Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung, Teil 2

12.05.2014.
Die Massenkultur will dagegen die Dinge nur einfacher machen. Um dies zu erreichen, entfernt sie sich von der Realität und bietet somit die Möglichkeit zur "Flucht" - oder aber sie rückt so nah an die Realität heran, dass von Abstraktion keine Rede mehr sein kann und es möglich wird, das eigene Leben als eine Form der Kunst zu betrachten (was zum Beispiel bei einem Roman wie Sholem Aschs East River der Fall ist). Sogar die politische Diskussion wird zu einer Form der Unterhaltung und eine Abwehr von Erfahrung: Dadurch, dass sie ein festes System politischer und moralischer Haltungen bereitstellt, schützt sie uns vor dem Schock der Erfahrung und verschleiert unsere Hilflosigkeit. Das Kino, das Theater, Bücher, Magazine, Zeitungen - das ganze System der Massenkultur als Hersteller und Lieferant von Ideen, Gefühlen, Haltungen und Lebensstilen -, all das gibt unserem Leben seine Form und Bedeutung. Massenkultur ist die Leinwand, durch die wir die Wirklichkeit wahrnehmen, und der Spiegel, in dem wir uns selbst sehen. Letzten Endes zielt sie sogar darauf, die Realität zu ersetzen (in diesem Sinn ist Kunst, wie Clement Greenberg bemerkt, in unserer Kultur wichtiger als jemals zuvor).
     Genau diese Erfahrung einer Entfremdung von der Wirklichkeit ist die charakteristische Erfahrung unserer Zeit. Der moderne Intellektuelle, und besonders der Schriftsteller, steht daher vor der Notwendigkeit, eine Erfahrung zu beschreiben und zu verdeutlichen, die ihn eigentlich des Vokabulars beraubt hat, das er für die Auseinandersetzung mit ihr braucht. Der Schriftsteller, dem an einer echten Wiedererschaffung des Lebens gelegen ist, sieht sich dazu gezwungen, die Bedeutungen von Erfahrung noch einmal ganz neu zu denken und aus seinem eigenen Verstand und Gefühl heraus nicht nur den literarischen Gegenstand zu erschaffen, sondern auch seine Bedeutsamkeit und seine Berechtigung - er muss gewissermaßen sein eigenes Publikum erfinden.
     Das ist der Ursprung des sprachlichen Problems in der modernen Literatur - das nicht nur darin besteht, dem Leser die Besonderheit einer Erfahrung zu vermitteln, sondern auch und noch viel stärker dem Schriftsteller selbst zu ermöglichen, überhaupt eine bedeutsame Erfahrung zu machen. Darin liegt kein Paradox, denn nur mit einem brauchbaren Vokabular - also mit "gültigen" emotionalen, moralischen und intellektuellen Reaktionen, die sich in Sprache ausdrücken lassen - können wir wirklich begreifen, was wir tun und was mit uns geschieht. Der Schriftsteller ist par excellence ein Mensch des bewussten Erlebens; das Problem der Erfahrung und das Problem einer Sprache für eben diese sind für ihn ein und dasselbe.
     In der modernen Dichtung wird dieses Problem meist durch einen aufdringlichen Gebrauch von Ironie gelöst. Wenn ein Dichter das Vokabular der Massenkultur auf einen ernsteren Kontext anwendet, verleiht er zugleich seiner Ablehnung derselben Ausdruck wie der Schwierigkeit, sie zu überwinden, wobei diese Ironie durch einen negativen Anklang, auch noch einen Hauch von unverbrauchter und bedeutungsvoller Erfahrung vermitteln kann - oder genauer gesagt: Sie kann erahnen lassen, was unverbrauchte und bedeutungsvolle Erfahrung sein könnte, wenn es einen Kontext und ein Vokabular dafür gäbe.
     Das ist bis zu einem gewissen Grade eine mögliche Lösung, aber ihre Grenzen sind offenkundig: Man kann nicht eine ganze Literatur auf Ironie gründen. Zudem ist der ironische Gebrauch von Sprache zwangsläufig so unbestimmt, dass er leicht vom "Negativen" ins "Affirmative" umschlägt. Und sobald das passiert, wird er zum Teil der Massenkultur, der zu entkommen er doch bemüht war. Der Gebrauch der Ironie in "affirmativer" Absicht ist gewöhnlich ein Hilfsmittel, um Banalitäten indirekt und unter Vorbehalt von sich zu geben und damit ihren Mangel an echtem Gehalt zu verschleiern: Es ist eine Technik der Verfälschung. Das deutlichste Beispiel hierfür ist der "amerikanische" Stil zaghafter Unklarheit, den Schriftsteller wie Archibald MacLeish und Norman Corwin pflegen.
     Der seriöse Prosa-Autor kann nicht einmal auf diese halbherzige Lösung zurückgreifen: Er muss eine Methode entwickeln, Erfahrung direkt zu verstehen und zu vermitteln - wie sie wirklich ist, wie sie sich wirklich anfühlt. Immer wieder merkt er, dass er seine Erfahrung auf keine Weise wahrzunehmen und verarbeiten kann, die in irgendeiner Form für ihn gültig und fruchtbar ist. Der Schriftsteller lebt inmitten der Massenkultur, er macht seine Erfahrungen durch die Massenkultur, die Wörter und Ideen, die ihm so leicht, so natürlich zufliegen, sind die Wörter und Ideen der Massenkultur. Er kann dem Problem nicht entkommen: Es gibt keinen Winkel der Literatur oder der Erfahrung, in dem er nicht darauf stößt. Und jeden Tag muss er es auf Neue lösen.

Das Problem beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die Vereinigten Staaten. Doch nirgendwo hat es solche Ausmaße angenommen wie hier: Die Europäer stehen dem erst ansatzweise gegenüber, bei den Russen wäre es kaum angemessen, das überhaupt ein Problem zu nennen - für sie ist jede Diskussion vorbei.
     Richtig ist auch, dass das Problem nicht plötzlich in den dreißiger Jahren entstanden ist - T.S. Eliots Gedichte sind ein hinreichender Beweis für das Gegenteil. Doch für die amerikanischen Intellektuellen unserer Zeit liegt, wie ich zu zeigen versucht habe, der Kern des Problems in der politisch-intellektuellen Strömung der Dreißiger. Das Problem bildete sich über viele Jahre und durch verschiedene historische Faktoren heraus, aber es stellte sich in den Dreißigern. Es ist daher unsere zentrale intellektuelle Aufgabe, die Erfahrung dieser Jahre methodisch zu verarbeiten, wenn auch nur, um unser kulturelles Versagen in seinem ganzen Ausmaß begreifen.
     Es wurden nur wenige ernstzunehmende Versuche unternommen, sich mit dieser Erfahrung auseinanderzusetzen, am gelungensten sind noch Edmund Wilsons Erinnerungen - eine geradezu heroische Anstrengung, eine triftige emotionale und moralischen Antwort auf das moderne Leben zu finden. Wilson spricht das Problem des Fühlens direkt an: Sein Buch läuft darauf hinaus, dass die moderne Welt an einer Erstarrung des Gefühls leidet. Wilson vermittelt das Wesen dieser Erstarrung so überzeugend, dass er bei all den Vorwürfen, die gegen das Buch erhoben wurden, auch einen sehr amüsanten auf sich gezogen hat: Dass es "nicht einmal" gute Pornografie sei. Doch da er eine Welt geschaffen hat, die ihre Fähigkeit zum Fühlen eingebüßt hat, muss er auch eine stichhaltige Antwort auf diese Welt geben. Er löst das Problem, indem er die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verwischt - in Träumen sind heftige, direkte Emotionen noch erlaubt -, doch auch dieser Ausweg offenbart ein Scheitern und zeigt wieder einmal die Schwierigkeit (vielleicht die Unmöglichkeit), eine eindeutige Lösung zu finden. Am Ende fehlen ihm - fast buchstäblich - die Worte: Er gibt einen "Schlüssel" zu dem Buch auf Französisch, als könnte der Klang einer fremden Sprache selbst vor ihm die Tatsache verbergen, dass seine Mittel nicht wirklich ausreichten (übrigens ist die fast einhellige Ablehnung von Wilsons Buch auch bei denen, die seine Bedeutung sehr klar hätten erkennen müssen, ein weiteres Zeichen unseres intellektuellen Unvermögens).

Lionel Trillings Roman The Middle of the Journey ist sogar ein expliziter Versuch, den Stalinismus aufzuarbeiten: Der Held, John Laskell, ein intellektueller Sympathisant der Kommunisten, sieht sich nach bestimmten Erlebnissen gezwungen, die ideologischen und kulturellen Grundlagen seines Lebens noch einmal zu überprüfen; am Ende trifft er nach einer Reihe persönlicher Begegnungen seine Entscheidung, wendet sich vom Kommunismus und der ganzen intellektuellen Atmosphäre um ihn herum ab und sucht nach einer neuen Weltanschauung, die mit der eigenen Erfahrung besser im Einklang steht.
     Trillings Roman ist literarisch weniger gelungen als Wilsons, doch ist er - zum Teil aus eben diesem Grund - ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie hilflos letzten Endes auch ein anspruchsvoller Schriftsteller der Massenkultur gegenüberstehen kann.
     Trilling beweist ein großes Gespür für das Problem des amerikanischen Intellektuellen und erkennt auch, dass sein Kern in der kommunistisch-linken Tradition der dreißiger Jahre liegt. Seine Position ist nicht gerade unangreifbar, aber immerhin solider als die meisten: Er nimmt von allen ernstzunehmenden intellektuellen Strömungen unserer Zeit etwas auf, doch hat er sich vom allgemeinen Leben der amerikanischen Gesellschaft nicht soweit entfernt, dass er dafür nicht Verständnis und Sympathie aufbringen könnte. (Das erfordert natürlich eine gewisse "Anpassung" und zieht somit eine Uneindeutigkeit in Haltung und Empfindung nach sich. Aber niemand kann dem wirklich entkommen; auf lange Sicht ist es wahrscheinlich besser, die Uneindeutigkeiten an der Oberfläche zu halten.) Trilling besitzt Intelligenz und Aufrichtigkeit, mehr noch, er hat ein klares Gespür für alle Varianten der Unaufrichtigkeit - das ist sein bester Schutz. Schließlich ist er ein talentierter Schriftsteller: Einige Passagen in dem Roman sind eindringlich, fantasievoll und schön geschrieben.
     Wie verschiedene Kritiker bemerkten, lehnt sich Trilling stark an E.M. Forster an. Wie Forster bringt er seine Figuren regelmäßig in Situationen, auf die sie moralisch nicht vorbereitet sind; die Spannungen und Neuanpassungen, die sich aus diesen Konfrontationen ergeben, machen den Roman aus. Und ebenso wie Forster lässt sich Trilling nicht durch die erforderliche Künstlichkeit der Literatur in Verlegenheit bringen: Er versteht die Romanform als ein ausgedachtes Gebilde, das auf bestimmte Art manipuliert werden muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Deshalb widmet er bereitwillig einen Großteil seines Buchs der Schilderung ernsthafter Diskussionen und Überlegungen, ohne sich jemals zu einem indirekten Vorgehen genötigt zu fühlen. Ebenso bedenkenlos gebraucht er melodramatische Wendungen als bequemes Mittel, um Argumente anzubringen und die Situationen zu schaffen, auf die er hinaus will; er bemüht sich nicht einmal zu kaschieren, wie sehr sich sein Roman und Forsters Howards End in der Konstruktion der Höhepunkte ähneln. Diese gewöhnliche Herangehensweise gibt dem Buch eine Kargheit, die an Armut grenzt - was allerdings für Forster selbst nicht zutrifft, der im Gegensatz zu Trilling ein großes Gespür für vielschichtige Charaktere und großen Witz besaß. Bei einem weniger bedeutendem Schriftsteller als Forster ist die Kargheit jedoch eine Tugend: Es ist sozusagen ehrliche Armut, als hätte Trilling beschlossen, allein auf die Intelligenz zu zielen und auf Gefühle nur in dem Maße, wie sie der Intelligenz unterliegen. Doch es ist eine Tugend auf der privaten Ebene - oder zumindest auf der Meinungsebene. So kann Trilling Erfahrungen behandeln, ohne sich intellektuell bloßzustellen: Er bannt seine Leser kraft seines Verstandes - wir stünden wahrscheinlich besser da, wenn es mehr von seiner Sorte gäbe. Aber er weiß nichts vom Erleben als Erfahrung; dem Fühlen - und damit der Kunst - stellt er sich nicht.
     Besonders deutlich wird dieses Ausweichen, wenn man sich vor Augen führt, wie viel Erfahrung mit dem Stalinismus Trilling einfach weggelassen hat. Für einen Schriftsteller mit großem Bewusstsein für psychologische Komplexitäten zeigt er erstaunlich wenig Interesse an den tieferen Schichten unserer inneren Motive: Getragen von der Idee der Verantwortung, erweckt er den Eindruck, als wäre es vor allem eine Frage der philosophischen Entscheidung, ob man dem Stalinismus erliegt oder ihm widersteht. Selbst bei einer Figur wie Gifford Maxim, dessen schuldbeladene Konversion vom Stalinismus zur Religion einfach tiefenpsychologischen Mustern folgt, lässt Trilling lieber die eigentlich auf der Erfahrung beruhenden Gründe seines Handelns im Ungefähren: Wir erfahren nicht, ob Maxims Schuld real ist, wahnhaft oder metaphysisch. Solche Unbestimmtheit hat Trilling natürlich gewollt, sie entspricht seiner Vorstellung von Maxims Charakter, derzufolge seine Motive im Unklaren bleiben müssen; aus der These des Buchs ergibt sich implizit, dass innere Motive nicht wirklich "zählen". Doch letzten Endes beruhen eine solche These und eine solche Auffassung von Charakter auf der Annahme, man gehe am sinnvollsten mit Erfahrung um, indem man ein Urteil über sie fällt - aber das passt nicht zu einem Schriftsteller.

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