Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung. Teil 1

12.05.2014.
I. Populärkultur in Amerika

Das Erbe der dreißiger Jahre

Die kommunistische Bewegung der dreißiger Jahre war für die meisten amerikanischen Intellektuellen eine entscheidende Erfahrung. In Europa, wo die Bewegung zugleich stärker und populärer war, machte sie nur eine Strömung von vielen im intellektuellen Leben aus; die Kommunisten konnten niemals völlig den Ton des Denkens in Europa angeben, und die kommunistischen Intellektuellen waren immer auch in der Lage, sich ihre Nahrung außerhalb der Bewegung zu suchen. Doch hier gab es eine Zeit, in der nahezu die ganze intellektuelle Dynamik von der kommunistischen Partei ausging. Befand man sich nicht im weitreichenden Orbit der Partei, gehörte man wahrscheinlich zur Opposition, was bedeutete, dass man ein großes Maß seines Denkens und seiner Energie darauf verwenden musste, sich dort zu behaupten.
     In beiden Fällen bestimmte letzten Endes die kommunistische Partei, wie man worüber denken sollte und zu welchen Bedingungen. Das führte zu einer verhängnisvollen Vulgarisierung des intellektuellen Lebens, die das Wesen der amerikanischen Linken und ihres radikalen Flügels ausschlaggebend - und vielleicht dauerhaft - korrumpierte. Um den Schaden zu ermessen, muss man nur die Atmosphäre, die den Prozess gegen Sacco und Vanzetti 1927 umgab, mit derjenigen vergleichen, die zehn Jahre später während der Moskauer Prozesse und dem Spanischen Bürgerkrieg herrschte. Tatsächlich erinnern wir uns auch deshalb so schmerzlich an Sacco und Vanzetti, weil diese Erinnerung verbunden ist mit dem Bedauern über unsere eigene verlorene Unschuld; die Aufregung, die den Prozess begleitete, war der letzte starke Ausdruck eines nicht-korrumpierten Radikalismus: 1927 wollte niemand etwas anderes, als dass die Gerechtigkeit siegen sollte. Doch in den dreißiger Jahren trat der Radikalismus in eine Ära der organisierten Unaufrichtigkeit, als hinter jeder Handlung und jeder Idee höhere Erwägungen standen, die ihre Ehrlichkeit und ihren Sinn untergruben. Jedermann wurde zu einem Berufspolitiker und agierte nach den Vorgaben des "Realismus", der den politischen Aktivismus zu einem Selbstzweck zu machen drohte. Die Halbwahrheit stieg in den Rang eines Prinzips auf, und schließlich wurde diese halbe Wahrheit zu etwas erstrebenswerterem als die ganze Wahrheit. Damals war es Mode, von einer "neuen Reife" im intellektuellen Leben Amerikas zu sprechen, und in gewisser Weise war dieser Satz zutreffend, doch handelte es sich dabei um eine Reife, die in Wahrheit eine willige Hinnahme des Scheiterns war.
     Hier ging es nicht nur um das Überlaufen eines Teils der Intelligenzija. Das gesamte Niveau des Denkens und Diskutierens, das Niveau der Kultur selbst war gesenkt worden. Die Agitation auf der Straße hatte sich mit der Ansprache zum 4. Juli verbunden. Ein Dichter wurde Leiter der Kongressbibliothek und warf Amerikas Intellektuellen vor, die Tatkraft des Landes zu schwächen. Father Divine nahm an der Mai-Parade teil. Früchte des Zorns wurde zu einem großen Roman. Am Ende galten Confessions of a Nazi Spy (Ich war ein Spion der Nazis) als ernstzunehmender Film und "Ballad for Americans" als inspiriertes Lied. Entstanden war die Massenkultur der gebildeten Klassen - die sogenannte Middlebrow-Kultur. Zum ersten Mal überhaupt schaffte es die Populärkultur, sich ideologische Unterstützung aus den fortschrittlichsten Milieus der Gesellschaft zu holen. Zwar senkte dies das Niveau der seriösen Kultur, es hob aber auch das Niveau - oder zumindest den Ton - der Populärkultur (1). Genau darin bestand das Problem. Es war unmöglich, Früchte des Zorns zu ignorieren, so wie man es mit Edna Ferber oder "Amos 'n' Andy" tun konnte. Früchte des Zorns hatte oberflächlich betrachtet alle Kennzeichen anspruchsvoller Literatur und sehr fortschrittliche Thesen. Um zu sehen, was daran nicht stimmt, musste man sich eben diese Thesen ansehen - und es gab keine gesicherte Basis, von der aus man dies tun konnte.
     Man muss nicht einmal behaupten, dass der Kommunismus im eigentlichen Sinne die Ursache für diese Entwicklung war. Vielmehr war die Bewegung in der Form, die sie in den zwanziger Jahren angenommen hatte, selbst ein Teil dieser Entwicklung. Die wirklichen Ursachen liegen viel weiter zurück in der amerikanischen Kulturgeschichte, ebenso wie in den sozialen und psychologischen Auswirkungen des industriellen Kapitalismus. Die kulturelle Atmosphäre der dreißiger Jahre umfasste sehr viele Bereiche des amerikanischen Lebens, die überhaupt nichts mit dem Kommunismus zu tun hatten; für die meisten Amerikaner kam diese Atmosphäre sicherlich am deutlichsten in der Person von Präsident Roosevelt zum Ausdruck und dem sozialen, intellektuellen und politischen Klima des New Deals. Für die Intellektuellen jedoch war der Kommunismus von zentraler Bedeutung; der New Deal blieb ein äußerliches Phänomen, Teil jener "gewöhnlicheren" Welt der amerikanischen Öffentlichkeit, von der sie sich schon lange verabschiedet hatten - sie waren vielleicht "für" den New Deal (wie später auch "für" den Krieg), aber sie identifizierten sich nie mit ihm. Sie identifizierten sich mit der kommunistischen Bewegung.

Wenn sich der amerikanische Intellektuelle also mit der tieferen Bedeutung der ihn umgebenden Massenkultur auseinandersetzen will, steht er vor dem Problem seiner eigenen Vergangenheit. Denn wir leben noch immer in dem intellektuellen Klima, das erst in den Dreißigern von Kommunisten, Linken und New-Deal-Anhängern erzeugt wurde (heute gibt es viele Leute, die niemals ein anderes Klima erlebt haben; das macht es so schwierig, die Entwicklung zu beschreiben). Die Kommunisten mögen zwar an Boden verlieren, aber die Diskussion ist noch immer geprägt von einer traditionellen Volksfront-Kultur der Mittelschicht, an der sie eifrig mitgearbeitet haben, und noch immer fehlen uns die Begriffe, um aus der Beengtheit auszubrechen, die mit dieser Kultur verbunden ist.
     In der Praxis werden Fragen rund um die kommunistische Bewegung vielleicht bald keine Rolle mehr spielen, tatsächlich tun sie das schon heute nicht mehr - als Thema hat sich der Stalinismus erledigt (wenn auch nicht als Gefahr). Aber wenn wir das moderne Leben in seinem Kern verstehen und bewerten wollen, bleibt der Stalinismus als Erfahrung eine Angelegenheit von besonderer Komplexität (2). Diese Erfahrung ist an sich und für alle, die von ihr betroffen waren, die wichtigste unserer Zeit; sie ist für uns das, was für die Generation zuvor die Auswanderung und der Erste Weltkrieg waren. Wenn unser intellektuelles Leben verkümmert und voller Frustrationen ist, dann liegt das vor allem daran, dass wir uns dieser Erfahrung nicht wirklich, sondern nur politisch gestellt haben - wieder und wieder haben wir unsere Gegnerschaft zum Stalinismus dargelegt, aber wir haben niemals zu verstehen versucht, worin seine Bedeutung als ein Teil unseres Lebens lag.
     Bei einem ernstzunehmenden Intellektuellen geht es nicht nur um Geschmacksverirrung oder mangelnde Urteilskraft, wenn er die Anmaßungen der "proletarischen Literatur" akzeptiert, wenn er der verbreiteten Meinung beipflichtet, dass Bury the Dead ein bedeutendes Kunstwerk sei, oder wenn er das Werk von Henry James schmäht, weil es sich nicht in den Mainstream der amerikanischen Tradition fügt. Dass diese und tausend andere derartige Verirrungen auch nur möglich waren, zeugt im Grunde von einer fatalen Ergebenheit, nämlich von freiwilliger Selbstkasteiung. Es bedeutete, dass das Urteil nicht länger frei war, oder zumindest, dass es Überlegungen gab, die wichtiger waren als das freie Urteil. Letzten Endes bedeutete es, dass der Intellektuelle sich verraten hatte - an den Druck, der ihn umgab, und an sein Gefühl von der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebte umgeben von den Beweisen seines Verrats: eine in Unaufrichtigkeit und geistiger Armut erstarrende Kultur, deren Teil er war.
     Selbst wer sich dieser Kultur kompromisslos entgegenstellte, konnte nur einen Teilsieg erringen - nur sehr wenige waren dazu überhaupt in der Lage, denn es brauchte dazu mehr, als nur ein Anti-Stalinist zu sein. Ein Einzelner bewahrte sich seine Integrität, doch diese Integrität wurde zu einer rein persönlichen Genugtuung: ohne echtes Gewicht - dabei war die einzige Annahme, auf die sich alle einigen konnten, dass es auf das Gewicht ankomme. Die Kultur blieb bestehen, expandierte und verfestigte sich, und ihre bloße Existenz - dieses Klima, in dem man leben musste - war eine ständige Bedrohung für die eigene Persönlichkeit, sie war in gewisser Weise eine tiefe, persönliche Demütigung (ist es nicht der ultimative Affront, dass diese Worte zu stark klingen - zu "persönlich"?). Mit jedem neuen Bury the Dead und jeder neuen politischen Debatte wurde die Demütigung tiefer und nachhaltiger, und es bildete sich mit der Zeit das Problem des amerikanischen Intellektuellen in der Form heraus, wie wir es heute noch kennen.
     Dieses Problem ist nicht so einfach zu lösen wie der Stalinismus, diese Frage ist, wie gesagt, geklärt: Der Stalinismus ist heute keine Frage des Standpunkts mehr, sondern ein soziologisches und psychologisches Phänomen. Es handelt sich an sich auch nicht um ein Problem linker Ideologie: Die Vorschläge der Linken können noch immer geprüft, angenommen oder abgelehnt werden. Das Problem des Intellektuellen ist es, seine Stellung in dieser ganzen Kultur zu definieren, die in den dreißiger Jahren entstanden ist - einer Kultur, in der er leben muss und an der er voll und ganz teilhat. Die Frage lautet daher nicht: Was ist meine Meinung zu all dem? Auf diese Frage lässt sich leicht eine Antwort finden, aber diejenigen, die nichts anderes wissen wollen, sind in die Falle gegangen, denn der größte Irrtum unseres intellektuellen Lebens besteht genau in dem Glauben, dass man sich am wirkungsvollsten mit einem Phänomen auseinandersetzt, wenn man eine Meinung dazu hat. Die wahre Frage lautet daher: Was ist mein Verhältnis zu all dem?

Das ist für uns eine schwierige Frage, denn das eigene Verhältnis zur Erfahrung ist eine Sache des Gefühls, und zur Verfügung steht uns allein ein Vokabular des Meinens. Das intellektuelle Leben der dreißiger Jahre und die Kultur, die daraus hervorging, haben vor allem dazu beigetragen, den emotionalen und moralischen Gehalt von Erfahrung zu verzerren, letzten Endes zu zerstören und an seine Stelle ein Schema konventioneller Reaktionen zu setzen. Der Sinn der Massenkultur liegt ja eben darin, dass sie uns von der Notwendigkeit befreit, das eigene Leben direkt zu erfahren. Die anspruchsvolle Kunst ist ebenfalls von der Realität losgelöst, denn sie erlaubt es uns, über eine Erfahrung nachzudenken, ohne persönlich involviert zu sein - eine Flucht ist sie jedoch nicht: Eben durch ihre Distanziertheit eröffnet die Kunst neue Möglichkeiten, Verstehen und Vergnügen aus der Realität zu ziehen, und bereichert so unsere eigene Erfahrung.

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(1) In seinen frühen Essays unterscheidet Warshow noch nicht zwischen einer negativ konnotierten, formierenden "Massenkultur" und einer von der Kreativität des Publikums ausgehenden "Populärkultur", sondern benutzt die beiden Begriffe synonym (Anm. d. Übers.).

(2) Stalinismus ist natürlich kein neutraler Begriff, doch in vielen Kontexten ist die Konnotation des Wortes Kommunismus zu breitgefächert. Wir brauchen einen Begriff, der die kommunistische Bewegung nach ihrer bürokratischen Degenerierung und ihrer Wandlung in ein Vehikel für Massenkultur und anderes beschreibt. Stalinismus ist das einzige Wort, das diesen Zweck erfüllt. Das Wort wird selbstverständlich all denen als völlig unzulässig erscheinen, die sich des Phänomens, auf das es sich bezieht, nicht bewusst sind.

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