Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulf Erdmann Ziegler: Hamburger Hochbahn. Teil 1

08.03.2007.
Misurra


Der lange Nachmittag über dem weißen Land hatte ihn seinem Ziel nahe gebracht, nichts zu denken, während sie, die jetzt ihre Kladden bündelte und in einem speckigen Leinen­rucksack verschwinden ließ, erst im Sinkflug über New Jer­­sey von Hamburg Abschied nahm. Ihre Rippen gedrückt in die Armlehne, hatte sie sich so weit zu ihm hinübergebeugt, wie der Gurt es erlaubte, während das Flugzeug eine Schleife zog. Die Sicht zunächst blockiert durch den Flügel, beginnend im Norden, erschien die Silhouette Manhattans Stück für Stück im metallischen Licht eines frühen Januarabends. "Wo waren sie denn?" fragte Elise, kurz bevor der Radblock auf die Piste schlug.
Gefangen zu Hunderten in Fluren, die sich bei Alarm verwandeln würden in Fallen, fiel ihn Trübnis an, ein Zweifel, ob es richtig gewesen war, Elise nach Amerika zu folgen um eines Abenteuers willen. Dann, bei Dunkelheit, in einer Röhre von Flugzeug mit wenigen Passagieren unterwegs nach Westen, die Ledersessel geschmeidig, Elise jenseits des Gangs vergraben in die Januarausgabe von "Artforum", war es wieder da: Das wohlige Einverständnis mit der Institution der Vereinigten Staaten. Das patriarchale Räuspern des Flugkapitäns über die Anlage, bevor er sprach, und das Sportgeplapper der Männer mit ihren mißratenen Frisuren, und der Teppich der Bundesländer, deren Namen er kannte: New Jersey, Pennsylvania, Ohio. Einen Arm über dem Kopf, schirmte er sein Fernglas ab gegen Lichter aus der Kabine, um die Anlagen dort unten zu entschlüsseln, teils Firmen, teils Farmen.
Oh-hai-oh, noch ein Vierteljahrhundert später klang der Name in seinen Ohren wie der Ruf der Landleute, die ihn damals aufgenommen hatten, einfach so, ein Junge aus Deutschland. Keiner wollte wissen, was er dachte, außer über Amerika, und keine Frage, Amerika war gut, denn es war gut zu ihm, zwischen der Farm des einen Onkels, der Sägerei des anderen und der Tierarztpraxis des Gastvaters; den kleinen und großen Transporten, den Ernten, der Footballsaison. Schule, Arbeit, Essen, Fernsehen, Kirche und Führerschein, da war das Jahr schon um, und damit er, er hieß dort Tom, es nicht vergaß, verwirrte ihn die ältere der Schwestern, selbst fast noch ein Kind, drei Wochen vor dem Abschied mit heimlichen Zärtlichkeiten. Als er zurückgekehrt war nach Lüneburg, war sein Deutsch mühevoll und schwer geworden, gezeichnet vom Alltag nördlich und südlich der Main Street. Das Gitter, in das die Lichter von Ohio gezeichnet waren, betrachtete er mit Genug­tuung, als hätte er es selbst erfunden.
Elise bemerkte, wie er mit dem Fernglas in dem Plastikfensterchen hing, und sie lächelte. Aber als Thomas, ermüdet von den ausgedünnten Lebenszeichen Indianas, zu ihr hinübersah, war sie schon wieder versunken in dem Ma­gazin, dessen Seiten sie mit einem Krachen umschlug, als müßte es physisch gezwungen werden, seine Informationen preiszugeben.
Das nächste große Lichtfeld war schon East St. Louis, durch eine schwarze Furche, die nur der Mississippi sein konnte, getrennt von der Stadt, die das Ziel war. Elise war auf seine Seite gewechselt, das Magazin in der Hand. So bestimmt hielt das gedrungene Flugzeug auf Downtown zu, daß Saarinens Bogen, quer vor das Panorama der Stadt gestellt, nur vom Cockpit aus zu sehen war. Plötzlich drehte der Jet nach Norden ab und kehrte dabei Thomas? Fenster dem schwarzen Himmel zu. Als es die Richtung und mit der Richtung noch einmal die Schräglage wechselte, zeigten sich riesige dunkle Wasserwege, zu denen der Flugkörper herabsank.
"Wie Heraklion", sagte er.
"Hongkong", sagte sie.
Ihre ersten Einladungen, nach Glasgow und nach Istanbul, hatte sie mit Baedekers und Lonely-Planet-Büchern vorbereitet. Später, als die Anfragen häufiger wurden, die Erwartungen höher, die Mittel knapper, hatte sie beschlossen, alle ihre Kräfte in die Vorbereitung dessen zu stecken, was die Verlegung eines Ateliers mit sich bringt. In der maßgetischlerten Kiste, die Kevin, der Autoverleiher persönlich, in den Kofferraum des Chrysler Neon hievte, fand sich der komplette Satz an Werkzeug, ergänzt durch fünf Skizzenblocks im Format A2, Blei- und Kohlestifte, Klebstoffe, Schrauben und Nägel, sowie ein zerlegter Hocker. Sie versank im Rücksitz des silbernen Autos, dessen Karos­serie die Insassen verschluckte wie ein Sportwagen, während es, wie man spürte, sobald es sich bewegte, nichts anderes war als ein Mittelklassefahrzeug, das nach fünf Dienstjahren anfing, in den Angeln und Achsen zu stöhnen. Der Motor quälte sich mit dem Gewicht des Wagens und seiner Fracht. Als Kevin ausstieg, blieb Elise hinten sitzen.
Eine zweite Entscheidung war gewesen, keine Vorfreude aufkommen zu lassen, nichts, was enttäuscht werden konnte. Wie viele ihrer Künstlerkollegen verschwendeten ihre Kraft darauf, sich über ihre Hotels zu beklagen, die beste Bar zu suchen, sich voreinander wichtig zu tun. Jedesmal, wenn sie ins Flugzeug kroch, spannte sie sich wie eine Feder, und erst wenn sie Boden unter den Füßen hatte, ließ sie los. Das Bild, das sie leitete, waren die asiatischen Tuschezeichner, deren Technik keine Korrektur erlaubt. Das weiße Blatt war sie selbst.
Die drei Wohntürme sahen stolz aus, wie sie mit Dutzenden von Dominoaugen das gewaltige dunkle Gestrüpp des Stadtparks fixierten, von dem sie durch den sechsspurigen Skinker Boulevard getrennt wurden. Thomas mußte eine Kolonne von Fahrzeugen im Gegenverkehr abwarten, bis er in die geschwungene Auffahrt der Dorchester Apartments einbiegen konnte, deren Pflaster und Gebüsch dramatisch erleuchtet waren. Im Halbrund warteten tonnenschwere Automobile, von ihren Besitzern abgestellt, um vom Garagenwart hinter das Gebäude gefahren und im Kellergeschoß versteckt zu werden. Das erste war eines der hochbeinigen Monsterfahrzeuge, das Thomas als Kreuzung aus Pick-up-Truck und Familienbus ausmachte; das zweite ein viertüriger, gestreckter Mercedes aus den achtziger Jahren; das dritte ein schwarzer Lincoln Continental mit dunklen Scheiben. Der Mercedes und der Lincoln trugen kleine amerikanische Flaggen, die mittels eines Plastikarms jeweils im hinteren linken Fenster festgeklemmt waren, als wäre der Fahnenschwenker im Rücksitz von einem hochfahrenden Glas überrascht worden.
Die Wohnung im sechsten Stock der Dorchester Apartments war von der Eingangstür bis zu den Türschwellen der Kleiderkammern ausgelegt mit einem hellen Teppichflor, der unter den Schritten nachgab. Die schwere Platte eines Couchtischs fing die Lichter über dem Park auf und spiegelte sie in das große Wohnzimmer. Die Klosetts waren gewaltige Wasserbehälter, klinische Jauchegruben, die spiralförmig abgesaugt wurden. Der Kühlschrank, übermannshoch, brummte gewaltig, wenn er arbeitete. Die Heizkörper, sich erwärmend, ächzten leise; daneben hatte man - offenbar nicht Teil des ursprünglichen Entwurfs - die Wände aufgebrochen, um die Kästen der Klimaanlagen zu installieren. Untätig schaufelten sie den Motorenlärm des Boulevards in den sechsten Stock wie Lautsprecher ­alter Grammophone.
Auf dem Glastisch waren zu liegen gekommen: Die Rand-McNally-Karte der Vereinigten Staaten, das Fernglas, der Kompaß in seiner metallenen Einfassung. Thomas hatte sich in die Couch fallen lassen und folgte den Lichtern der Autos an der Decke.
"Major Tom?"
"Hm."
"Es ist nichts im Kühlschrank."
Fred, laut Namensschild an seiner Uniform, hätte mit seinen zur Starre neigenden Glubschaugen, zu Pölsterchen geronnenen Tränensäcken und dem makellos gezogenen Scheitel im festen grauen Haar als Portier im Hamburger Rathaus um neunzehnhundert durchgehen können. Auf seinem ausladenden Pförtnertresen in rötlichem Holz waren drei Exemplare der "New York Times" und eine Ausgabe des "Wall Street Journal" liegengeblieben, die Namen der Abonnenten in winziger Schrift am Rand der Titelseite aufgeklebt. Aus einem unsichtbaren Radio säuselte ein populäres Orchesterwerk.
"Also sind Sie Professor Katz?"
"Nein, das ist meine Frau, wenn Sie sie so nennen wollen."
"Ihre Frau hat Sie begleitet?"
"Nein, ich habe meine Frau begleitet."
"Mr. Katz?"
"Nein, Tom Schwarz."
Freds Blick verdunkelte sich.
"Sagen Sie, Fred, wo ist hier der nächste Supermarkt?"
Von zwei Schlafzimmern bot das kleinere ein Bett für anderthalb Personen, einen altenglischen Sessel in Hellgelb und die auf antik getrimmte Miniatur eines Sekretärs. Das größere war eingerichtet für die Gewohnheiten und Garderoben eines Paares, mit zwei aneinandergerückten Betten vor einer marmornen Stirnwand. Das Prunkstück dort war eine symmetrisch gebaute Kommode mit acht schweren Schubladen, deren hölzerne Griffe golden gestrichen waren und sich im geschlossenen Zustand mit einem goldenen Widerpart zu heraldischen Symbolen fügten. Elise leerte ihren Koffer und verstaute ihn in der Kammer neben der Tür, in der frühere Gäste Jacken und Kartons hinterlassen hatten. Ein gelber Schalenkoffer trug den Namen einer ­brasilianischen Malerin, die Elise flüchtig kannte. Daß er schwer nach Medikamenten roch, schien ihr ein guter Grund, ihn zu öffnen. Es war eine kleine Aquarellwerkstatt. Sie nahm die Arzneischachteln heraus und warf sie in den Abfalleimer der Küche.
Von den zwei Bädern, die der Hausservice mit schweren, weißen Frotteehandtüchern ausgestattet hatte, nahm sie eines. Sie ging in das kleine Zimmer, warf ihre Kleidung auf die Tagesdecke des Betts und kehrte ins Bad zurück. Der Spiegel zeichnete ihre Büste hell erleuchtet. Sie sah sich an; aufrecht, muskulös wie eine Schwimmerin, Spuren von ­Silber im Haarkranz. Die Müdigkeit unter den Augen war nicht nur die der Reise. Die letzten Monate hatten einer Notbremsung geglichen, die all die Gewichte offenbart, die man mit sich führt. Das Datum des elften Septembers war zu einem Paßwort geworden, von guten Geistern gebraucht, um durch die Wand zu verschwinden. Ein Londoner Lehrer hatte einmal gesagt: Wenn es prima läuft, sind alle Künstler. Wenn es bröckelt, gibt die dritte Liga auf, und die zweite macht Kompromisse. Wenn es schlechtgeht, zeigt sich, wer übrigbleibt. Ein Beispiel war der Lehrer selbst gewesen: Er hatte Kompromisse gemacht.
Sie betastete ihre Brüste; nichts Böses. Sie legte zwei Ringe ab, ein silbernes Halsband, bürstete sich die Haare nach oben, zog die Schultern gerade. Sie lachte über das Bild im Spiegel, und das Bild lachte zurück. Sie erlaubte sich keine Furcht.
Thomas, als er in Schrittgeschwindigkeit das Auto vom Parkplatz auf die Anliegerstraße schwenkte und an der Ampel zum Boulevard anhielt, dachte an seine Fahrstunden, vor fünfundzwanzig Jahren, als letzte Übung darin, sich Amerika anzunähern. Die Gemächlichkeit des Straßenverkehrs repräsentierte die Vorstellung einer anderen Zeit. Wer ein Sechszylinderauto mit vierzig Kilometern durch eine leere Vorstadtstraße steuern konnte, hatte die Wandlung vollzogen. Sein Führerschein aus Ohio lautete auf seinen amerikanischen Namen. Er beschleunigte vorsichtig bei Grün. Er war unterwegs. Er war dabei, sich zurückzuverwandeln in Tom Schwarz.

Leseprobe Teil 2

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