Vorgeblättert

Leseprobe zu Timothy Snyder: Bloodlands. Teil 1

11.07.2011.
Einleitung

Hitler und Stalin

Die Ursprünge des NS- und des Sowjet-Regimes und ihres Zusammentreffens in den Bloodlands liegen im Ersten Weltkrieg. Der Krieg zerbrach die alten europäischen Landreiche und inspirierte Träume von neuen. An die Stelle des dynastischen Prinzips der Fürstenherrschaft setzte er die zerbrechliche Idee der Volkssouveränität. Sie zeigte, dass Millionen von Menschen dem Befehl gehorchen würden, zu kämpfen und zu sterben - für abstrakte und ferne Ziele und im Namen von Heimatländern, die bereits im Verschwinden begriffen waren oder neu entstanden. Neue Staaten wurden fast aus dem Nichts geschaffen und große Gruppen von Zivilisten durch einfache Techniken vertrieben oder vernichtet. Über eine Million Armenier wurden von den osmanischen Macht­habern ­ermordet, Deutsche und Juden durch das Russische Reich deportiert, Bulgaren, Griechen und Türken nach dem Krieg zwischen Nationalstaaten ausgetauscht. Ebenso wichtig war die Zerstörung der integrierten Weltwirtschaft durch den Krieg. Kein erwachsener Europäer, der das Jahr 1914 erlebte, sollte die Wiederherstellung eines vergleichbaren Freihandels erleben; die meisten erwachsenen Europäer des Jahres 1914 genossen für den Rest ihres Lebens keinen vergleich­baren Wohlstand mehr.
     Im Zentrum des Ersten Weltkriegs stand der bewaffnete Konflikt zwischen dem Deutschen Reich, der Habsburger-Monarchie, dem Osmanischen Reich und Bulgarien (den "Mittelmächten") auf der einen Seite und Frankreich, dem Russischen Reich, England, Italien, Serbien und den USA (der "Entente") auf der anderen. Der Sieg der Entente 1918 bedeutete das Ende der drei europä­ischen Landmächte: Österreich-Ungarn, Deutsches und Osmanisches Reich. Durch die Nachkriegsverträge von Versailles, St. Germain, Sevres und Trianon traten Nationalstaaten an die Stelle multinationaler Reiche und demokratische Republiken an die von Monarchien. Die nicht vom Krieg zerstörten europä­ischen Großmächte, England und vor allem Frankreich, waren stark geschwächt. Unter den Siegern herrschte nach 1918 die Illusion, das Leben könne irgendwie zur Situation vor 1914 zurückkehren. Unter den Revolutionären, die hofften, sich an die Spitze der Besiegten zu setzen, herrschte der Traum, das Blutvergießen könne weitere radikale Veränderungen rechtfertigen, die dem Krieg eine Bedeutung geben und seinen Schaden wettmachen würden.
     Die wichtigste politische Vision war die kommunistische Utopie. Bei Kriegsende war es 70 Jahre her, dass Karl Marx und Friedrich Engels ihre berühmtesten Zeilen geschrieben hatten: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Der Marxismus hatte Generationen von Revolutionären durch eine Vision politischer und moralischer Umwälzung inspiriert: ein Ende des Kapitalismus und der Konflikte, die der Privatbesitz mit sich zu bringen schien, und ihre Ersetzung durch einen Sozialismus, der die arbeitenden Massen befreien und die gesamte Menschheit seelisch erneuern würde. Für Marxisten folgte historischer Fortschritt aus dem Kampf zwischen aufsteigenden und niedergehenden Klassen, d. h. Gruppen, die aus Veränderungen der Produktionsweise entstanden waren. Jede herrschende Ordnung wurde durch neue soziale Gruppen bedroht, die von neuen Produktionsweisen hervorgebracht wurden. Der moderne Klassenkampf tobte zwischen denen, die Fabriken besaßen, und denen, die darin arbeiteten. Aus diesem Grund glaubten Marx und Engels, die Revolution werde in den fortgeschritteneren Industrieländern mit großer Arbeiterklasse wie Deutschland und Großbritannien beginnen.
     Durch die Störung der kapitalistischen Ordnung und die Schwächung der großen Reiche eröffnete der Erste Weltkrieg den Revolutionären eine offensichtliche Gelegenheit. Die meisten Marxisten hatten sich jedoch daran gewöhnt, innerhalb der nationalen politischen Systeme zu arbeiten, und unterstützten während des Krieges ihre Regierungen. Nicht so Wladimir Iljitsch Lenin, der Untertan des Zarenreichs und Führer der Bolschewiki. Sein voluntaristisches Marxismusverständnis, der Glaube, die Geschichte lasse sich aufs richtige Gleis stoßen, ließ ihn den Krieg als seine große Chance ansehen. Für einen Voluntaristen wie Lenin verlieh die Zustimmung der Marxisten zum Urteilsspruch der Geschichte ihnen die Macht, ihn selbst zu sprechen. Marx sah die künftige Geschichte nicht als festgelegt an, sondern als Werk von Gruppen und Einzelnen, die ihre Prinzi­pien erkannten. Lenin stammte aus einem weitgehend agrarischen Land, dem aus marxistischer Sicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution fehlten. Auch hier entwickelte er aber eine revolutionäre Theorie, um seinen revolutionären Impuls zu untermauern. Er glaubte, die Kolonialreiche ­hätten dem Kapitalismus eine längere Lebensdauer verliehen, doch ein Krieg ­zwischen den Kolonialmächten werde eine allgemeine Revolution herbeiführen. Das Russische Reich brach als erstes zusammen, und Lenin ergriff die Initiative.
     Die leidenden Soldaten und verarmten Bauern des Zarenreichs waren Anfang 1917 im Aufstand. Nachdem im Februar ein Volksaufstand die Monarchie gestürzt hatte, versuchte eine neue liberale Regierung den Krieg durch eine neue Offensive gegen das Deutsche Reich und die K.u.K.-Monarchie zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt wurde Lenin zur Geheimwaffe Deutschlands. Im April schickten die Deutschen Lenin aus seinem Schweizer Exil in die russische Hauptstadt Petrograd, um eine Revolution durchzuführen, durch die Russland aus dem Krieg ausscheiden sollte. Mit Hilfe seines charismatischen Verbündeten Leo Trotzki und seiner disziplinierten Bolschewiki gelang Lenin im November (nach westlicher Zeitrechnung im Oktober) ein Staatsstreich mit einiger Unterstützung der Bevölkerung. Anfang 1918 unterzeichnete Lenins neue Regierung einen Friedensvertrag mit Deutschland, durch den Weißrussland, die Ukraine, das Baltikum und Polen unter deutsche Kontrolle kamen. Zum Teil dank Lenin gewannen die Deutschen so den Krieg an der Ostfront und besaßen für kurze Zeit ein Imperium im Osten.
     Lenins Friedensschluss hatte den Preis einer deutschen Kolonialherrschaft in den früheren Westgebieten des Zarenreichs. Für die Bolschewiki war aber klar, dass das Deutsche Reich bald ebenso zusammenbrechen würde wie der Rest des kapitalistischen Unterdrückersystems. Russische oder andere Revolutionäre ­würden ihre neue Ordnung dorthin und weiter nach Westen tragen. Nach Lenins und Trotzkis Auffassung würde der Krieg zwangsläufig die deutsche Niederlage an der Westfront und dann eine Arbeiterrevolution in Deutschland herbeiführen. Sie rechtfertigten ihre Revo­lution gegenüber sich selbst und anderen Marxisten mit der Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden proletarischen Umsturzes in den Industriestaaten Mittel- und Westeuropas. 1918/19 schien es, als könne ­Lenin Recht behalten. Die Deutschen wurden tatsächlich im Herbst 1918 von Franzosen, Engländern und Amerikanern an der Westfront geschlagen und mussten sich - unbesiegt - aus ihrem neuen Reich im Osten zurückziehen. Deutsche Revolutionäre machten vereinzelte Versuche, an die Macht zu kommen. Die Bolschewiki übernahmen die Macht in der Ukraine und Weißrussland.
     Der Kollaps des Zarenreichs und die deutsche Niederlage schufen ein Machtvakuum in Osteuropa, das die Bolschewiki trotz aller Versuche nicht ausfüllen konnten. Während Lenin und Trotzki ihre neue Rote Armee in Bürgerkriegen in Russland und der Ukraine einsetzten, wurden fünf Länder an der Ostsee zu unabhängigen Republiken: Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Nach diesen Gebietsverlusten war das Russland der Bolschewiki weiter vom Westen entfernt als das der Zaren. Unter den neuen unabhängigen Staaten besaß Polen eine größere Bevölkerung als alle anderen zusammen und war strategisch am wichtigsten. Stärker als alle anderen neuen Staaten veränderte Polen das Machtgleichgewicht in Osteuropa. Es war zu klein für eine Großmacht, aber groß genug, um für jede expansionistische Großmacht ein Problem darzustellen. Zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert trennte es Russland von Deutschland. Polens bloße Existenz schuf einen Puffer für die deutsche wie für die russische Macht und wurde in Moskau und Berlin mit wenig Sympathie gesehen.
     Polens Ideologie war seine Unabhängigkeit. Seit dem späten 18. Jahrhundert, als die polnisch-litauische Adelsrepublik von ihren Nachbarn aufgeteilt wurde, hatte es keinen polnischen Staat gegeben. Die polnische Politik hatte unter der Fremdherrschaft im 19. Jahrhundert weiter existiert, und die Idee der polnischen Nation war eher noch lebendiger geworden. Die polnische Unabhängigkeitserklärung im November 1918 war nur möglich, weil alle drei beteiligten Mächte - Hohenzollern-, Habsburger- und Zarenreich - nach Krieg und Revolution verschwunden waren. Diese große historische Gelegenheit ließ der polnische Revolutionär Jozef Pilsudski nicht ungenutzt vorübergehen. Der ehemalige Sozialist war zu einem Pragmatiker geworden, der ein Reich gegen die anderen ausspielen konnte. Als alle drei Reiche zusammenbrachen, waren Pilsudski und seine Anhänger, die sich schon während des Krieges militärisch organisiert hatten, in der besten Lage, einen polnischen Staat auszurufen und zu verteidigen. Sein großer politischer Rivale, Roman Dmowski, vertrat Polen bei den Siegermächten in Paris. Das neue Polen wurde als demokratische Republik gegründet. Mit Unterstützung der Ententemächte konnte Warschau auf eine mehr oder weniger vorteilhafte Westgrenze mit Deutschland rechnen. Die Frage der polnischen Ostgrenze war dagegen offen. Weil die Entente keinen Krieg an der Ostfront gewonnen hatte, konnte sie in Osteuropa keine Lösung durchsetzen.
     1919/20 führten Polen und Bolschewiki einen Krieg um die Grenzregionen zwischen Russland und Polen, der für die europäische Ordnung entscheidend war. Die Rote Armee war beim Rückzug der Deutschen in der Ukraine und Weißrussland einmarschiert, aber die polnische Führung hatte diese Gebietsgewinne nicht anerkannt. Pilsudski sah diese Gebiete als unabhängige historische Gebilde, deren Geschichte mit der Polens verbunden war und deren Führer eine erneuerte Version der alten Adelsrepublik in Weißrussland und der Ukraine anstreben sollten. Er hoffte, polnische Truppen könnten mit Unterstützung ukrainischer Verbündeter die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates befördern. Nachdem aber die Bolschewiki 1919 die Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht und im Frühjahr 1920 eine polnische Offensive gestoppt hatten, glaubten Lenin und Trotzki ihre eigene Revolution nach Polen tragen zu können, um den Arbeitern die Übernahme ihrer historischen Rolle mit dem Bajonett nahe zu legen. Nach dem Fall Polens würden dann deutsche Genossen mit Hilfe der neuen Roten Armee die gewaltigen Ressourcen Deutschlands dafür einsetzen, die Russische Revolution zu retten. Doch den sowjetischen Truppen wurde der Weg nach Berlin im August 1920 bei Warschau verlegt.
     Pilsudskis Gegenoffensive trieb die Rote Armee zurück auf weißrussisches und ukrainisches Gebiet. Unter den Besiegten war auch Stalin, ein Politoffizier der Roten Armee in der Ukraine. Seine Fehleinschätzungen verhinderten eine bessere Koordinierung der sowjetischen Truppen und machten die Rote Armee verletzlich für Pilsudskis Manöver. Der militärische Sieg der Polen beendete aber nicht die Macht der Bolschewiki. Die Truppen waren zu erschöpft, um auf Moskau zu marschieren, und die polnische Gesellschaft zu gespalten, um ein solches Abenteuer zu unterstützen. Schließlich wurden die von Weißrussen und Ukrainern bewohnten Gebiete zwischen dem bolschewistischen Russland und Polen aufgeteilt. Polen wurde so ein multinationaler Staat, dessen Bevölkerung zu vielleicht zwei Dritteln polnisch sprach, aber auch fünf Millionen Ukrainer, drei Millionen Juden, eine Million Weißrussen und zwischen einer halben und einer Million Deutsche umfasste. Polen war seiner Verfassung nach ein Staat "des polnischen Volkes", aber es besaß die größte jüdische Gemeinschaft in Europa und die zweitgrößte ukrainische und weißrussische (nach dem bolschewistischen Russland). Seine drei größten Minderheiten - Juden, Ukrainer und Weißrussen - teilte es mit seinem östlichen Nachbarn.
     Während über die osteuropäischen Grenzen auf den Schlachtfeldern der Ukraine, Weißrusslands und Polens entschieden wurde, diktierten die Siegermächte des Weltkriegs ihre Bedingungen für Mittel- und Westeuropa. Polen und Bolschewiki kämpften dort, wo die Ostfront des Ersten Weltkriegs ver­laufen war, doch das besiegte Deutschland präsentierte sich den Siegern fried­fertig. Deutschland erklärte sich zur Republik, um bessere Friedensbedingungen von Franzosen, Briten und Amerikanern zu erhalten. Seine größte linke Partei, die SPD, lehnte das bolschewistische Beispiel ab und strebte keine Revolution in Deutschland an. Die meisten Sozialdemokraten hatten während des Krieges ­loyal zum Reich gestanden und sahen die Ausrufung der Republik nun als Fortschritt. Doch diese moderaten Entscheidungen halfen Deutschland wenig. Die Friedensbedingungen wurden eher diktiert als diskutiert; entgegen einer langen europäischen Tradition verweigerte man den Besiegten einen Platz am Verhandlungstisch. Die deutsche Regierung hatte keine Wahl, als den Versailler Vertrag im Juni 1919 zu unterschreiben, aber nur wenige deutsche Politiker wollten seine Bedingungen verteidigen.
     Weil der Vertrag von moralisierenden Siegern entworfen worden war, ließ er sich leicht als heuchlerisch ablehnen. Während des Krieges hatten sich die Ententemächte zu Unterstützern der Befreiung der mitteleuropäischen Völker erklärt. Vor allem die Amerikaner definierten ihre Kriegsteilnahme als Kreuzzug für die nationale Selbstbestimmung. Doch die Franzosen, die mehr gelitten hatten als jedes andere Land, wollten eine Bestrafung der Deutschen und eine Belohnung der eigenen Verbündeten. Tatsächlich widersprach der Versailler Vertrag gerade dem Prinzip, für das die Entente angeblich gekämpft hatte: der nationalen Selbstbestimmung. In Versailles ebenso wie in Trianon (Juni 1920) und Sevres (August 1920) erhielten die Völker, die als Verbündete der Entente galten (Polen, Tschechen und Rumänen), mehr Territorium und infolgedessen größere ethnische Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen. Die als Feinde betrachteten Völker (Deutsche, Ungarn und Bulgaren) verloren Territorium, dadurch entstanden größere Minderheiten ihrer Völker auf dem Gebiet anderer Staaten.
     Der polnisch-sowjetische Krieg fand zwischen der Eröffnung der Verhandlungen in Versailles und der Vertragsunterzeichnung in Sevres statt. Weil Europa sich immer noch im Krieg befand, während diese Verträge im Westen ausgehandelt und unterzeichnet wurden, war die neue Nachkriegsordnung ein wenig unwirklich. Sie wirkte verletzlich gegenüber einer Revolution von links, die von den Bolschewiki inspiriert oder sogar angeführt wurde. Solange der Krieg zwischen Polen und Bolschewiki andauerte, konnten Revolutionäre in Deutschland hoffen, die Rote Armee werde ihnen zu Hilfe kommen. Gleichzeitig war die junge deutsche Republik durch einen Umsturz von rechts gefährdet. Soldaten, die siegreich von der Ostfront heimkehrten, sahen keinen Grund, etwas zu akzeptieren, was ihnen als Demütigung des Vaterlands durch die neue Republik und den von ihr unterzeichneten Versailler Vertrag erschien. Viele Veteranen schlossen sich Freikorps an, die gegen linke Revolutionäre kämpften. Die SPD-Regierung glaubte keine Alternative zu haben, als einige der Freikorps gegen kommunistische Revolutionsversuche einzusetzen.

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