Vorgeblättert

Leseprobe zu Tom Bullough: Die Mechanik des Himmels. Teil 1

23.01.2012.
Mai 1868

Die Stadt, die aus dem Schnee auftauchte, war klein und verfallen: eine Stadt nur dem Namen nach. Sechs Monate Ruß hatten die Wände und Dächer aller Gebäude verkrus­tet: die des Gymnasiums, der Bibliothek, des Gefängnisses, der F.-Weretennikow-Bank, des P.-Klobukow-Kaufhauses und der Färberei, die Stanislaw Ignatjewitsch gehörte, und des Instituts für Technologie und Landwirtschaft, wo Edu­ard Ignatjewitsch Mathematik und Naturkunde lehrte. Die zerfurchten Straßen stanken nach Exkrementen von Men­schen, Hunden und Pferden, sodass sogar die Bauern mit Tüchern vor ihren von der Sonne geröteten Gesichtern herumgingen. Hufen und Räder schleuderten regelrechte Schlammwogen gegen die Holzhäuser, welche das Stadtzen­trum säumten, und in diesen öden, nördlichen Regionen, wo die Saison kaum viereinhalb Monate dauerte, fanden nur wenige Leute Zeit, ihre Giebel und Fenster zu säubern, die eigentlich rot, grün, blau, gelb, zierlich und anspre­chend sein mochten.
     Nur die Kirchen erhoben sich über den Schmutz. Wäh­rend er seiner Mutter durch die Feiertagsmenge folgte, pas­sierte Kostja die Zar-Konstantin-Kirche, die Pokrowski- Kirche, die Piatnitski-Kirche, die Kirche der heiligen Verklärung - ihre fahlen Türme undeutlich im dünnen Mairegen. Er ging an der Spasski-Kathedrale, an der Wieder­auferstehungskathedrale und, als größter von allen, an der Dreifaltigkeitskathedrale vorbei, deren Kuppel den Himmel widerzuspiegeln schien. Hier war es, so hatte seine Mutter ihm erzählt, wo die Priester die wundertätige Ikone des hei­ligen Nikolaus hüteten - von Gott offenbart im Dorf Weliko­retski, weit im Norden, wohin sie jedes Jahr in einer in ganz Russland berühmten Prozession zurückgebracht wurde. Die beiden pausierten vor ihren schneeweißen Mauern, ihren luftigen Fenstern und ihren Stuckfächern. Sie bekreuzigten sich, bevor sie sich zum Fluss wandten.


Auf der Pontonbrücke über der Wjatka funkelte der Regen in den verbogenen Brettern, den wackeligen Geländern, den Bärten, den Umhängen, an der Belegschaft, der Meute, den an Halftern geführten Kälbern und Schafen, deren Schreie wie Befehle über den freudigen, abgerissenen Stimmen schallten. Er ließ Geruchswolken aus Rauch, Schweiß und, schwächer, aus dem Weihrauch der Kathedrale aufsteigen. Er ließ die Prozession unteilbar erscheinen: ein einziger, graubrauner Körper, der sich aus der Stadt über den Fluss in die breite Flussniederung zog.
     In Dimkowo blickte Kostja an den fallenden Blättern der Birken vorbei auf die Lochmusterverzierungen an den klei­nen Einzimmerhäusern gleich über den Ställen, wo mitunter noch das ein oder andere Pferd sich vor den Schmeißfl iegen in Sicherheit brachte. Er sah eine kopfl astige Windmühle mit einer langen, an einer Seite hervorstehenden Stange, sodass der Müller die Flügel in den Wind drehen konnte. Er sah Felder, die in Streifen aufgeteilt waren, ein Drittel dicht be­setzt mit den kurzen grünen Speeren von Weizen und Flachs, ein Drittel brach und blau von Kornblumen und gelb von Rainfarn, ein Drittel bloßer nackter Lehm, über den die wenigen Bauern, die nicht in der Prozession mitgingen, Pflugscharen zogen, die kaum länger als ihre Finger waren - die Rippen ihrer Pferde zeichneten sich auf der gespannten nassen Haut ab.
     Im Wald versuchten Männer, ihre Stöcke und Krücken vom klebrigen Matsch zu befreien. Alte Frauen schlurften mit gebeugten Rücken und schritten schwerfällig über die schwarzen, knorrigen Wurzeln, die aus dem ausgetretenen Boden ragten, und über die Bäume, die dort auf dem Weg lagen, wo er sich breit wie ein Fluss an den Birkensetzlingen und den Weidenbüschen teilte, die im seltenen Licht aufge­schossen waren. Wo der Weg eng war, lehnten abgeknickte Bäume zwischen der dunklen Wand des Waldes aneinander, sodass nur jeweils eine Person unter ihnen passieren konnte und die wartende Menge unter dem Anflug von noch mehr Mücken und Moskitos litt, als sie selbst zählte.
     Sie hatten gerade das Dorf Kisela verlassen, als Maria Iwa­nowna vom Pfad abwich und in das dünne Gras unter einer krummen Esche sank, das Gesicht verzog und die Arme um ihre Taille schlang. Sie gab Kostja ein Zeichen, indem sie ihre flache rechte Hand einige Male sinken ließ, was in der Zei­chensprache, die sich über die Jahre zwischen ihnen entwi­ckelt hatte, entweder "Setz dich" oder "Langsamer" oder bisweilen auch "Nein" bedeuten konnte. Unter ihrem rot­goldenen Kopftuch atmete Maria Iwanowna heftig - die Augen geschlossen, das Gesicht so angespannt, dass die Kno­chen in ihre farblosen Wangen hätten geschnitzt sein kön­nen. Zwischen den Falten ihres Gummiumhangs war eine dunkle graue Linie auf ihrem grauen Wollkleid, die sich über der Wölbung ihres Bauches verzweigte. Sie musste wie­der eine Geste machen, bevor Kostja ein Zelt aus seinem eige­nen Umhang formte, damit ihre Köpfe bedeckte und sich in ihren Arm kuschelte.
     Er spürte, wie sie langsam, sehr langsam atmete, sah, wie die Entschlossenheit in ihr Gesicht zurückkehrte, doch es vergingen noch mehrere Minuten, bis sie wieder ihre Augen öffnete. Sie zog ihm die Stiefel aus, wrang seine klumpigen Wollsocken aus und vertauschte sie auf seinen Füßen, so­dass sie nicht so stark scheuerten. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte presste sie ihre Hände auf den Boden, und Kostja folgte ihrem Blick durch den Vorhang aus Wasser an den weißen, schlammverdreckten Kleidern einer Gruppe gebür­tiger Finnen vorbei hin zu einer Frau mit einem graubraunen Kopftuch, die einen Mann mit verkümmerten Beinen auf einem kleinen Holzkarren zog - Dampf stieg kaum sichtbar von der Achse hoch.


Am Abend in Bobino war Kostja dann müde, verfroren und hungrig und humpelte, weil seine Füße den ganzen Tag lang nass gewesen waren. Er war jetzt dran, das Bündel zu tragen, und er stapfte zwei Schritte hinter seiner Mutter her, die selbst mit hängendem Kopf und den Armen um den Bauch marschierte, welcher nur an der Schwere ihres Gangs erahn­bar war. Er widmete den Baracken keine Aufmerksamkeit, die den langen Mittelweg säumten und deren Fenster sich voller Scham unter ihren struppigen Dächern zu verstecken schienen. Einige der anderen Pilger hatten Äste aus dem Wald hinter sich hergezogen, und die kühle Luft wehte Schwaden von Haferbrei, Eiern, Kohl und harzigem Rauch herüber. Unter den langen, verschlungenen Schatten eines Obstgartens fanden sie ein Stück Gras in der Menschen­menge, traten ein paar Schafsköttel zur Seite und breiteten einen Umhang auf dem feuchten Boden aus.
     "Kostja?", sagte Maria Iwanowna schließlich.
     Kostja setzte sich neben sie, aber er sah die Apfelbäume an, deren Stämme schwarz und zur niedrigen Sonne hin ge­krümmt waren, die Blüten vom selben durchscheinenden Rosa wie der Himmel.
     "Kostja?", wiederholte seine Mutter. Sie sprach ihm direkt ins Ohr. "Ich weiß, was du denkst, aber es geht mir gut! Wirklich! Und ich weiß, was dein Vater gesagt hat, aber er liegt falsch, Kostja! Ich liebe ihn sehr, aber er ist ein schreck­licher alter Zyniker, und das tut ihm auch gut! Sieh dir all diese Leute an! Sieh sie dir an! Es heißt, dass dieses Jahr zwanzigtausend von uns nach Welikoretski ziehen. Das ist so viel wie die gesamte Bevölkerung von Rjasan! Das sind sogar dreimal mehr Leute, als in ganz Wjatka wohnen, also bedenke, wie weit sie wohl gewandert sein müssen, um hier zu sein! Wie können diese Leute alle falschliegen, Kostja? Wie? Geh im Glauben und mit Aufrichtigkeit, und Gott wird dir helfen! Du wirst schon sehen!"
     Kostja nahm die Prozession in den Blick, die sich noch im­mer durch das Dorf quälte: von der Seite beschienene Gestal­ten in unendlicher Vielfalt, erschöpft und verdreckt wie sie selbst. Er beobachtete einen alten Mann, der barfuß lief und dessen Schaffelljacke mit groben Flicken übersät war, und zum ersten Mal in seinem Leben fragte er sich, wie er selbst wohl in fünf, in fünfzehn, in fünfzig Jahren sein würde.
     "Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich mir Sorgen um dich mache", fuhr seine Mutter fort, "aber ich kann nicht anders, kleiner Vogel! Ich bin deine Mutter, und du bist mein Sohn, und ich würde alles tun, um dir zu helfen. Alles!"
     Später, in der schimmernden Dunkelheit, als die Sonne hinter dem gezackten Wald gesunken war und der Himmel sich golden wie die große Kuppeldecke der Dreifaltigkeits­kathedrale gefärbt hatte, fiel die Temperatur rapide, und Kostjas Atem schwebte in der kalten Luft. Verstreute Sterne lugten zwischen den Wolken hervor, mild und ehrfürchtig, und die Dorfbewohner, die zuvor Pfannkuchen, Zucker, Ka­rotten und Schnaps an die Menge verteilt hatten, kamen nun mit den Armen voller Reisig in den Obstgarten, entzündeten Lagerfeuer und wedelten mit Stücken von Birkenrinde, um den Rauch zu verteilen und die zarte Blüte vor dem Frost zu schützen. Auf dem harten Boden, wo das Eis auf dem zer­kauten Gras schimmerte, lag Kostja in den Mantel seiner Mutter geschmiegt und das Baby stieß ihn sanft gegen den Rücken, und wie sie sich in der aufziehenden Kälte enger aneinanderschmiegten, war es schwierig zu sagen, wer hier wem Trost spendete.

zu Teil 2
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