Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Kindler: Stalins Nomaden. Teil 2

03.03.2014.
Symptome des Zerfalls

Die Hungernden begannen, alle Arten von Gräsern und Pflanzen als Ersatznahrung zu sich zu nehmen. Sie aßen Hunde, Katzen, Vögel, Mäuse, was immer sich in den Dörfern und Aulen einfangen ließ. Es wurden verendete Pferde und Kühe entbeint und verzehrt, bereits bestattete Pferde ausgegraben und zubereitet.28 Doch mit solchen Surrogaten ließ sich nur eine begrenzte Zeit überbrücken. Danach blieb den Menschen keine andere Wahl, als ihre Heimatregionen zu verlassen. Sie schleppten sich in größere Orte, zu Bahnstationen, Sovchosen und Großbaustellen, denn bis in die Aule und Dörfer konnten Lebensmittel für die Bedürftigen, so überhaupt welche kamen, oft mangels Transportmöglichkeiten nicht geliefert werden.(29)
     Der 1928 geborene kasachische Schriftsteller Gafu Kairbekov erinnerte sich an seine Kindheit und die Szenen, die er in Turgaj zu Gesicht bekam. "Dieses Städtchen, ein Kreiszentrum, steht auf einem erhöhten Punkt. Unten befindet sich ein Flüsschen, alle Straßen führen darauf hin. Wir Kinder laufen barfuß zum Fluss. Auf den Straßen sind Leute, viele erwachsene Menschen. Sie sind nicht in der Lage zu laufen und bewegen sich auf allen vieren. Langsam, mit letzter Kraft. […] Manche können sich schon nicht mehr bewegen und liegen wie Holzstämme herum. Wir bewegen uns durch sie hindurch. Als wir den Fluss erreichen, muss man über mehrere Leichen steigen. Dort, am Wasser, wird Vieh geschlachtet. Zu diesem Ort des Schlachtens schleichen die Hungernden. Wem es gelingt, der trinkt das Blut der Tiere …"(30)
     In seiner klassischen Studie "Masse und Macht" hat Elias Canetti darauf hingewiesen, welche Folgen die ständige Bedrohung durch Gewalt und Hunger für "Fluchtmassen" hat. Solche Gruppen seien zunächst durch ein außerordentlich hohes Maß an innerem Zusammenhalt gekennzeichnet, das einerseits durch die Hoffnung auf Rettung und andererseits durch externe Bedrohungen zustande komme. Geeint durch ein gemeinsames Ziel und die hinter ihnen liegende Gefahr kooperierten die Menschen. Selbst wenn die Aussicht auf Erlösung allmählich schwinde, hielten die Fliehenden weiter zusammen.(31) Ähnlich hat es auch Wolfgang Sofsky beschrieben. Die Massenflucht entfalte eine "egalisierende Wirkung", denn "die Bewegung der vielen stiftet Solidarität jenseits der individuellen Selbsterhaltung".(32) Doch je prekärer die Umstände, desto fragiler wird der Zusammenhalt der Flüchtenden. Blockieren Hindernisse ihren Weg, erodiert er schließlich ganz. Die Menschen verfallen in Panik und werden einander schließlich sogar zu Feinden. "Am Ende flüchtet jeder nur mehr für sich selbst."(33) So war es auch bei den kasachischen Flüchtlingen. Ihre Gemeinschaften zerfielen auf den oft monatelangen Trecks durch die Steppe. Vieles deutet darauf hin, dass sich solche Desintegrationsprozesse besonders schnell vollzogen, wo soziale Bindungen schwach ausgebildet und wenig belastbar waren.(34) Viele Flüchtlingsgruppen zerbrachen unter den Belastungen der Flucht und der Bedrohung durch rote Truppen, erst in kleinere Einheiten. Später, als auch die letzten Vorräte aufgebraucht waren und keine Aussicht auf Hilfe mehr bestand, wurden die Hilflosen, Schwachen und Kranken zurückgelassen - wenn auch nicht jeder unter den Bedingungen existenzieller Not kompromisslos nur das tat, was dem eigenen biologischen Überleben diente.(35) Auf der Ebene der Kernfamilien endeten solche Zerfallsprozesse häufig. Die Kernfamilie blieb vielfach auch unter schwersten Bedingungen zusammen und versuchte, die Krise gemeinsam zu bewältigen. (36) Muchamet Sajachmetov etwa betont in seiner Schilderung der Odyssee, die seine Familie durch die Steppe unternahm, nur das hohe Maß an Solidarität zwischen seiner Mutter und ihren Kindern habe das Überleben aller möglich gemacht.(37)
     Je länger die Hungersnot andauerte, desto stärker stieg die Zahl elternloser Kinder. In allen Regionen Kasachstans wurden sie zu Tausenden aufgegriffen. Im Oktober 1932 registrierten die Behörden allein in den 17 Kreisen des Gebietes Ostkasachstan mehr als 12000 Waisen. Über 10000 von ihnen wurden von unterschiedlichen Organisationen "versorgt".(38) Mitte 1934 belief sich diese Zahl für ganz Kasachstan auf über 60000.(39) Aufgrund der immensen Todesraten in den Kinderheimen während der Jahre 1932/33 - in manchen Monaten starben mehr als zehn Prozent aller Insassen(40) - und der vielen Waisen, die nicht erfasst wurden, lag die Gesamtzahl in jedem Fall erheblich darüber. Viele hatten Eltern und Verwandte durch Krankheit und Tod verloren. Andere wurden ausgesetzt.
     Das Aussetzen von Kindern war eine Strategie, die das Überleben der arbeitsund reproduktionsfähigen Gruppenmitglieder sichern sollte, indem die Zahl "überflüssiger" Esser reduziert wurde.(41) Ein kasachisches Sprichwort brachte diese Logik auf den Punkt: "Wenn das Kamel stirbt, bleibt man zurück; wenn das eigene Kind stirbt, erreicht man die Karawane."(42) Doch dass Kinder bewusst ohne jede Aussicht auf Rettung verlassen wurden, kam eher selten vor.(43) Die meisten Eltern, die ihre Kinder zurücklassen mussten, versuchten verzweifelt, ihrem Nachwuchs zumindest eine theoretische Überlebenschance zu sichern. Manche hofften, bessergestellte Menschen würden sich ihrer Kinder annehmen. Sie legten Säuglinge vor Sowjetgebäuden ab oder drückten ihre kleinen Kinder vorüberfahrenden Fremden in die Arme.(44) Andere sahen keine andere Möglichkeit, als einzelne Kinder zu opfern. Der kasachische Literaturwissenschaftler Mekemtas Myrzachmetov berichtete Anfang der 1990er Jahre vom traumatischsten Ereignis seines Lebens: Im Sommer 1933 entschloss sich seine Mutter, den sicheren Hungertod vor Augen, mit ihm und seiner Schwester bei Verwandten Hilfe zu suchen. Auf dem Weg dorthin wurden sie von Wölfen angefallen. Die Tiere waren hungrig, denn in der Steppe gab es bereits seit Langem nichts mehr, was ihnen als Beute dienen konnte. Die Lage war aussichtslos. Entweder würden alle sterben, oder die Mutter musste den Tieren eines ihrer Kinder zum Fraß vorwerfen. Sie entschied sich, ihre Tochter den Wölfen zu überlassen. Für den Fortbestand ihrer Familie, erklärte sie später, sei der Sohn wichtiger.(45)
     Die Behörden waren mit der Situation überfordert. Bereits im März 1932 sah sich die Verwaltung der Stadt Semipalatinsk gezwungen, drei neue Kinderheime zu eröffnen, die mindestens 400 Kindern Platz bieten sollten. Mittel standen für diese Pläne indes nicht bereit, und in den bestehenden und völlig überfüllten Einrichtungen - zwölf an der Zahl - hungerten die Kinder.(46) Inspektionen und Revisionen förderten dramatische Zustände in kasachischen Kinderheimen zutage. Überall waren die Kinder unterernährt, viele litten an ansteckenden Krankheiten, die Heime waren schmutzig, und es fehlte selbst an den elementarsten Ausstattungsgegenständen. Teilweise saßen die geschwächten Insassen in ihren eigenen Exkrementen.(47) Mitunter zweigten Mitarbeiter einer Einrichtung Nahrungsmittel und andere Güter für sich selbst ab und überließen die Kinder ihrem Schicksal.(48) Im Ort Ozersk verwandten Funktionäre von 60000 Rubeln, die für das Kinderheim vorgesehen waren, lediglich 4000 für den eigentlichen Bestimmungszweck. Das restliche Geld blieb trotz intensiver Nachforschungen unauffindbar.(49) In Pavlodar schafften die Behörden alle in der Stadt aufgegriffenen Kinder in ein leer stehendes Haus. Die Verhältnisse waren verheerend. "Wir berichten nicht detailliert über die Sterbenden und die Toten, die sich im Hof vor dem Haus, in den Fluren und im Haus selbst befinden. Wir sagen nur in allgemeinen Zügen, dass die Kinder, die in diesem 'Asyl' untergekommen sind […] nur einmal am Tag eine kleine Menge Kascha oder Suppe bekommen […] sich auf dem Boden und auf dem Ofen im Schmutz wälzen, in absoluter Dunkelheit sich selbst überlassen sind, sie weinen, aber einige haben bereits nicht mehr die Kraft zu weinen, sie stöhnen und keuchen nur noch."(50) Dort, wo Unterstützung eintraf, reichte sie meist nicht aus oder erwies sich als für Kinder wenig geeignet. In manchen Kinderheimen erhielten Zöglinge jeden Alters über Tage und Wochen nichts als ungemahlenen Roggen, dessen Verzehr zu massenhaften Darmerkrankungen und Todesraten von mehr als 80 Prozent führte.(51)
     In einigen Orten begannen die Behörden damit, Kinder und Jugendliche in sogenannte Kinderkommunen in abgelegene Dörfer zu deportieren. Diese Orte wurden zu Todesfallen für ihre Bewohner. Als im Juli 1932 Inspektoren im Dorf Stekljanskoe, rund zwanzig Kilometer außerhalb von Semipalatinsk, eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. In einigen halb verfallenen Häusern, deren frühere Bewohner als "Kulaken" vertrieben worden waren, lebten ungefähr 500 Kinder - von 1200, die es wenige Wochen zuvor noch gewesen waren. Die anderen waren zwischenzeitlich gestorben oder hatten das Weite gesucht. Alle der Übrigen waren unterernährt, und viele litten an Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Nach Ansicht des einzigen Feldschers am Ort hatten die meisten von ihnen keine Überlebenschance. Die Unterkünfte waren völlig verdreckt, und die Versorgung mit Lebensmitteln unterlag dem Zufall. Der anwesende Teil des Personals erwies sich nach Ansicht der Inspektoren als ungeeignet, die übrigen Mitarbeiter hielten sich in Semipalatinsk auf und überließen die Kinder ihrem Schicksal.(52)
     Die verwahrlosten Waisenkinder stellten aus der Perspektive der führenden Genossen ein leidiges Problem dar, dessen Beseitigung sie immer wieder energisch einforderten. Funktionäre, die auf diesem Gebiet offensichtlich untätig blieben, wurden daher regelmäßig gerügt. Im November 1933 erklärte etwa der Parteisekretär des Kreises Janykurgansk auf einer Konferenz, dass sich in seinem Gebiet 400 obdachlose Kinder befänden, die eigentlich aus Mitteln des Oblast versorgt werden sollten, er aber bis dato noch "keine Kopeke" erhalten habe. Die "Sterblichkeit dieser Kinder" sei deshalb, und weil die für sie bestimmten Nahrungsmittel "gestohlen" worden seien, weiterhin hoch.(53) Doch die Hungerwaisen standen im hierarchisch organisierten System der Lebensmittelversorgung auf der untersten Stufe.(54) Sie konnten nicht auf Zugang zu den knappen Ressourcen hoffen, weil sie meist nicht imstande waren zu arbeiten. Hinzu kam, dass die für Kinderheime vorgesehenen Vorräte leicht veruntreut und für andere Zwecke eingesetzt werden konnten, da die unmündigen Zöglinge selten Beschwerde führten und die Gefahr der Entdeckung gering war. Kinder und Jugendliche flohen in Scharen aus den Heimen, in die sie gepfercht worden waren. Sie taten sich zu kriminellen Banden zusammen, die gemeinsam nach Essbarem auf Jagd gingen. Dem Einzelnen boten solche Gruppen Halt und einen gewissen Schutz vor Angriffen und Überfällen.(55)
     Wo alle Reserven verbraucht waren, verletzten manche Hungernde auch die letzten Tabus und begannen, Menschenfleisch zu verzehren. Nachrichten über solche Vorfälle verbreiteten sich rasch unter der Bevölkerung und versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. Wenn auf Basaren und Märkten Fleisch angeboten wurde, hieß es häufig, hier würden menschliche Überreste verkauft. Vor allem Kinder waren gefährdet, weil sie sich leichter einfangen ließen als Erwachsene und ihr Fleisch angeblich schmackhafter war.(56) Tatsächlich kam es immer wieder zu solchen Fällen.(57) Die meisten Kinder fielen dabei nicht Fremden zum Opfer, sondern Verwandten und Bekannten. Mitunter verzehrten sogar Eltern Teile ihrer verstorbenen Kinder.(58)
     Mancherorts bildeten sich Banden aus völlig verzweifelten Hungernden, die gemeinsam andere Menschen anfielen, um sie zu töten und zu verzehren. Auf dem Höhepunkt der Hungersnot war in einigen Regionen die Gefahr, die von diesen Gruppen ausging, derart hoch, dass es selbst gestandene Funktionäre mit der Angst zu tun bekamen, wenn sie dorthin abkommandiert wurden.(59) Mansur Gataulin beschrieb, was er im Juli 1932 in einem Kolchos in der Nähe von Karaganda erlebte: In den Viehställen, die er betrat, lag alles voller Leichen. "Ich ging zurück. Draußen hörte ich Schreie. Besinnungslose, verwirrte Frauen gingen mit Messern auf den Fahrer los und versuchten, ihn zu zerschneiden. Ich schoss in die Luft, und sie liefen davon. Die Frauen ließen einen Topf auf dem Feuer zurück, in dem noch Teile eines Kindes kochten."(60)
     Die OGPU verzeichnete insbesondere im Winter 1932/33 zahlreiche Fälle, bei denen Menschen in eine Falle gelockt, umgebracht und ausgeweidet wurden. "In der Nacht zum 4. März kam eine unbekannte kasachische Frau mit zwei Kindern, sechs und acht Jahre alt, durch den Aul Karamunij im Kreis Taldy-Kurgan. Sie bat darum, im Haus von Tojgembaev [einem Aulbewohner; R.K.] übernachten zu dürfen; gemeinsam mit einer Gruppe von sechs Leuten tötete dieser sie und ihre Kinder. Die Herzen und Lungen wurden nachts gekocht und verzehrt, das übrige Fleisch wurde weggeworfen […] Im Winterlager, 18 Kilometer entfernt von der Station Guljaevki, wurde die Leiche eines Mannes gefunden, die Weichteile des Körpers waren entfernt. Auf dem Weg wurden zehn Leichen von Erwachsenen und fünf Kinderleichen entdeckt, einige von ihnen wiesen Mordspuren auf, das Fleisch (von den erwachsenen Leichen) war herausgeschnitten."(61)
     Kannibalen gefährden den Zusammenhalt von Gemeinschaften, denn sie setzen sich über eine der elementarsten Grundlegungen menschlicher Vergemeinschaftung überhaupt hinweg, die darin besteht, dass Menschen einander nicht essen.(62) Deshalb konnten sie nicht auf Nachsicht hoffen, wenn sie ertappt wurden. Der gesamte Hass und die Verunsicherung der bedrohten Gemeinschaften fokussierten sich auf sie. Sie wurden gejagt und getötet.(63) Als die Bewohner des Dorfes Sartuma herausfanden, dass unter ihnen Menschen lebten, die Leichenteile aßen und Kinder töteten, sperrten sie sie "mit dem Ziel, sie hungers sterben zu lassen, in eine kalte Erdhütte und verriegelten die Türen". Als die Gefangenen nach einiger Zeit entdeckt wurden, war einer von ihnen bereits tot, die übrigen lagen im Sterben.(64)
     Wo immer Miliz und OGPU solcher Fälle gewahr wurden, notierten sie detailliert, in welchem Zustand sie die Leichen aufgefunden hatten. Sie führten skalpierte Köpfe, herausgetrennte Nieren, Herzen und Lebern auf und berichteten von herumliegenden Extremitäten und Kochtöpfen, in denen Leichenteile schwammen.(65) Die Berichte mit ihrer Vielzahl an anthropophagischen Praktiken dokumentierten nicht nur deviantes menschliches Verhalten; sie dienten auch der Rationalisierung der grauenhaften Taten, denn die Täter wurden durchweg pathologisiert. Menschen, die so etwas taten, mussten krank sein. Nur in Einzelfällen sprachen die Behörden davon, dass es "Klassenfeinde" und "Kulaken" gewesen seien, die andere zum Verzehr von Menschenfleisch angestiftet hätten.(66)
     Im Februar 1933 erhielt Uraz Isaev einen Brief aus dem am Ostufer des Aralsees gelegenen Kreis Karmakci, in dem ein leitender Sowjetfunktionär die verheerenden Zustände in dem Gebiet thematisierte: "Der Hungertod hat massenhaften Charakter angenommen. […] Am 15. [Februar] gab ich persönlich dem Polizeichef den Auftrag, das Stadtgebiet zu durchsuchen, und er fand dreißig Leichen. Am 16. fand er elf Leichen. Im Kreiszentrum erwarten mich jeden Tag 200 ausgezehrte Menschen und bitten um Brot (insgesamt gibt es noch wesentlich mehr Bedürftige). Der Vorsitzende des Kreisexekutivkomitees kam gerade aus den Kolchosen zurück und berichtete, dass die Straße ins Kreiszentrum von Leichen gesäumt ist. […] Die Mitarbeiter des Kreises teilen mit, dass es nicht einen einzigen Kolchos ohne Todesfälle und Auszehrung gibt. […] Die Bevollmächtigten, die zu den Kolchosen reiten, nehmen ihre Pferde nachts mit ins Haus und lassen sie tags bewachen, denn es hat Fälle gegeben, bei denen am helllichten Tage mit dem Messer auf den Hals oder den Körper eines Pferdes eingestochen wurde, in der Hoffnung, etwas vom Fleisch oder vom Blut abzubekommen."(67)
     Die Steppe war jetzt eine gigantische Todeszone.(68) Vielerorts waren die Behörden weder in der Lage, die Lebenden zu versorgen, noch vermochten sie, die Toten auch nur notdürftig zu verscharren. Niemand machte sich noch die Mühe, Gräber für die Leichen auszuheben, die in Straßengräben und Erdlöchern abgelegt wurden.(69) Häufig bedurfte es von außen kommender Bevollmächtigter, um die grundlegenden Regeln im Umgang mit Leichen wieder in Kraft zu setzen. Selbst besaßen weder lokale Bevölkerung noch Funktionäre die Kraft, sich um die Körper der Verstorbenen zu kümmern. Vielfach ließ sich das Problem erst dann lösen, wenn Menschen für das Einsammeln und Bestatten der Toten mit Brot und Getreide - "leistungsbezogen" - bezahlt wurden. (70)
     Die Toten führten den noch Lebenden vor Augen, was ihnen bevorstand. Doch zugleich verloren die toten Körper offenkundig ihren Schrecken. "Als ich in Semipalatinsk ankam, sah ich auf dem Bahnhof […] zwei vor Hunger gestorbene Kasachen, aber niemanden verwunderte dies", beschrieb ein soeben eingetroffener Funktionär im Sommer 1932 seine ersten Eindrücke.(71) Unbestattete Leichen wurden in den größeren Orten zu einem normalen Bestandteil des Straßenbildes. In der Steppe lagen die Dinge noch um ein Vielfaches schlimmer. Die Verbindungswege zwischen den Siedlungen waren gesäumt von den Leichen der Verhungerten. Einen besonders grässlichen Anblick boten ausgestorbene "Gigantensiedlungen": Hunderte verlassene Jurten in Reih und Glied, in denen nur noch Tote lagen.(72) "Auf dem gesamten Territorium" des Kreises Cubartavsk lägen unbestattete Leichen, berichtete ein Bevollmächtigter im September 1933. Im Radius von einem Kilometer um einen Kolchos fanden seine Männer mehr als zwanzig Leichen. In den Jurten des Auls Nr. 10 lebte niemand mehr. Dort lagen nicht nur Tote, sondern auch einzelne menschliche Knochen ("ich nehme an, das sind Essensreste"). Und die Bevölkerung wusste von weiteren derartigen Todeslagern zu berichten. Es warf ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse, dass nicht nur die Leiche des ermordeten Vorsitzenden der Kreiskontrollkommission über Wochen unbestattet in der Steppe liegen blieb, sondern dass auch in unmittelbarer Nähe des OGPU-Gebäudes mehrere tote Körper und sogar einzelne Schädel umherlagen, ohne dass jemand Notiz davon nahm.(73) Ein Sovchosdirektor erklärte unumwunden, als man ihn darauf ansprach, dass auf dem Gebiet des Sovchos Leichenteile und ein Schädel gefunden worden seien: "Weißt Du, ich habe so viel zu tun, ich konnte mich noch nicht darum kümmern."(74)
     Mit Ausnahme einiger weniger Orte kam das geregelte Leben fast vollständig zum Erliegen. Die landwirtschaftliche Produktion brach zusammen, weil es an Menschen fehlte, die noch auf den Feldern arbeiten konnten. Es existierten Kolchosen, "in denen sich kein einziger Mensch mehr auf den Beinen halten kann".(75) Die ohnehin stark reduzierten Viehbestände schrumpften immer schneller. Nur kleine Gruppen, die sich durch Raub und Diebstahl erhielten und vor nichts zurückschreckten, vermochten jetzt noch in der Steppe zu überleben.(76) Wo es aber kaum noch Menschen gab, da eroberten Wölfe und andere Raubtiere die Steppe zurück. Zu allem entschlossene "Banditen" und Raubtiere wurden zu einer tödlichen Gefahr für jeden, der außerhalb von Dörfern und Kolchosen unterwegs war.(77)

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28 Surrogate: GARF, 1235-141-766, Bl. 54 (Akt einer Untersuchungskommission im Gebiet Petropavlovsk, 12. 5. 1930). Verendete Tiere: ebenda, Bl. 53 (desgl., 13. 5. 1930).
29 Vgl. zum Kreis Zana-Arkinsk: APRK, 719-4-68, Bl. 4 (Bericht zum Kreis Zana-Arkinsk, o D. [Dezember 1932]). Auch: APRK, 719-5-169, Bl. 3-3ob (Schreiben von C? agirov an Fekter, 21. 8. 1932).
30 Michajlov, Chronika velikogo dzuta, S. 5f.
31 Canetti, Masse und Macht, S. 60f.
32 Sofsky, Zeiten des Schreckens, S. 123. Ähnlich: ders., Traktat über die Gewalt, S. 166ff.
33 Ders., Zeiten des Schreckens, S. 124.
34 Prominentes Beispiel für den Zerfall einer "Fluchtmasse" ist der Untergang der napoleonischen Grande Armée im Winter 1812. Vgl.: Zamoyski, 1812,
S. 539 ff.
35 Dirks, "Social Responses", S. 30.
36 Dazu: Spittler, Handeln in einer Hungerkrise, S. 32ff.
37 Shayakhmetov, The Silent Steppe, S. 186ff.
38 CGARK, 509-1-178, Bl. 240 (Bericht von Karuckij und Skomorchov, 27. 10. 1932).
39 GARF, 6985-1-6, Bl. 28-34 (Bericht über Kinderheime in der KASSR, o.D. [Mitte 1934]).
40 CGARK, 509-1-78, Bl. 241.
41 Dazu: ÓGráda, Famine, S. 61.
42 Zit. n.: Kirchner, "Zur Bildhaftigkeit im kasachischen Sprichwort".
43 Zum Problem des "child abandonment" auch: Rahmato, Famine and Survival Strategies, S. 185ff., sowie Panter-Brick, "Nobody's Children?", die darauf hinweist, dass die emotionale Aufladung des Bildes vom "ausgesetzten Kind" wesentlich durch westliche Vorstellungen von Familie und Kindheit geprägt ist.
44 Michajlov, Chronika velikogo dzuta, S. 328.
45 Ebenda.
46 CGARK, 509-1-78, Bl. 60 (Schreiben der Detkomissija in Semipalatinsk nach Alma-Ata, 3. 3. 1932).
47 CGARK, 509-1-78, Bl. 28 (Akt über ein Kinderheim in Semipalatinsk, 8. 7. 1932).
48 GARF, 6985-1-22, Bl. 101-103 (Akt über die Kinderarbeitskommune in Tobodinsk, 12. 6. 1934).
49 CGARK, 509-1-178, Bl. 78 (Bericht über die Kinderkommission im Gebiet Ostkasachstan, 29. 7. 1932).
50 APRK, 141-1-5233, Bl. 8-9, in: Kozybaev (Hg.), Nasil'stvennaja kollektivizacija, S. 108.
51 CGARK, 509-1-178, Bl. 80.
52 CGARK, 509-1-78, Bl. 26-27 (Akt über Besichtigung des Kinderstädtchens Stekljanskoe, 6. 7. 1932).
53 APRK, 141-1-5894, Bl. 26. (Stenogramm einer Versammlung von Funktionären nomadischer und halbnomadischer Kreise, 6. 11. 1933).
54 Ähnlich in anderen vom Hunger betroffenen Regionen: Falk, Sowjetische Städte, S. 299ff.
55 Zu solchen Banden: Galley, Wir schlagen, S. 43-71.
56 Vgl.: "Kazakhstan. The Forgotten Famine".
57 APRK, 719-4-719, Bl. 276 (Spezialbericht über Versorgungsschwierigkeiten von Mironov, 10. 4. 1933).
58 Ebenda, Bl. 271.
59 Michajlov, Chronika velikogo dz? uta, S. 9.
60 Ebenda, S. 357.
61 APRK, 719-4-673, Bl. 19-20 (Bericht der GPU über Morde und Kannibalismus im Gebiet Alma-Ata, 16. 3. 1933).
62 Dies gilt für praktisch alle menschlichen Gemeinschaften. Vgl.: Arens, The Man Eating Myth.
63 Kindler, "Die Starken und die Schwachen", S. 72f.
64 APRK, 719-4-719, Bl. 115 (Bericht der OGPU über Versorgungsschwierigkeiten in der KASSR, 1. 4. 1933).
65 Ebenda, Bl. 275f.; APRK, 719-4-673, Bl. 18-20; APRK, 719-4-675, Bl. 11-12
(Bericht über Kannibalismus im Dorf Trachtobrod, 11. 5. 1933).
66 APRK, 719-4-675, Bl. 11-12.
67 CGARK, 1179-5-8, Bl. 33-43 (Brief von Kunas?c? aev an Isaev, 20. 2. 1933).
68 Zahlreiche Beispiele bei: Michajlov, Chronika velikogo dz? uta. 69 CGARK, 1179-5-8, Bl. 29ob.
70 GARF, 6985-1-27, Bl. 115.
71 GARF, 1235-141-1371, Bl. 48ob (Bericht von M. Pers?in über die Lage in Kasachstan, o.D. [Sommer 1932]).
72 Michajlov, Chronika velikogo dz? uta, S. 11f.
73 GARF, 6985-1-27, Bl. 115 (Bericht über den Kreis C? ubartavsk, 9. 9. 1933).
74 RGASPI, 17-120-80, Bl. 84 (Brief von Aronstam an Stalin, Kaganovic , Postysev und Rudzutak, 20. 8. 1932).
75 APRK, 141-1-6403, Bl. 254 (Bericht an Mirzojan, o.D. [Frühjahr 1933]).
76 APRK, 719-4-68, Bl. 8.
77 Shayakhmetov, The Silent Steppe, S. 85ff.


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