es warm ist; sie sind schlau, diese Bestien. Nein, ihr glaubt wahrhaftig, daß ein Tag kommen wird, da der Mensch keine Flöhe mehr hat? Der wahre Sozialismus also mit Butter und Zucker für jedermann? Und vielleicht, zum Wohlgefallen der Menschen, süße, parfümierte, liebkosende Flöhe?

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Auszug mit freundlicher Genehmigung der edition Büchergilde
(Copyright Büchergilde Gutenberg)


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