Vorgeblättert

Leseprobe zu Sabine Kray: Diamanten Eddie. Teil 1

17.02.2014.
5. MAI 1971, MÖNCHENGLADBACH

"Guten Morgen, Herr Kray!" Das blasse Gesicht der hübschen Bäckerin hellt sich auf, als er den Laden betritt. "Eine Schnecke und einen Tee dazu?" "So ist es!", sagt er lächelnd und breitet die Zeitung, die er am Kiosk gekauft hat, auf dem kleinen Stehtisch aus. Er hat sich Münzen geben lassen vom Zeitungsverkäufer, denn die Bäckerin hat es nicht gern, wenn er mit großen Scheinen bezahlt. Nachdem er die erste Seite studiert hat, blättert er weiter. Todesanzeigen. Er meidet diese Rubrik, will gerade wieder umblättern, als sein Blick an einer großen Anzeige hängen bleibt. Kolja Herz verabschiedet sich von seiner großen Liebe und Freundin, Ida Herz. Geboren am 12. 2. 1916, gestorben am 28. 4. 1971. Darunter findet er ein Gedicht: Voll von Freun- den war mir die Welt/ Als noch mein Leben licht war;/ Nun, da der Nebel fällt,/ Ist keiner mehr sichtbar./ Wahrlich, keiner ist weise,/ Der nicht das Dunkel kennt,/ Das unentrinnbar und leise/ Von allen ihn trennt. Die Zeitung verschwimmt vor seinen Augen, und als er den Blick hebt, ist der kleine Raum um ihn herum in Nebel getaucht. Den Kopf in die Hände gestützt, lässt er die Erinnerungen an Ida noch einmal an sich vorüberziehen. Der Tag, an dem sie sich kennengelernt haben. Die Schnäpse, die sie nachts in ihrem Keller unter dem Geschäft getrunken haben, wenn er ihr wieder einmal etwas zum Aufbewahren gebracht hatte. Nie hatte sie gefragt, worum es sich handelte, nie gezögert, es anzunehmen.
     Warum er sie seit fast sechs Jahren nicht mehr besucht hat, weiß er nicht zu sagen. Was ist in der Zwischenzeit mit ihr geschehen? Wie hat sie sich so verändern können, dass sie - er hebt den Kopf, will den Gedanken nicht zulassen, kann ihn doch nicht zurückhalten: Sie hat es beendet. Das Leben, für das sie so hart gekämpft, das sie später so gierig aufgesogen hat. Genau wie er. Sie sind sich so ähnlich gewesen. Zu ähnlich. Niemals hätten sie miteinander alt werden können. Nun wird er ohne sie weiterleben.

Marianne erwartet ihn vor dem kleinen Café neben der Brauerei des Füchschens auf der Ratinger Straße in Düsseldorf. Sie hat die Knie fest übereinandergeschlagen, ihr Gesicht ist seltsam rund und aufgedunsen. Doch sie hat noch immer diesen resoluten, entschlossenen Blick und das gleiche sehnsuchtsvolle Lächeln, mit dem sie ihn damals, 1945, am Bahnhof begrüßt hat. Strahlend entknotet sie ihre dünnen Beine und springt auf, um ihn mit einer überschwänglichen Umarmung willkommen zu heißen. "Eddie! Wie schööön, dich zu sehen!" Sie übertreibt wie üblich und hält ihn ein wenig länger an sich gedrückt, als es ihm lieb ist.
     Sie hat ihn noch nicht ganz wieder losgelassen, als sie auf der anderen Straßenseite einen Bekannten erspäht. "Ewald!", ruft sie über seine Schulter hinweg. "Ewald!" Der Gerufene bleibt stehen und kommt auf sie zu. Ihre Hand ruht noch immer auf Edwards Hüfte: "Ewald! Ich muuuss dir meinen guten Freund Eddie vorstellen." Die Männer schütteln sich die Hand, während Marianne ihre Schulter dicht an die Edwards drängt.
     Er muss an die siamesischen Zwillinge in Indiendenken, von denen der Stern vor einigen Wochen berichtet hat. An der Schulter und an den Hüften zusammengewachsen, tun sie alles gemeinsam, und niemand kam bisher auf die Idee, sie voneinander zu erlösen, bis ein amerikanischer Arzt das Dorf besuchte. Er bot eine kostenlose OP an. Doch obwohl sie keine inneren Organe teilen, zögern die Eltern, sie voneinander zu trennen, denn auf die Frage, was sie als Erstes täten, wenn man sie trennte, wissen sie nichts zu sagen.
     Marianne redet noch immer auf Ewald ein, der es offenbar eilig hat und schon versucht, sich zu verabschieden. Doch auf Mariannes Atem liegt Schnaps, der sogar ihr dichtes Parfüm durchdringt, und sie bemerkt es nicht. Seufzend ergreift Edward ihre Hand und zieht sie zurück zum Tisch, wo ihre Zigarette in dem weißen Aschenbecher bereits abgebrannt ist.
     Der Tee, den die junge Bedienung bringt, ist trüb und schmeckt staubig. Edward beschäftigt seine Hand, indem er darin rührt, doch er trinkt nicht weiter davon. Eigentlich wollten sie die Details besprechen, aber sehr viel mehr als das, was sie ihm am Telefon gesagt hat, ist es nicht. "Sei nicht so laut", unterbricht er sie, als sie noch einmal das Sortiment aufzählt: Omega, Breitling, Rolex und einige andere.
     Ein wenig beleidigt sieht sie ihn an. Der Schnaps hat ihre Pupillen geweitet. Brav senkt sie trotzdem die Stimme: "Du musst es dir ansehen! Also, die Uhren, die nicht in der Auslage liegen, werden in einem eisernen Aktenschrank im Büro von Marias Chef aufbewahrt. Für eine kurze Zeit, bis sie einen weiteren Tresor in Betrieb nehmen. Die Zertifikate liegen woanders, Maria weiß nicht wo. Wenn sie eine verkauft, holt sie den Chef, der sucht dann das Zertifikat heraus." Er nickt, steckt die Hand in die Tasche und nimmt sein Geld heraus. Das Bündel ist dünn geworden, und er hofft, dass am Freitag alles glattgeht, wenn Hannes mit dem angebrannten Zeug zur Bank fährt. Er fummelt einen Zehnmarkschein heraus, dann legt er ihn auf den Tisch und erhebt sich.
     "Du gehst schon?" Hastig ist Marianne auf die Füße gesprungen. "Ja, ich werde mich beeilen. Bevor der Laden Mittagspause macht, möchte ich mir alles angesehen haben." Weil sein Mund vom Reden ganz trocken geworden ist, beugt er sich zu dem flachen Tisch, um jetzt doch einen Schluck des kalten Staubwassers zu trinken. Er hebt die Tasse, doch schon der Geruch ist so abstoßend, dass er sie wieder auf den Tisch stellt. Etwas von dem kalten Tee schwappt über den Rand, hinterlässt einen graubraunen Schleier auf dem weißen Unterteller. Energisch richtet er sich auf: "Grüß mir den Fred ganz lieb!" Marianne schneidet eine Grimasse und ihre langen dünnen Hände durchwühlen die warme Luft, die zwischen ihnen hängt: "Ach der Fred, der Fred! Der ist Geschichte!"
     Edward zuckt die Achseln, streckt die Arme aus und tippt ihr ganz leicht mit den Fingerspitzen auf beide Schultern: "Wir sehen uns heute Abend!" Dann dreht er sich um. Sie macht Anstalten, ihm zu folgen, ihre Stimme ist ein wenig spitz, als sie ihm hinterherruft: "Wohin gehst du danach?" "Geschäftliches erledigen, Marianne, dies und das. Später werde ich mir noch einmal alles von außen ansehen, danach komme ich zu dir." Er geht, dreht sich noch einmal zu ihr um: "Kann spät werden, ich werde klingeln, bis du wach bist." Beruhigt lässt sie sich wieder in den flachen Stuhl fallen und winkt.
     Schnell fällt er in seinen gewohnten Schritt. Über die Neubrückstraße, am Grabbeplatz entlang, auf die Heinrich-Heine-Allee, links auf die Theodor-Körner-Straße. In weniger als zehn Minuten hat er sein Ziel erreicht. Es ist 11:45 Uhr, und er ist noch immer durstig. Das Kaufhaus steht klobig vor dem blauen Himmel, ein eckiger Klotz, mit dem grünen Logo auf weißem Grund. Edward betritt es durch den Haupteingang. Noch 45 Minuten bis die Mittagspause beginnt.
     Als Erstes sucht er die Informationstafel. WC stehtvda ganz klein in einer Ecke auf dem Plan des ersten Obergeschosses. Entschlossen steigt er die träge Rolltreppe herauf, zwei Stufen auf einmal. Sein Anzug rutscht hoch und entblößt die dunkelroten Socken, die er unter der weichen braunen Hose trägt. Schnell hat er das die Toiletten gefunden.
     Die Wasserhähne über den angeschlagenen Waschbecken sind grünlich angelaufen und das Wasser, das herausschießt, als Edward den Hahn aufdreht, ist eiskalt und schmeckt ein wenig metallisch. Die Hand an der seidenen Krawatte, beugt er sich darüber und stillt seinen Durst. Einem Moment lang betrachtet er sein Spiegelbild, dann trocknet er die feuchten Lippen mit einem Papiertuch und richtet sich das Haar, bevor er wieder eintritt in die Welt der grellbunten Träume, die sich hinter der narbigen Holztür befindet.
     Die Ständer um ihn herum hängen voller Badeanzüge, Badekappen und Wasserspielzeug in allen Farben. Eilig schiebt er sich zwischen den Schnäppchenjägerinnen hindurch, zurück ins Erdgeschoss, vorbei an der Schmuckabteilung, ohne einen einzigen Blick auf die Ketten, Ringe und Broschen zu verschwenden. Der Bereich mit den Uhren befindet sich am hinteren Ende der Abteilung, drei glänzende, mit blauem Samt ausgeschlagene Vitrinen.
     Es ist nicht schwer, mit dem Verkäufer ins Gespräch zu kommen. Maria ist im Urlaub. Kauder steht auf dem Namensschild des jungen Mannes, er ist noch in der Ausbildung. Seine glänzende Krawatte hat er mit einem strammen Knoten über dem engen Kragen seines Hemdes fixiert. Der Junge ist noch keine zwanzig und ganz versessen darauf, sein Verkaufstalent unter Beweis zu stellen, während die erfahrene Kollegin, die ihn gern mit Poliertuch und Glasreiniger durch die Abteilung treibt, nicht da ist. Edward muss lächeln, nimmt sich dann aber zusammen und geht mit nachdenklichem Blick an den Vitrinen entlang.
     "Kann ich helfen?" Kauder blickt ihn über die Auslage hinweg mit jungen blauen Augen an. Edward hebt die Hand ans Kinn, sodass der Ärmel seines Jacketts ein wenig herunterrutscht und der Blick seines Gegenübers auf die feine Oyster Perpetual Datejust an seinem Handgelenk fällt: "Nun, ich bin auf der Suche nach einer Uhr und - es sollte etwas Außergewöhnliches sein dieses Mal."
     Erfreut beugt der junge Mann sich über die Vitrine und tippt dann eifrig auf das dicke Glas des Schaukastens: "Die Omega Speedmaster möchte ich Ihnen sehr ans Herz legen. Vom Hersteller wird sie auch als Moonwatch bezeichnet, denn ein Exemplar dieser Serie war an Buzz Aldrins Handgelenk, als er vor zwei Jahren gemeinsam mit Neil Armstrong den Mond betrat. Moonwatch, verstehen Sie? Mond-Uhr!" Edward versteht, folgt ihm ans Ende der Vitrine und betrachtet das Stück.
     Er kann sich genau an den Tag erinnern. An den 21. Juli 1969. In der JVA Willich. Den Nachmittag hatten die Häftlinge vor dem winzigen grauen Fernseher im Aufenthaltsraum verbringen dürfen. Sie saßen auf den Stühlen aus dem Speisesaal, ein improvisiertes Kino, wer wollte, konnte dort die gesamte Berichterstattung verfolgen. Die meisten wollten. Edward war der Erste gewesen, hatte einen Platz in der zweiten Reihe gewählt. Einige Minuten lang
war er dort mit den Bildern aus Cape Canaveral allein gewesen.
     Was für eine skurrile Fantasie von der Zukunft. So weit entfernt von den Männern in der JVA. Die Grenzen der Welt waren hier ganz nah gewesen. Stets zu ertasten: raue, nachlässig lackierte, eiserne Türen. Durch ein Fenster am anderen Ende des Raumes hatte er den Himmel sehen können. Ein merkwürdiges Prickeln hatte sich in seinem Nacken ausgebreitet, war unter dem groben Stoff der Anstaltskleidung seinen Rücken herabgewandert, in seine Hände und die Fingerspitzen. Doch in der Enge des dunklen Zimmers mit dem schäbigen grauen Mobiliar war es einfach verglüht.
     Der junge Mann, der sich auf den Stuhl neben ihm gesetzt hatte, hatte nervös mit dem Fuß gewippt und auf einem Zahnstocher gekaut: "Endlich mal was anderes hier, wie?" Blonde Locken türmten sich über einem hübschen braungebrannten Gesicht: "Du bist doch Diamanten Eddie, nicht?" Edward hatte genickt: "Das stimmt. Und Ihr Name?" "Uli", hatte er geantwortet und ihm eine schnelle Hand entgegengestreckt. "Freut mich sehr, Mann! Hab schon viel von dir, äh Ihnen gehört." Nachdem sie ihre Zeit abgesessen hatten, haben sie sich draußen wiedergetroffen. Seitdem arbeiten sie häufig zusammen.
     Kauder wühlt in einem dicken Schlüsselbund, bis er den richtigen gefunden hat, dann öffnet er das Sicherheitsschloss und klappt die Vitrine auf. Er zieht die Auslage zu sich heran, sie läuft auf leisen Rädern, und entnimmt ihr zwei Uhren. "Die Speedmaster. Wir führen sie sowohl in Gold als auch in Stahl."
     Behutsam legt er die Uhren auf ein dunkelblaues Samtkissen und betrachtetet sie ehrfurchtsvoll: "In Gold ist sie natürlich ein ganzes Stück eleganter, strahlt Autorität und Glanz aus. Trotzdem finde ich, dass auch das
Modell in Stahl etwas für sich hat. Sie ist sportlich und so gesehen auch die echte Moonwatch, denn Aldrin trug natürlich das Modell aus Stahl."
     Edward nickt anerkennend, nimmt beide Uhren in die Hand, wiegt sie gegeneinander. Schließlich nimmt er die eigene ab und legt sie neben sich auf das dicke Glas der Vitrine. Kauder ist jetzt vollständig in seinem Element: "Die Astronauten haben natürlich weder ein Armband aus Stahl noch eines aus Gold getragen, sondern ein festes, ausgesprochen langes Band, das gleich mehrfach um das Handgelenk geschlungen wurde. Aber der Chronometer, der war aus Stahl." Edward betrachtet die stählerne Uhr an seinem Handgelenk, dann sieht er den jungen Mann freundlich an: "Sie ist wunderbar! Sie haben meinen Geschmack genau getroffen. Jetzt würden mich nur noch einige Daten zu dieser Uhr interessieren. Kann ich bitte das Zertifikat sehen?"
     Der Verkäufer zögert kurz, dann verstaut er die Uhren und führt Edward, wie erhofft, zum Büro des Chefs. Es ist ein fensterloser Raum, die Lampe über der Schreibmaschine, an der der Mann arbeitet, die einzige Lichtquelle. "Chef! Könnt ich den Schlüssel für den Schrank bekommen?", fragt der junge Mann seinen Vorgesetzten, der energisch in den Tasten der Schreibmaschine wühlt.
     Höflich bleibt Edward an der Tür stehen, nimmt die Umgebung in sich auf. Der Chef zieht einen Schlüssel aus der Brusttasche seines weißen Hemdes und erhebt sich mit einem schwerfälligen Grunzen. "Wer möchte etwas sehen?", fragt er mürrisch, dann fällt sein Blick auf Edward, und mit drei Schritten ist er bei dem eleganten Kunden. "Maierberg!", sagt er und schüttelt ihm verbindlich die Hand. "Sie interessieren sich für eine Uhr aus unserem neuen Schweizer Sortiment?"
     Edward nickt: "So ist es." "Wie erfreulich! Hocherfreulich!", grinst Maierberg und geht mit seinem Schlüssel zu dem Aktenschrank, der mintgrün und protzig in einer Ecke des kleinen Raumes steht. Mit einem lauten Knacken springt das Schloss, das sich ganz oben auf der rechten Seite befindet, auf, und mit einem enthusiastischen Seufzer zieht Maierberg die mittlere Schublade zu sich heran. Edward macht einen vorsichtigen Schritt zur Seite, denn der Mann versperrt ihm die Sicht. Und es stimmt. Im Inneren des Schrankes befinden sich mindestens zwei Dutzend lederbezogene Schachteln. Dahinter eine Reihe von Registern. Rolex, Omega und Patek Philippe kann Edward auf den schmalen Plastikreitern erkennen, und für ein paar Sekunden fühlen sich seine Hände so leicht an, dass er sie eilig in die Hosentaschen steckt.
     Während die beiden Männer damit beschäftigt sind, das richtige Zertifikat herauszusuchen, untersucht er das Schloss der Tür, die in das Büro führt. "Da ist es ja!" Jetzt übernimmt der Alte das Verkaufsgespräch. "Sie können auch mit einem Scheck bezahlen, kein Problem", sagt er, während er das Zertifikat präsentiert. Edward betrachtet es eingehend. Der Mann redet weiter: "Sie sehen, das ist Handwerk, das noch in zweihundert Jahren Maßstäbe setzen wird!" Edward nickt zustimmend, wiegt die Uhr in einer Hand und stellt noch einige sachkundige Fragen, dann verabschiedet er sich mit dem Versprechen, am Wochenende wiederzukommen, wenn er den Kauf in Ruhe überdacht hat.

zu Teil 2