Vorgeblättert

Leseprobe zu Sabine Kray: Diamanten Eddie. Teil 2

17.02.2014.
Die junge Verkäuferin, die die gläserne Tür hinter ihm abschließt, als er das Kaufhaus verlässt, hält kurz inne, dann neigt sie den Kopf und lächelt ihn an. Ihr Gesicht hinter der Scheibe wirkt fast weiß unter dem kinnlangen braunen Haar, das sich weich um ihre runden Wangen legt, und ihre kräftigen Brauen lenken den Blick auf helle Augen. Sie fixieren ihn. Überrascht greift er nach seinem Hut. Halt, er trägt gar keinen. Er lacht, hebt die Hand. Winkt. Die junge Frau hinter der Scheibe kichert, dann mimt sie einen altmodischen Knicks und eilt zurück ins Innere des Kaufhauses.
     Edward wendet sich nach links, zum Rhein. Junge Leute haben es sich auf der Mauer gemütlich gemacht. Ein Paar sitzt rauchend auf der Kante. "Würd'st mich retten, wenn ich jetzt springen würd?" Kokett rutscht das Mädchen noch einige Zentimeter weiter vor und lacht herausfordernd. "Sei nicht blöd!", brummt ihr Freund, dessen dünne Beine im Schneidersitz miteinander zu verschmelzen scheinen, und bläst ihr den Rauch seiner Zigarette entgegen.
     Bei Ina steht auf dem grünen Schild über der Tür des kleinen Lokals an der Promenade. Draußen einige Tische mit bunten Decken. Heute: Sauerkraut mit Kassler und Kartoffelstampf steht auf der Tafel. Plötzlich bemerkt Edward, wie hungrig er ist. Und durstig. Vor allen Dingen durstig. Zum Essen bestellt er ein Bier, dann gleich ein weiteres.
     Eine Gruppe älterer Männer streitet über zwei Tische hinweg mit einem jungen Pärchen über Willy Brandt. Neben sechs Biergläsern stehen da auch sechs Schnapsgläser. Es scheint nicht ihre erste Runde zu sein. "Ich säh einfach nett ein, dat wir uns ständisch entschuldjen solln. Dämut. Wo imma der hinküt, zeischt der Dämut, unsa Bundeskanzla. Als hätten die nett ihrn Anteil jehabt an dem Jemetzel da, de Polacken un de Ruskis", sagt ein Dicker und schüttet den letzten Schluck Bier herunter.
     Wütend schüttelt der junge Student am Nebentisch den Kopf und zerrt einen zerknüllten Schein aus der Tasche seiner zerschlissenen Hose, die voller Farbflecken ist. "Nazi!", sagt er voller Abscheu, wirft den Schein auf den Tisch und wendet sich heftig an seine Freundin: "Komm, Hannah, wir gehen!"
     Edward sieht dem Pärchen einen Augenblick lang nach. Dann betrachtet er die Männer, die jetzt angriffslustig hinter den beiden herpöbeln. Nazis wollen sie sich nicht nennen lassen. Sie sind in seinem Alter, ein paar fünf, sechs, vielleicht sieben Jahre älter.
     Edward kennt diese Sorte. Nie legt er sich mit ihnen an. Doch. Mit dem Polizeiobermeister damals an der belgischen Grenze. Der hatte ihn aus dem Zug gezerrt, in einen engen Verhörraum geschleppt, hatte ihn mit seiner Waffe bedroht und mit wütenden Fäusten an seiner Kleidung gerissen. Schließlich hatte er ihn sogar einer Leibesvisitation unterzogen. Und weil er nichts fand, hatte er angefangen, ihn zu provozieren: "Das ganze Pack aus dem Osten! Ich weiß genau, dass ihr kriminell seid! Kriminell und primitiv … Ja! Da gab's auch mal ein wahres Wort dafür und das bleibt auch wahr, auch wenn man's heut nicht mehr sagen darf!" Keuchend vor Ärger war der Mann um ihn herumgeschlichen, bevor er flüsternd fortfuhr: "Erinnerst du dich noch? Na?" Heiß und feucht hatte der wütende Atem sein Ohr berührt: "Untermenschen!"
     Da war Edward der Geduldsfaden gerissen. Zorn und Speichel hatte er dem Mann entgegengeschleudert, bis ein jüngerer Kollege die Tür der kleinen Verhörzelle aufgerissen hatte. Drei Tage lang hatten sie ihn dabehalten. Ohne Grund, ohne Anwalt. Weil sie konnten. Trotzdem will er nichts wissen von öffentlichen Debatten. Von den jungen Leuten, die alles wissen und alles richten wollen.
     Im Bobbys, der hutschachtelgroßen Kneipe am Ende der Ratinger, ist es, als hätten die Leute nur darauf gewartet, dass es endlich fünf Uhr wird. Der Wirt ist dabei, das Fass auszutauschen, ein leichter Geruch von schalem Bier liegt in der Luft. Mit Kraft wuchtet er das neue auf die Bar, dann wischt er sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.
     Der Plattenspieler hinter der Theke wird von einer jungen Frau bedient. Wenn später mehr los ist, wird sie an der Bar arbeiten, aber zunächst einmal nippt sie mit spitzen hellroten Lippen an einem Weinglas und blättert gelangweilt durch den Plattenstapel hinter dem Gerät. Rolling Stones. Sie schwingt die Hüften im Takt und fährt sich durch das zerzauste Haar. Es ist auf der einen Seite kürzer geschnitten, mehr lässig als schön, doch Edward muss immer wieder hinsehen, wenn es kastanienbraun das gelbe Licht der Bar einfängt.
     "Yeah, Tina, lass es rocken!" Ein junger Kerl, vielleicht zwanzig, beugt sich über die Bar und versucht ihr einen Klaps auf den Po zu geben, der sich fest unter der engen Bluejeans wölbt. Ohne Eile tritt sie beiseite, und die gierige Hand wischt ins Leere. Ein paar Männer lachen. Tina zündet sich eine Zigarette an.
     Zwei Künstler älteren Semesters stehen am äußersten Ende der Bar unter den Buntglasfenstern. Schon vor fast zwanzig Jahren ist er hierhergekommen, in den Fünfzigern, als die Freigeister sich noch an Adenauer abgearbeitet haben. Heute diskutieren sie über den gewaltsamen Protest, über Macht, Gewalt, die RAF, Hannah Arendt und den Vietnamkrieg, während Edward sein Bier trinkt.

Es ist halb zwölf, als er sich wieder auf den Weg in die Berliner Allee macht. Unauffällig flaniert er an den Schaufenstern des Kaufhauses entlang, betrachtet Pullover, Nylonwaren und was sonst noch so ausgestellt wird. In einem der Fenster hängt ein Pelz auf einer Puppe. Zweihundert Mark steht auf dem Preisschild. Edward schaudert. Furchtbares Zeug, diese Pelze für die Durchschnittsfrau. Zusammengeschustert aus Pfoten, Köpfen und Schweifen, anschließend kräftig durchgefärbt, haben sie mit der Art von Pelz, mit der er nach dem Krieg gehandelt hat, nicht viel zu tun. Die waren schwer gewesen, unendlich weich, meist tiefbraun bis bernsteinfarben. Besonders die alten Exemplare waren noch handgenäht gewesen. Handgenäht! Und Weiß oder Silber wurde damals nur von Frauen getragen, die nichts oder wenig auf sich hielten.
     Er tastet sich einmal um das gesamte Kaufhaus herum. Findet den Mitarbeitereingang. Eine schwarze Metalltür. Daneben ein riesiger Rollladen und eine Rampe. Für die großen Lieferungen. Davor ein Parkplatz. Zwei Laternen werfen gleißendes Licht und scharfe Schatten auf die asphaltierte Fläche. Nur, wo ist der Wachschutz? Mindestens zwei müssen es sein. Mindestens ein Hund dazu.
     Mit schnellen Schritten ist er bei der Tür. Sie ist etwa einen Meter weit in die Wand zurückversetzt. Auf der so entstandenen Stufe vor der Tür liegt ein Fußabtreter. Irritiert sieht er ein zweites Mal hin: "Frohe Weihnachten!" steht darauf. Darüber eine Leuchte, die den kleinen Raum vor der Tür mit starkem weißem Licht füllt. Schon aus der Entfernung kann man ihn jetzt sehen. Nur flüchtig betrachtet er das Schloss. Er hat bereits eine Idee. Dann eilt er zurück in den Schatten der Bäume, die den Parkplatz begrenzen, stiehlt sich über die Rabatten hinweg zurück auf den Gehweg.
     Schräg gegenüber leuchtet eine Kneipe. Patrizia steht auf dem Messingschild. Hinter dem Fenster sind einige Männer beim Knobeln. In gleichmäßiger Frequenz heben sie die Biere, bevor sie sie wieder auf den Stehtischen abstellen. Der lederne Becher fügt sich dem Rhythmus der Gläser, die Würfel fallen leidenschaftslos. Drei Runden lässt Edward den Knobelbecher wandern, bevor er sich entschließt hineinzugehen. Behutsam fasst er die Klinke, dann legt er sanft etwas Gewicht in die Bewegung. Mit einem leisen Klingen öffnet sie sich, gerade will er eintreten, als er hinter sich ein metallenes Geräusch hört. Es ist der Karabiner an der Leine des Wachhundes. Er weiß das, ohne sich umzudrehen. Gut, da sind sie also. Während die Tür langsam hinter ihm zufällt, sieht er auf die Uhr. Sie zeigt Viertel vor zwölf.
     Bescheiden nimmt er am hinteren Ende der Bar mit Blick zum Fenster Platz und signalisiert dem Wirt mit einem Nicken seine Bestellung. Ein Alt. Nur wenige trinken Pils hier in Düsseldorf. Die, die es tun, sind zugezogen.
     Die hässliche dunkle Holzverkleidung des Raumes lässt ihn an eine Kneipe in Haltern zurückdenken. Der erste Laden in der Gegend, wo es wieder Bier gegeben hatte. Für die GIs und für jene Zivilisten, die deren Gesellschaft suchten. Deutsche Mädchen, tief ausgeschnitten für etwas Butter oder Zigaretten, Displaced Persons, wie er selbst, auf der Suche nach einem Anker in der Welt außerhalb des Lagers, nach etwas zum Tauschen, einem bezahlten Botendienst.
     "Eine schöne Kneipe haben Sie!" Die Worte sind ihm so herausgerutscht. Irritiert sieht der Wirt ihn an: "Danke schön! Aber das meinen Sie nicht im Ernst, oder?" Edward grinst, ohne das Fenster aus den Augen zu lassen: "Nun, schön ist möglicherweise das falsche Wort, aber es gefällt mir." Jetzt lacht der Wirt: "Sie sind mir ja ne Type!" Noch immer kopfschüttelnd nimmt er eine Flasche Cognac aus dem Regal, schenkt ein, stellt das Glas wortlos neben Edwards Bier, dann wendet er sich wieder den Knoblern zu.
     Edward widmet sich der schwarzen Tür des Lieferanteneinganges draußen hinter dem Parkplatz. Er ist müde und es fällt ihm nicht leicht, die Gedanken in der Spur zu halten, die jetzt zurückwandern nach Haltern am See. Die Idylle des Namens steht in obszönem Kontrast zu dem, was der Ort für die meisten war. Er will sie nicht, diese Gedanken. Zurück zur Tür. Zurück zum Schloss dirigiert er sie. Sie folgen ihm widerwillig.
     Man könnte einen Versuch mit einem Schlagschlüssel machen, eine Methode, die zugleich roh und elegant ist. Elegant ist sie vor allen Dingen dann, wenn es schnell geht, doch dafür gibt es keine Garantie. Endlich erscheinen die Sicherheitsleute wieder auf der hell erleuchteten Bildfläche. Dreißig Minuten haben sie gebraucht. Zwei feiste Typen mit einem Schäferhund. Eine weitere Runde wird er abwarten, dann wird er ihnen folgen, wird sehen, wie ihr Rundgang verläuft.

Erschöpft macht er sich schließlich auf den Weg zurück in die Ratinger. Als er das Haus erreicht, schaut er an der roten Backsteinfassade herauf. Hinter einem offenen Fenster streitet ein Pärchen, hinter einem anderen flimmert ein Fernseher. Mariannes Fenster ist dunkel. Edward entscheidet sich, sie nicht zu wecken.
     Die Hände in den Hosentaschen schlendert er über die Straße, in den kleinen Durchgang hinein, der in den heruntergekommenen Innenhof führt. Die Haustür befindet sich rechts in dem dunklen Gang. Er öffnet sie leise mit einer dünnen Plastikseite, die er oberhalb des Schlosses zwischen Tür und Rahmen schiebt und dann langsam heruntergleiten lässt. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und mit sanftem Druck lässt sich die Falle in ihre Höhle schieben.
     Mariannes Tür im zweiten Stock öffnet er, ohne auch nur das Flurlicht einzuschalten. Blind fixiert er den Spanner, fährt mit einem schlanken Haken in das Schloss hinein, drückt behutsam die Stifte herunter, die den Riegel fixieren. Vier Stifte. Mit jedem, den er herunterdrückt, gibt der Kern ein wenig mehr nach, und geduldig verstärkt er den Druck auf den Spanner, bis die Tür aufspringt.
     Die kleine Wohnung besteht nur aus einem Zimmer. Jedes Mal, wenn er hierherkommt, gibt es mehr Nippes und Topfpflanzen, und er bewegt sich vorsichtig, bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben. Marianne liegt auf dem Bett, die Arme über dem Kopf verschränkt, den Mund leicht geöffnet. Im Licht der Laterne, das durch die hellen Vorhänge vor dem Fenster dringt, kann er sehen, dass sie sich vor dem Schlafengehen nicht abgeschminkt hat.
     So leise wie möglich zieht er Schuhe, Jackett, Hemd und Hose aus, dann rollt er sich in Unterhose und Unterhemd unter einer Decke auf dem Sofa ein, dessen grüner Stoff ihm so vertraut ist wie die Innenseite der eigenen Hand.
     Als er am nächsten Morgen aufwacht, schläft Marianne noch immer. Sie hat einen Arm über das Gesicht gelegt, um dem Sonnenlicht zu entgehen, das durch die Maschen der Vorhänge drängt. Es muss schön sein draußen. Durch die undichten Fenster dringen Stimmen und der Rauch von Zigaretten aus den Cafés der Straße. Edward beeilt sich, seine Sachen wieder anzuziehen. Schreibt einen Zettel: Guten Morgen Marianne, ich bin schon los. Wir sehen uns in ein paar Tagen! Eddie. Schnell in die Schuhe. Das Hemd lässt er offen, er wird das draußen machen, die braune Krawatte steckt er in die Tasche des Jacketts.
     Im Flur trifft er auf die alte Dame, für die Marianne hin und wieder die Einkäufe erledigt. Er hat ihren Namen vergessen. Ungeniert bleibt sie stehen, sieht ihm dabei zu, wie er sein Hemd zuknöpft, und schüttelt missbilligend den Kopf. Während er noch am oberen Hemdknopf fummelt, späht er auf das Klingelschild an ihrer Tür. Mittmann steht da: "Guten Tag, Frau Mittmann! Wie geht es Ihnen?" Er lächelt, während er den Kragen des Hemdes richtet, über ihre Missbilligung hinweg. "Nu, wenn dat Rheuma nett wär, wär's auszuhalten, aber ich kann kaum liegen un kaum sitze. Schlimm is dat."
     Edward steckt das Hemd in die Hose. Es ist 1971, er ist 47 Jahre alt, doch unter Frau Mittmanns Blicken fühlt er sich immer wieder wie 21. Damals, 1945, hatten sie eine Zimmerwirtin. Frau Gerlach. Um das winzige möblierte Zimmer mieten zu können, hatten sie ihr versprechen müssen, dass sie verlobt seien und bald heiraten würden.
     Jetzt nimmt er Frau Mittmann liebevoll den Wohnungsschlüssel aus den zitternden Händen, die krumm sind vom Rheuma, und schließt damit die Tür zu ihrer Wohnung auf. "Wissen Sie, ich habe gehört, dass Wärme helfen soll, vielleicht sollten Sie sich eine Heizdecke zulegen?", sagt er, dann legt er den Schlüssel auf die schmale Anrichte in der winzigen Diele und verabschiedet sich.
     Draußen sieht er auf seine Uhr. Der nächste Zug fährt in sieben Minuten. Wenn er den erreicht, dann kann er auch noch die Kleidung wechseln, bevor er zu den Kraumens geht und die Details für den Auftrag bespricht. Edward beginnt zu traben, dann zu rennen. Quer über die Straße, zwischen den Passanten hindurch, über rote Ampeln und über Zäune hinweg. Als er atemlos den Bahnsteig erreicht, ist der Zug noch nicht einmal eingefahren.


OKTOBER 1939, ZAMOSC

Von seinem eigenen unsteten Atem geweckt, spähte Edward ängstlich ins Dunkel des Zimmers. Ein leises Knirschen, ein Rascheln. Mit einem Mal war er hellwach, stand leise auf und tastete sich atemlos vor Angst durch die schmale Tür in den Flur.
     Nur eine der Katzen mit einem Stück alter Zeitung. Edward kniete sich hin, versuchte, eine Ecke des Papiers zu fassen zu bekommen. Offenbar befand sich etwas zu essen darin. Mit der Nase schob sie es in eine Ecke, fort von ihm. Dann zog und zerrte sie, um an den Inhalt zu kommen. Er folgte ihr, drückte sie beiseite, hob das zerfetzte Päckchen auf und richtete sich auf.
     Maunzend sprang die Katze an seinem nackten Bein herauf, hinterließ rote Striemen vom Knie bis zum Knöchel. Edward biss sich auf die Lippen, machte einen großen Schritt beiseite und öffnete das Päckchen. Darin war Speck. Wo mochte das Tier ihn gefunden haben? Die Mutter, in ihrer Angst vor dem Einmarsch und den Plünderungen, musste ihn versteckt haben. Nicht gut genug für die hungrige Katze.
     Leise schlich er in die Küche und suchte ein sauberes Stück Zeitung. Sorgfältig schlug er den Schatz darin ein, dann legte er es mitten auf den Tisch und platzierte einen schweren tönernen Teller darauf, damit die Katze, die jetzt miauend zu seinen Füßen saß, nicht mehr herankam.
     Ein Knirschen im Flur ließ ihn wieder zusammenzucken. Im Gegensatz zu der nun hell erleuchteten Küche erschien ihm der Rest der Wohnung plötzlich finster, ja bedrohlich, und er musste sich überwinden hinauszugehen. So leise wie möglich schlich er von Zimmer zu Zimmer, überprüfte die Fenstergriffe, drehte sogar den Schlüssel der Haustür im Türschloss hin und her, obwohl er genau wusste, dass er sie am Abend abgeschlossen hatte.
     In der dunklen Wohnstube der Familie hielt er kurz inne, überlegte, ob er das Licht anschalten sollte. Nein. Er sollte nicht so ängstlich sein. Außerdem ging das Fenster zur Straße. Die neugierige Frau Regenreiter sollte nicht sehen, dass er zu einer solchen Uhrzeit wach war. Halb drei. Keine Uhrzeit für ein Kind. Er musste jetzt alles richtig machen.
     Zögerlich setzte er sich auf den Stuhl der Mutter. Wieder dachte er an den letzten Abend, den sie gemeinsam verbracht hatten, daran, wie ihre Hände über den Tisch gewandert waren. Nervös und rastlos. Und ohne dass er damit gerechnet hatte, schossen ihm plötzlich Tränen in die Augen.
     Aufgebracht stand er vom Tisch auf. Er durfte das nicht zulassen. Wenn er es allein schaffen wollte, musste er die Ruhe bewahren. Sich konzentrieren. Auf das Haus, die Arbeit. Er musste sich ernähren. Frau Regenreiter entgehen. Er musste … Einen Moment lang stand er mitten im Raum, wusste nicht wohin.
     Plötzlich kraftlos ließ er sich auf die Knie sinken. Der Kampf war zwecklos, sein Kopf viel zu schwer, die Tränen nicht mehr zu halten. All die verbotenen Gedanken hatten sich losgemacht, die Knebel ausgespuckt. Was sollte geschehen, wenn es zum Einmarsch kam? Was, wenn der Vater stirbt? Ja, der Vater stirbt! Wie Boleslaw und Genowefa. Langsam ließ er sich zur Seite fallen, rollte sich ein und hielt seinen zitternden Körper. Er musste an sich halten, um nicht zu schreien, würgte die Schluchzer herunter und schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn, hinter der nichts mehr war als diese böse Trauer, die alles zerstören wollte. Nein, die Nachbarn durften ihn jetzt nicht hören. Sie durften nicht wissen, dass er schon jetzt nicht mehr konnte!
     Und dann war es vorbei. Ganz plötzlich. Von einem Moment auf den anderen. Langsam setzte er sich auf, befühlte seine Glieder wie ein Schiffbrüchiger. Die Uhr über der Kommode sagte ihm, dass nicht mehr als zehn Minuten vergangen waren, seit er das Wohnzimmer betreten hatte.
     Am nächsten Tag - zehn Tage nach dem Bombardement - hörte Edward auf, zur Schule zu gehen. Immer mehr Eltern behielten ihre Kinder zu Hause, seit die Bomben auf Zamosc gefallen waren. Den Vormittag verbrachte er im Haus mit seinem Schachbrett. Tadeusz hatte es für ihn und den Vater gemacht. Schon seit Monaten hatte Wladyslaw Kraj nicht mehr gegen Edward gewonnen, und er war so stolz auf den Sohn gewesen, dass er versprochen hatte, ihn im Dezember zum Schachwettbewerb nach Lublin zu bringen, von dem sie in der Zeitung gelesen hatten.

zu Teil 3