Vorgeblättert

Leseprobe zu Skype Mama. Teil 2

11.03.2013.
Was wir sonst noch machten? Wir gingen zum Fluss, um im seichten Wasser Karauschen zu fangen. Nur wir und ein paar Gänse planschten hier rum. Karauschen gab es nicht, nur Zwiebelfische. Wir fingen sie mit bloßen Händen oder mit „"dem Stock"“. Wir fingen auch Krebse, die wir dann zu Hause in Bottichen mit Wasser gefangen hielten, bis sie tot waren und jemand sagte: „"Wir hätten sie gleich kochen sollen."“ Auf den weiter entfernten, brach liegenden Feldern jagten wir wilde Hühner. Wir hatten aber fast nie Erfolg, weil die Wildhühner unheimlich flink waren und manchmal sogar fort flogen. Nach erfolgloser Jagd legten wir uns ins Gras und stopften uns im Liegen den Mund mit Walderdbeeren voll, die hier überall wuchsen. Es war furchtbar, über diese Felder zu laufen, denn mit jedem Schritt zertrampelten wir Erdbeeren, jede Menge fleischig-süßer Erdbeeren. Wir zogen die Schuhe aus, um die Erdbeeren wenigstens mit bloßen Füßen und nicht mit den Schuhsohlen zu zertrampeln.
     Zum Herbst hin wurden dann die Brombeeren reif. Da liefen wir mit violetten Mäulern und Hemden herum, so als hätten wir uns wie fleißige Schulkinder mit Tinte bekleckst.
     Danach kam die Zeit der Pflaumen beim Tauben. Der Taube war ein altes, wirklich taubes Väterchen und hatte einen riesigen Pflaumengarten. Das war der einzige fremde Garten, in den wir mit Erlaubnis des Besitzers durften. Dem Tauben war es um die Pflaumen nicht schade. Er war wahrscheinlich deswegen so ein liebes, altes Väterchen, weil von Geburt an taube Leute weniger Schlechtes in ihrem Leben hören. Sie sehen diese Welt nur. Und wenn man die Welt nur sieht und nicht hört, wirkt sie wahrscheinlich etwas freundlicher. Wir tauchten ein in das schimmernde, süßsaftige Meer prächtiger Pflaumen mit kleinen Kernen und gelbem Fruchtfleisch. Der Taube stand in der Nähe unter einem Baum, beobachtete uns und sagte nur: „"Esst Kinder, esst. Ihr sollt nicht wissen, was Hunger ist.“" Nachdem der Taube still gestorben war, vertrocknete und verkümmerte der Pflaumengarten übrigens bald, und die wenigen Bäume, die übrig blieben, blühten zwar im Frühling übermäßig, trugen aber nie wieder Früchte.

Abends saßen wir auf einem Hügel am Waldrand und schauten, wie es im Dorf langsam, Fenster um Fenster, dunkel wurde. In unseren Fenstern aber brannte erst gar kein Licht. Unsere Fenster waren immer dunkel. Niemand wartete dort auf uns. Der kleine Bernadskyj brachte manchmal ein Akkordeon mit und spielte uns etwas vor. Bernadskyj hatte keinen Vater, und die Mutter war vor langer Zeit weggefahren und nicht wieder zurückgekehrt. Wo sie war und ob sie überhaupt noch lebte, wusste Bernadskyj nicht. Er blieb mit zehn Jahren allein in dem alten Holzhaus. Niemand holte ihn von dort weg. Niemand kümmerte sich um ihn. Niemand interessierte es, ob er warm angezogen war und ob er etwas zu essen hatte. Bernadskyj brachte sich alles selbst bei. Er kochte sich bescheidene Speisen und spielte auf dem Akkordeon, das er im Müll der wegen Schülermangel geschlossenen Musikschule gefunden hatte. Er pflegte den Garten am Haus, hatte eine Kuh und jede Menge Enten, von denen er keine einzige schlachtete. Wenn sie starben, dann starben sie von selbst, aus Altersschwäche. Im Herbst half Bernadskyj den Alten bei der Kartoffellese und verdiente sich so Geld für Kleidung. Als er achtzehn wurde, war seine Mutter immer noch nicht zurück. Da putzte er ein letztes Mal das Haus, legte eine festliche Tischdecke auf den Tisch und stellte eine Dreiliter-Flasche mit einem Strauß getrockneter Feldblumen darauf. An die Flasche lehnte er verkehrt herum ein altes Foto von sich und seiner Mutter. Dann machte er die Fenster zu, zog die Tür ins Schloss,aber verriegelte sie nicht und verschwand mit dem Frühzug über alle Berge. Später erzählte man sich, dass er ein großes Tier geworden sei und irgendwo in Kiew lebe und dass er eine Frau und viele Kinder hätte, und ein Auto und ein eigenes Business. Das Akkordeon hatte Bernadskyj in dem unverriegelten Haus gelassen. Irgend ein Alki von hier hat es gestohlen und versucht, es zu verkaufen, aber er fand keinen Käufer.

Damals auf dem Hügel, da spielte Bernadskyj wie ein Gott. Wir entzündeten ein Lagerfeuer, lauschten schweigend dem Akkordeon, schauten in die Flammen und saßen da, Rücken an Rücken, bis schreiend und fluchend die Rättin angerannt kam, um die „"Bande"“ auseinander zu treiben und ihre teure Iwanotschka nach Hause zu holen.

Wir kletterten auch in der Ruine der Kathedrale herum und in der Ruine der Bäckerei und in den Ruinen der Kolchose. Die ganze Welt kam uns vor wie eine Ruine, die nach einem langen und schrecklichen Krieg stehen geblieben war. Wir wussten nichts über diesen Krieg. Wir wussten nicht, wie diese Welt vor dem Krieg ausgesehen hatte. Wir wussten nicht, ob diese Welt vor dem Krieg überhaupt existiert hatte.

Wir prügelten uns mit anderen Banden und waren immer überlegen. Wir prügelten uns auch untereinander, aber vertrugen uns schnell wieder. Wenn jemand den zuständigen Milizionär aus der Kreisstadt rief, kochten wir uns schnell Eier, schnitten Brote, schälten Zwiebeln und flüchteten auf die weiter entfernten Felder, wo wir uns einige Tage versteckten. Wir legten uns flach auf den Boden. Nicht, weil wir Angst vor dem Milizionär hatten (der konnte uns nichts anhaben), sondern, weil es eben so ein Spiel war. Wir waren Partisanen, Revolutionäre, Haudegen, und die Erwachsenen waren unsere Feinde. Jener Wasyl, der viel las und wenig redete, gab uns, wenn es soweit war, ein Zeichen: Er hisste bei sich auf dem Dach ein weißes Tuch. Das bedeutete, dass der Milizionär weg war und wir wieder nach Hause konnten. Wir krochen erschöpft aber glücklich aus unseren Verstecken und Unterschlüpfen und schrieben einen weiteren Sieg in unser junges Karma ein. Und wenn wir, also die ganze Horde, dann mit stolz gereckten Köpfen zurückkehrten und Bein an Bein, wie eine gut geschulte Armee, siegreich. Die ewig und mit allem unzufriedenen Opas standen an ihren Toreingängen und empfingen uns mit hilflosen Rufen: "Ihr habt keine Hirten!"“ Wir lachten ihnen ins Gesicht, denn es gab keine Hirten, die wir gefürchtet hätten. Diese Hirten bauten Straßen und Häuser irgendwo am anderen Ende der Welt.

Danke dir, Polen! Danke euch, Italien und Portugal! Danke dir Hellas, du Königin aller Länder!

In einem der letzten Sommer riefen die Hrinkow-Zwillinge zu einer dringenden Versammlung. Wir trafen uns alle auf dem Hof unter dem Weinlaub. Die Puten kollerten unzufrieden in ihrem Gatter, und eines der Zwillingsmädchen rief: "„Mein Gott, wann schlachten wir die endlich alle ab!“". Ja, sie waren grausam. Grausam wie es sich für die Anführer einer Bande gehört. Aber sie hatten auch ihre Prinzipien.

„"Bei Fedirko im Garten sind die Sonnenblumen aufgeblüht"“, sagten die Zwillinge. „"Die müssen wir haben.“"

Wir kletterten auf den großen, weit ausladenden Nussbaum der Hrinkows und schauten über die vier Meter hohe Wand in Fedirkos Hof. Man konnte fast nichts sehen, nur Silhouetten. Man konnte fast nichts hören, nur das leise Heulen von Fedirkos Hunden. Zweifellos Menschen fressende Hunde. Hinter Fedirkos Haus blühten so hohe und volle, so leuchtendgelbe Sonnenblumen, wie wir, die hungrigen Ruinenkinder, sie noch nie gesehen hatten. Wir waren so geblendet von ihrem Leuchten, dass uns die richtige Sonne wie eine blasse Kopie erschien.

„"Die müssen wir haben“", wiederholten wir aufgeregt, obwohl uns aus Angst vor dem Besitzer der Sonnenblumen die Knie schlotterten und das Herz in die Hose rutschte. „Die müssen wir haben. "Wir müssen die haben. Aber wer holt sie?“"
     Doch unsere Anführer hatten schon längst einen Plan. Iwanotschka, die still etwas abseits gesessen hatte, zuckte plötzlich zusammen.
„     "Du willst doch eine von uns werden?“", fragten die Zwillinge sie.
„     "Ja"“, murmelte Iwanotschka.
„     "Gut. Das wirst du, wenn du uns die Sonnenblumen holst."“
     Iwanotschka begann zu weinen.
„     "Wir zwingen dich nicht"“, sagten die grausamen Hrinkow-Schwestern. "„Wenn du Angst hast, dann hau ab und komm nie wieder. Wir brauchen keine Feiglinge".“
     Iwanotschka heulte und heulte, und ihr bleiches Engelsgesicht schwoll rot an. Vielen tat sie sogar Leid, obwohl wir eigentlich vor langem geschworen hatten, kein Mitleid mehr mit Iwanotschka zu haben. Sie konnte die Leute einwickeln. Sie wickelte sie mit ihrem braven Engelsstimmchen und mit ihrem von hellen Engelszöpfen umrahmten Engelsgesicht ein. Sie konnte immer weinen, wenn es die Situation erforderte. Aber sie weinte fast ohne Unterbrechung. Sie machte nichts anderes als zu weinen, damit man Mitleid mit ihr hatte und damit man sie gern hatte. Aber niemand hatte Mitleid mit ihr, und niemand hatte sie gern.
„     "Los, hau ab"“, schrien die Hrinkow-Schwestern. "„Feigling!"“
     Iwanotschka weinte, und die Welt ertrank in ihren Tränen.
     Wir schwiegen. Alle schwiegen, sogar die Puten in ihrem Gatter. Doch manchmal, ganz selten, nur ein oder zweimal im Leben, da kommt es vor, dass sich sogar der fieseste und feigste Mensch zu einer Heldentat durchringt. Iwanotschka sprang plötzlich von ihrem Platz auf, streckte sich mutig und sagte:
     "„Ich mache es! Ich gehe in der Nacht dorthin und hole sie! Ich bin kein Feigling! Ihr werdet sehen!“"

Ein zweites Mal an diesem Tag rutschte uns das Herz in die Hose. Wir waren sicher, dass wir Iwanotschka nie wieder sehen würden. Aber wir sagten nichts.

Und dann passierte Folgendes. Spät am Abend, als die Rättin die Lichter im Haus ausgeknipst und sich schlafen gelegt hatte, zog Iwanotschka sich heimlich wieder an und kletterte durch’s Fenster raus. Es war kurz nach Mitternacht. Im Dorf herrschten tiefe Dunkel heit und Totenstille, weil die Leute hier sofort nach Sonnenuntergang schlafen gehen. In Vorahnung einer Katastrophe versteckten wir uns schuldbewusst in unseren Häusern und zogen die Decke über den Kopf.
     Iwanotschka lief durch die Gärten. Vom Vordereingang her konnte sie unmöglich an die Sonnenblumen gelangen. Zuerst kam mein Garten, dann der Garten von Wasyl, der Garten der Zwillinge und erst dann Fedirkos Garten. Iwanotschka kroch durch Mais und Kartoffeln. Rote Beete wächst nicht hoch genug, da kann man sich nicht verstecken. Als sie näher zum Ziel kam, krabbelte Iwanotschka geräuschlos weiter, fast wie ein echter, erstklassiger Dieb. Übrigens, Iwanotschka hätte, wenn sie gewollt hätte, ein erstklassiger Dieb werden können und wäre längst einer, hätte sie nicht den großen Fehler gemacht und bei den eigenen Leuten geklaut.
     Im Garten von Fedirko legte sich Iwanotschka flach auf die Erde und wartete einige Minuten. In Fedirkos Hof war es dunkel. Fedirkos Hund schlief. Nur Eulen und Käuzchen huschten lautlos über Iwanotschkas Kopf hinweg. Iwanotschka seufzte und krabbelte wie eine Eidechse weiter. Sie sah schon von weitem die hängenden Köpfe der prächtigen Sonnenblumen. In der Dunkelheit leuchteten sie wie Kerzen. Iwanotschka zog ein Taschenmesser hervor und begann leise, am dicken Stengel der ersten Blume zu feilen. Ab und zu schaute sie sich ängstlich um, doch gerade, als sich über ihr der furchtbare Schatten von Fedirko erhob, hatte Iwanotschka ihre Vorsicht vergessen. Er packte sie am Kragen und hob sie hoch wie ein schädliches Insekt. Ihre Arme und Beine zappelten in der Luft und aus den Augen liefen automatisch die Tränen. Fedirko, der schlug, bis es blutete und nicht, bis die Tränen liefen, das wusste Iwanotschka. Heulend flehte sie: "„Nicht! Bitte nicht!"“, aber Fedirko
hielt sie nur fest und drehte sie hin und her, als wolle er den exotischen Gast von allen Seiten betrachten.
„     "Warum schneidest du die Sonnenblumen ab?"“, fragte Fedirko, und Iwanotschka verschluckte beinahe die Zunge vor Verwunderung.
     Sie hatte diese Stimme noch nie gehört und war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass Fedirko irgendetwas fragen könnte. Das war auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Wenn jemand fragt, will er auch eine Antwort. Wenn nicht sofort Schläge prasseln, gibt es noch Hoffnung auf Rettung.
     Und Iwanotschka (sie war eine talentierte Lügnerin) sagte:
„     "Ich wollte zu Hause meine eigene Sonne haben.“"
     Fedirko setzte sie vorsichtig auf die Erde. Da schaute Iwanotschka ihn an. Sie sah seinen dünnen, buckligen Körper und seine Augen hinter den dicken Brillengläsern. Diese Augen waren ganz und gar nicht böse. Fedirko fasste an ihr weiß glänzendes Haar und Iwanotschka schreckte zusammen, weil sie dachte, dass er ihr jetzt den Hals umdrehen würde. Aber Fedirko wollte ihr einfach über den Kopf streichen. Er sagte:
„     "Sie sehen aus wie die Sonne, nicht?“"
„     "Sogar noch schöner"“, antwortete Iwanotschka und seufzte.
     Fedirko erlaubte ihr, die abgeschnittene Sonnenblume mitzunehmen und ließ sie gehen. Iwanotschka kehrte als Heldin nach Hause zurück.
     Doch an der Tür empfing sie schon mit Geschrei die Großmutter. Sie verprügelte Iwanotschka schlimmer als alle Fedirkos der Welt. Sie schlug, bis es blutete. Sie hörte nicht auf, als es aus der Nase blutete, und auch nicht, als es nicht mehr blutete. Iwanotschka lag reglos auf dem Boden und verbarg unter ihrem Körper die kostbare Trophäe.
     In unsere Bande nahmen wir sie trotzdem nicht auf.

zu Teil 3
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