Vorgeblättert

Leseprobe zu Vera Lourié: Briefe an Dich. Teil 2

03.02.2014.
Liebste,
     im Spätherbst 1921 kamen wir in Berlin an und wohnten zunächst in der Pension Steinplatz am damaligen Knie, dem heutigen Ernst-Reuter-Platz. Damals hatte mein Großvater noch etwas Geld, aber wir konnten dennoch nicht lange in der Pension wohnen, weil sie einfach zu teuer war. Ich erinnere mich, dass ich im Tattersall am Zoo Reitunterricht bei einem russischen Oberst nahm und einmal vom Pferd fiel!
     Gestern habe ich ausnahmsweise einmal ferngesehen. Es war sehr interessant, weil es eine Sendung über literarische Cafés in Berlin gab. Ich wurde an das Café Landgraf in den zwanziger Jahren in Berlin erinnert, in dem russisch-literarische Abende veranstaltet wurden.
     Bald als ich in Berlin ankam, ging ich nämlich in das Café Landgraf und hielt einen Vortrag über die Petrograder Dichter-Innung und über die "Tönende Muschel". Ich stand inmitten des Raumes und erzählte von der Arbeit und den Werken der russischen Dichter Petrograds, vom Haus der Künste, von Gumiljow, seiner Verhaftung und Ermordung und vom Tode und Begräbnis Alexander Bloks. Zum Abschluss trug ich einige meiner Gedichte vor, die ich noch in Russland geschrieben hatte. Dann geschah etwas Unglaubliches. Der berühmte russische Dichter Andrej Belyj, der in Russland etwa den Rang eines Thomas Mann hatte, stand auf und ging auf mich zu. Belyj war für mich eine unerreichbare Größe. Bereits in Petrograd las ich zwei seiner Romane: Die silberne Taube und Petersburg, der in rhythmischer Prosa geschrieben war und eine Prophezeiung des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution enthielt.
     Er sprach mich an und sagte mir, meine Gedichte hätten ihm gefallen, ich solle sie ihm bringen, denn er sei Redakteur des literarischen Teils der Zeitschrift Epopeja. Ich war sehr stolz.
     Abram Wischnjak, der später von den Nazis ermordet wurde, war der Verleger von Epopeja. Obwohl Andrej Belyj die Veröffentlichung meiner Gedichte angeregt hatte, endete mein Besuch bei Wischnjak mit einer großen Enttäuschung. Er sagte mir, meine Gedichte seien nicht gut genug und er könne sie in seiner Zeitschrift unmöglich drucken. Um mich zu trösten, wollte er mir eine Flasche Eau de Cologne schenken, die ich empört ablehnte. Du kannst Dir sicher vorstellen, wie beleidigt ich war. Mit 21 Jahren empfindet man es noch viel stärker als im Alter.
     Aber nun begann meine Freundschaft mit Belyj. Oft besuchte ich ihn, kochte Tee, stopfte seine Socken und glaubte, sehr in ihn verliebt zu sein. Heute denke ich, es war eher Verehrung für den berühmten Mann und Stolz, dass eine solche literarische Größe mir, der kleinen Dichterin Vera Lourié, den Hof machte und so viel Interesse an mir zeigte. Das alles hatte aber bei Belyj nicht viel zu bedeuten, denn er war auch in Mariechen, die Tochter eines Berliner Kneipenbesitzers, verliebt, wie ich erst später erfuhr.
     Belyj war menschlich eher schwierig, sehr egozentrisch und liebte im Grunde nur sich selbst. So was muss man aber wohl bei einem genialen Menschen in Kauf nehmen, und Andrej Belyj war ein Genie.
     Damals schrieb er an seinen Erinnerungen an Alexander Blok, mit dem er in seiner Jugend eng befreundet war, bevor es wegen einer Liebesromanze zwischen Belyj und Bloks Frau zum Zerwürfnis kam. Während meiner Besuche las Belyj mir aus seinen Erinnerungen vor. Außerdem schrieb er damals das Buch Glossolalija, ein wissenschaftliches Werk, das sich mit der Verbindung von Worten, Rhythmen und Lauten beschäftigt. Es war sehr kompliziert und für mich fast unverständlich. Er erklärte es mir aber, so dass ich in der Zeitung Dni sogar eine Kritik veröffentlichen konnte. In diesen Tagen überarbeitete Belyj auch seinen Roman Petersburg und kürzte ihn.
     Belyj hatte eine Glatze, die von grauen Haaren umrahmt war, eine sogenannte Spielwiese. Zu Hause trug er gewöhnlich eine Jarmulke auf dem Kopf, eine schwarze Stoffmütze, die gläubige Ostjuden im alten Russland zu tragen pflegten. Das Auffallendste an seinem Äußeren waren seine Augen. Sie waren grünlich und schmal, saßen tief in den Augenhöhlen und leuchteten gleichsam von innen heraus. Anfangs wohnte Belyj in der Passauer Straße, direkt gegenüber vom KaDeWe, dann zog er in eine Pension am Viktoria-Luise-Platz, wo sich ein großes Café befand, in dem man tanzen konnte. Gelegentlich verbrachten wir dort die Abende. Belyj trug einen langen, schwarzen Gehrock und statt einer Krawatte eine schwarze, seidene Schleife. Wir tanzten zu den Rhythmen von One-Step und Shimmy einen von ihm selbst erfundenen Tanz, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Modetänzen hatte, das Publikum aber so begeisterte, dass ich Blumen geschenkt bekam.
     Belyj war schnell der Großstadt Berlin überdrüssig. Eines Tages fuhr er Hals über Kopf nach Zossen, ein kleines Städtchen südlich von Berlin. Einige Male besuchte ich ihn dort. Man musste eine gute Stunde mit dem Dampfzug fahren und dann einen langen Weg durch ein Feld gehen, bevor man zu dem Haus kam, in dem er lebte. Es war ein kleines, graues Haus mit einer ebenso grauen Wirtin. Belyj bewohnte ein großes, dunkles Zimmer und arbeitete.
     Dann lebte er eine gewisse Zeit in Swinemünde an der Ostsee, wo auch meine Familie auf meine Bitte hin ein paar Wochen verbrachte.(23) Wir wohnten in einer privaten Villa, in der ein junges Stubenmädchen arbeitete, das mir eines Tages erzählte, sie werde abends auf einen Matrosenball gehen. Mich interessierten die menschliche Psyche und das Schicksal der Menschen sehr, und ich wollte gern etwas über das Leben der Matrosen erfahren. Also begleitete ich sie, nicht ohne zuvor von meinem Großvater mit einem Augenzwinkern ermahnt zu werden, nur nicht etwa einen Matrosen mit nach Hause zu bringen. Es wurde ein interessanter Abend, der aber mit einer kleinen Enttäuschung endete.
     Ein junger Matrose, der mit mir getanzt hatte, sagte zu mir: "Fräulein, Sie passen überhaupt nicht hierher."
     Ein weiterer Abend in Swinemünde(24) blieb fest in meinem Gedächtnis. Belyj konnte grausam sein. In einem Café, in dem das Kurpublikum von einem Conferencier, dem Eintänzer Fred und kleineren Varieténummern unterhalten wurde, trat ein Zauberer auf, der Zahlenkunststücke aufführte. Plötzlich stand Belyj auf und entlarvte den armen Mann, indem er ihm mathematisch nachwies, dass seine Kunststücke purer Betrug waren.
Belyj gehörte der anthroposophischen Bewegung an, was auf den Einfluss seiner geschiedenen Frau Asja Turgenjewa, die eine entschiedene Anhängerin Rudolf Steiners war, zurückging. Asja Turgenjewa kam dann auch nach Berlin und hatte dort ein Liebesverhältnis mit dem Dichter Alexander Kussikow, der ein Freund Sergej Jessenins war, aber selbst nur bescheidene literarische Talente besaß. Dieses Verhältnis bedrückte Belyj sehr.
     Als ich ihn eines Tages in seiner Pension in Berlin besuchte, fand ich ihn in einem verzweifelten Zustand vor. Er erzählte mir, die Kuppel des Tempels der Anthroposophen, des Goetheanums in Dornach, sei ausgebrannt. Da sich sein Kopf dort in der Kuppel befände, müsse er jetzt sterben oder zumindest schwer erkranken. Belyj hatte an der Kuppel mitgebaut und daher ein sehr intensives Verhältnis zu dem Goetheanum. Natürlich starb er nicht und wurde auch nicht krank.
     Belyj trank sehr viel Alkohol, aber nie habe ich ihn sehr betrunken gesehen. Ich habe wohl, wenn ich zurückdenke, nicht so sehr die Abende, sondern verlängerte Nachmittage mit ihm verbracht. Als die Anthroposophin Wassiljewa aus Moskau nach Berlin kam, um Belyj zur Rückkehr in die Sowjetunion zu überreden, besuchte ich ihn noch gelegentlich, aber unsere Freundschaft hatte einen Riss bekommen. Wassiljewa sah sehr russisch aus, bescheiden bekleidet, und hatte ein angenehmes, wenngleich nicht markantes Gesicht. Sie übte einen großen Einfluss auf Belyj aus, und er entsprach nicht nur ihrem Wunsch, in die Sowjetunion zurückzukehren, sondern heiratete sie später auch.
     Meine letzte Erinnerung an ihn. Bahnhof Zoo. Belyj verlässt Berlin. Viele seiner Freunde und Bekannten, auch ich, begleiteten ihn zum Zug. Der Zug fährt ab, und der winkende Belyj verschwindet allmählich aus der Sicht. Verschwindet für mich für immer. Es war traurig, wieder war eine wichtige Lebensetappe zu Ende gegangen.(25)
     Liebste, am Telefon Deine Stimme gehört. Es war kurz, ich dachte, es ist so ähnlich, wenn man auf dem Bahnsteig steht und jemanden begleitet, den man so unendlich liebt, er fährt für eine längere Zeit weg. Gleich fährt der Zug ab, man kann ihn nicht halten. Man möchte noch so viel sagen, man sagt kein Wort. Gleich verschwindet das Gesicht aus den Augen, gleich verschwindet die Stimme aus dem Hörer … Gleich werde ich mich in den Hof setzen, die Nachbarinnen werden ununterbrochen erzählen, sie werden stören, aber ich muss aus der Wohnung, das Telefon erinnert mich zu sehr an Dich.
Vera

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(23) Alexander Bachrach und Marina Zwetajewa: "Andrej Belyj in Berlin. Mit Gedichten aus dem Berliner Liederzyklus", Kontinent Nr. 3/1978, S. 157-209. Bachrach schildert dort, dass Belyj in Swinemünde Vera Lourié keines Blickes würdigte: "Nebenbei bemerkt war auch Vera Lurje in Swinemünde, bereit, ihre 'Seele' für Belyj hinzugeben, aber diesem bereitete es offenbar ein sadistisches Vergnügen, sie zu ignorieren. Er grüßte sie nicht und tat ganz bewusst so, als ob sie nicht existiere." Ebd., S. 179.
(24) "Swinemünde" heißt auch ein russisches Gedicht von Vera Lourié, VL-Archiv Sign. 84, Bl. 5, Broschüre "Pamir", S. 143.
(25) Nina Berberova: Kursiv moj, dt.: Ich komme aus St. Petersburg, Düsseldorf 1990, S. 199 f.: "Chodassewitsch und ich waren zu Hause, immer noch in der Pension Krampe, als Vera Lurie, eine gemeinsame Freundin von Bely und uns, gegen Abend direkt vom Bahnhof Zoo, wohin sie Bely begleitet hatte, zu uns kam. Im letzten Moment war er plötzlich aus dem Zug gesprungen und hatte vor sich hin gemurmelt: 'Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt!' Das erinnerte mich an die Szene in den 'Dämonen' von Dostojewski, als Werchowenski zu Kirillow ins Zimmer kommt, der in einer dunklen Ecke vor sich hin spricht: 'Jetzt, jetzt, jetzt.' Der Schaffner zog Bely dann wieder in den schon fahrenden Zug hinein. Er versuchte, noch etwas zu rufen, aber man konnte schon nichts mehr verstehen. Ich erinnere mich nicht, ob Klawdija Wassiljewa bei ihm war, dann saß sie in diesem Moment sicher am Fenster des Waggons und las ungerührt in irgendeinem dicken Buch. Bely war weg. Berlin wurde leer, das russische Berlin, das andere kannte ich nicht."

zu Teil 3