Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Yates: Ruhestörung. Teil 1

22.03.2010.
2. Kapitel

Er erwachte schweißgebadet und atmete muffige, stinkende Luft. Der Schein einer nackten Glühbirne blendete ihn, doch er sah, dass er in einer eisernen Koje lag, die an Ketten von der Wand hing wie auf einem Kriegsschiff oder im Gefängnis.
     "Alle aufstehen", rief eine Stimme, und er hörte auch noch andere Laute: Stöhnen und Fluchen, elendes Husten und lautes Räuspern, das Quietschen und Krachen der Betten, die hochgeklappt und an der Wand befestigt wurden."Na los, na los. Alle aufstehen."
     Als er sich aufsetzte, packte ihn eine Hand an der Schulter und stieß ihn auf den Boden. Er trug einen grauen Baumwollschlafanzug, der ihm viel zu groß war: Seine nackten Füße stolperten über die Hosenbeine, und die Ärmel reichten ihm bis zu den Fingerspitzen. Im Licht der Glühbirnen taumelnd und blinzelnd, rollte er als Erstes die Ärmel auf und entdeckte ein locker sitzendes Plastikarmband, auf dem WILDER JOHN C. stand. Er beugte sich vor, um die Hosenbeine hochzukrempeln, wurde jedoch von hinten getreten, fiel auf die Hände und blickte ängstlich auf in das wütende Gesicht eines Schwarzen, der den gleichen Schlafanzug trug wie er.
     "Pass auf deinen Arsch auf, Mann. Das hier ist der Gang. Du hast hier nicht herumzustehen und an dir herumzufummeln, steh auf und setz dich in Bewegung."
     Er tat es. Über die an die Wand geklappten Betten wurden Gitter aus Maschendraht gezogen, um zu verhindern, dass sie benutzt wurden: Sie waren tatsächlich im Gang untergebracht, dem Platz zum Gehen. Er war gelb, grün, braun und schwarz; er war weder sehr lang noch sehr breit, doch ungeheuer überfüllt mit Männern jeden Alters, von Halbwüchsigen bis zu Greisen, Weißen, Schwarzen und Puerto Ricanern, die eine Hälfte ging in die eine Richtung, die andere in die entgegengesetzte. Die Vielfalt ihrer Gesichter, die sich in das gleißende Licht schoben, dann in den Schatten und wieder ins Licht, war beunruhigend. Manche redeten miteinander, manche führten Selbstgespräche, doch die meisten schwiegen. Er spürte warmen Stein unter den Füßen, bis er auf etwas Glitschiges trat; dann sah er die Auswurfhäufchen auf dem schwarzen Boden vor sich. Einige der gehenden Männer trugen schmutzige Hausschuhe aus Papier, und er beneidete sie darum; andere rauchten, die Zigarettenschachteln in den Brusttaschen ihrer Schlafanzugjacken, und ihm zog sich der Gaumen zusammen. Dann bemerkte er, dass manche keine Schlafanzugjacken, sondern Zwangsjacken trugen, und am liebsten hätte er gewimmert wie ein Kind.
     Zu beiden Enden des Flurs befanden sich geschlossene Fenster, die mit Maschendraht gesichert waren. Das Licht draußen war düster - entweder ein früher grauer Morgen oder ein später grauer Nachmittag -, und außer Lüftungsschächten und fensterlosen Mauern war nichts zu sehen.
     In der Mitte des Korridors stand ein Pfleger, ein Schwarzer in grüner Krankenhauskluft, und er eilte zu ihm, den Mund voller Fragen - Hören Sie, wo sind meine Kleider?, Wo ist mein Geld?, Wo ist ein Telefon?, Worum geht es hier? -, doch als er vor ihm stand, fühlte er sich klein und schüchtern und wusste nur noch, dass er dringend aufs Klo musste.
     "Entschuldigen Sie", sagte er."Wo ist die Toilette?"
     "Dort drüben."
     Und er folgte dem deutenden Finger zu einer beleuchteten stinkenden Latrine, wo Männer auf Toilettenschüsseln saßen und an einem langen, trogähnlichen Urinal um einen Platz kämpften.
     "Das hier", erklärte ihm ein anderer Pfleger, "ist Ihre Zahnbürste. Sie erkennen Sie daran, dass Ihr Name draufsteht. Sehen Sie den Streifen? Wilder. Wenn Sie fertig sind, stecken Sie sie zurück in die Halterung. Niemand außer Ihnen wird die Zahnbürste benutzen, und Sie werden auch keine fremde Zahnbürste benutzen, verstanden? So kriegt niemand Zahnfleischgeschwüre. Verstanden?"
     Einen eigenen Rasierapparat zu besitzen war jedoch niemandem erlaubt. Die Männer standen zu viert oder fünft an und warteten, um sich vor einem beschlagenen Spiegel und unter wachsamen offiziellen Blicken zu rasieren. "Sobald Sie fertig sind, reinigen Sie den Rasierer und legen ihn auf die Ablage. Sinnlos, daran herumzufummeln, die Klinge geht nicht raus. Der Apparat ist gesichert ...
     "Nur Neuzugänge duschen. Nur Neuzugänge duschen. Sie nicht, Gonzales, kommen Sie da wieder raus..."
     In der Gemeinschaftsdusche gab es weder Seife noch eine Möglichkeit, die Wassertemperatur zu regulieren: Die Neuzugänge rutschten auf schmierigen Holzrosten herum, während sie versuchten, sich zu waschen, bis jedem ein Handtuch in die eine und der zerknitterte Schlafanzug in die andere Hand gedrückt wurde.      "Kann ich Hausschuhe haben?"
     "Es gibt keine Hausschuhe mehr. Hausschuhe sind aus."
     Und dann hieß es zurück in den Flur, wo es nichts zu tun gab, außer auf und ab zu gehen. Er kam an einer verschlossenen Tür mit einem kleinen Fenster aus Drahtglas vorbei, spähte hinein und sah, dass es eine Gummizelle war. Matten, wie sie Ringer und Bodenturner benutzten, bedeckten die Wände und den Boden. Sie war leer, aber die nächste war besetzt: Ein Mann in einer Zwangsjacke lag darin, mit dem Gesicht nach unten und so reglos, als wäre er tot, ein dunkler Fleck Pisse neben dem Oberschenkel.
     "Ist mir doch egal! Ist mir doch egal!"
     Die beiden Reihen gehender Männer traten beiseite, um einem jungen weißen Mann Platz zu machen, der in der Mitte des Flurs schattenboxend angelaufen kam. Sein Oberkörper war nackt, und die Beine seiner Schlafanzughose hatte er ordentlich auf die Länge einer Preisboxerhose abgerissen; er hüpfte auf und ab, hin und her und verteilte in einem Wirbel gelber Staubflusen Hiebe und Haken.
     "Versteht ihr Idioten das denn nicht? Es ist mir egal! Ich will, dass mein Vater mich so sieht!"
     "Okay, Henry, ganz ruhig", sagte ein Pfleger, näherte sich ihm von hinten und legte ihm die Hand auf die Schulter, doch der Schattenboxer drehte sich rasch um und bezog mit beiden Fäusten vor dem Gesicht ihm gegenüber Stellung.
     "Nenn mich nicht Henry, du blöder schwarzer Idiot - nenn mich Doktor, oder ich brech dir jeden verdammten Knochen in deinem -"
     "Gar nichts werden Sie tun, Doktor", sagte ein zweiter Pfleger, und gemeinsam hielten sie ihn an den Armen fest; sie waren beide größer als er und hatten keine Mühe, ihn umzudrehen und den Korridor entlangzuführen. Er wehrte sich nicht gegen ihren Griff, doch seine Schreie wurden lauter, bis es klang, als werde er gleich in Tränen ausbrechen.
     "Verdammt noch mal, wenn ich möchte, dass mein Vater mich so sieht, dann geht euch das nichts an, ihr blöden, schwarzen, strohdummen, wichsenden - "
     "Ihr Vater kann Sie jetzt sowieso nicht sehen, Doktor. Kommen Sie mit, außer Sie wollen, dass Roscoe Sie mit einer Spritze ruhigstellt."
     "Ja, ja, verpasst mir ruhig eine Spritze, mehr könnt ihr eh nicht. Große Sache! Ihr armseligen, blöden - Wie ist das eigentlich? Geht ihr nach Hause und sagt zu euren Frauen: 'He, Baby, ich hab heute einen Doktor gehabt '? 'Hab einem richtigen weißen Doktor in den Arsch gespritzt'? Vergesst bloß nicht, dass ich euch beide anzeigen werde und euren kleinen Kumpel Roscoe gleich mit, weil ihr versucht habt, mich nach Wingdale zu schicken. Ich werde das Krankenhaus verklagen wegen Behandlungs - wegen Behandlungsfehler, und wenn die Tatsachen - wenn die Tatsachen erst einmal auf dem Tisch sind, werdet ihr..."
     Er war jetzt nicht mehr zu sehen und auch nicht zu hören wegen des Gelächters und Gejohles und der Pfiffe, die bei seinem Abgang laut wurden. Ein weiterer grün gekleideter Schwarzer eilte mit einer Spritze den Flur entlang; er blieb unter einer Glühbirne stehen, hielt sie hoch, blinzelte sie an und drückte gerade so fest darauf, dass an der Spitze der Nadel ein Tropfen Flüssigkeit austrat. Dann ging er auf den schreienden Mann zu.
     "Na los, pack ihn dir, Roscoe", rief jemand. "Mach ihn fertig." Und während sich die Männer wieder in Bewegung setzten, wurde weiter gelacht.
     Wilder spürte, wie ihn jemand am Ellbogen berührte und meinte, eine Stimme "Willst du mich küssen?" sagen zu hören.
     "Was?"
     Ein auffallend gut aussehender junger Schwarzer stand da und lächelte ihn an, auf dem Kopf die zum Turban gewickelte Schlafanzugjacke; er rollte ganz sachte die Schultern, um die Schönheit seines nackten Oberkörpers zur Geltung zu bringen, und hielt seinen halb erigierten Schwanz in der Hand."Willst du mich küssen?"
     "Nein."
     "Ach, das ist schon in Ordnung. Ist schon in Ordnung. Du kannst mich küssen, wenn du möchtest, aber nur wenn du zuerst 'Ich liebe dich' sagst."
     Es war Zeit für das Frühstück. An einem Ende des Korridors wurde eine Doppeltür geöffnet, und die beiden Reihen vereinten sich zu einer rempelnden Schar.
     "Okay, langsam, langsam. Immer nur zwei. Immer nur zwei auf einmal, oder niemand kriegt nichts zu essen... "
     Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, war im Speisesaal noch schlimmer: Wenn man erst einmal seitwärts und gekrümmt in die schmale Spalte zwischen dem langen Tisch und der nicht verrückbaren, hölzernen Bank mit der hohen Lehne geschubst worden war, kam man nicht mehr heraus. Wilder saß eingezwängt zwischen einem zahnlosen, uralten Mann und einem dicken Jungen, dessen feuchter Mund offen stand, als habe er Schmerzen, weil die Tischkante gegen seinen Bauch drückte. Jeder bekam eine Plastikschale klebrigen Haferbreis mit Dosenmilch und einen Becher lauwarmen Kaffee, und Wilder wurde erst klar, dass er Hunger hatte, als er den Haferbrei mit einem großen Armeelöffel aus Blech in sich hineinschaufelte. Wenn er essen, den Kaffee trinken, eine Zigarette auftreiben und ein Telefon finden konnte, bestand die Möglichkeit, dass die Welt zu ihrem normalen Zustand zurückkehren würde. Doch dann schaffte es der alte Mann nicht, den zitternden Löffel ans Zahnfleisch zu heben, ohne den Haferbrei zu verschütten, und der dicke Junge nahm die Schale in beide Hände, tauchte das Gesicht hinein und schlabberte wie ein Hund, während ihm der Brei über die Brust lief, und an einem anderen Tisch schrie eine schrille Stimme zunehmend panisch:"Lasst mich hier raus, lasst mich hier raus, lasst mich hier raus... "
     Als er dem Speisesaal endlich entkommen war, entdeckte er, dass die Männer, die am wenigsten verrückt aussahen, dabei waren, sich vor einer verschlossenen Tür am Ende des Korridors zu versammeln. Neben der Tür saß auf einem hohen Stuhl ein Polizist - nicht ein uniformierter Wachmann des Krankenhauses, sondern ein richtiger New Yorker Polizist mit Abzeichen, herabbaumelndem Schlagstock und Pistole im Holster. Er kaute Kaugummi und sprach mit niemandem, nicht einmal mit den Pflegern, und er trug eine Sonnenbrille, deren Gläser silbern verspiegelt waren: Versuchte man ihm in die Augen zu schauen, dann sah man nur ein doppeltes Abbild des eigenen Gesichts. Dennoch schien es der Platz, an dem man sich am besten aufhielt: der Ort, an dem es am wahrscheinlichsten war, dass rationale Dinge geschahen.
     "He da, Shorty. Wie geht's dem alten Shorty heute?" Der Mann, der das sagte, war selbst nicht viel größer als Wilder, und er war hässlich - ein gelbliches Gesicht mit eng zusammenstehenden Augen und einem breiten, humorlosen Lächeln voller schlechter Zähne -, doch in seiner Schlafanzugtasche steckte eine Schachtel Zigaretten. "Ich habe dich gesehen, als sie dich gestern Abend gebracht haben. Junge, du warst vielleicht durchgeknallt."
     "Ja?" Er konnte sich an nichts mehr erinnern, was nach der Fahrt im Krankenwagen, in dem Paul Borg ihm den Rücken gerieben hatte, geschehen war.
     "Du hast geschrien und gebrüllt, du warst überhaupt nicht mehr zu bremsen; sie haben dir eine Spritze gegeben, und du hast trotzdem nicht aufgehört. Ich habe mir gedacht, Herrgott noch mal, das muss ein knallharter Bursche sein, das muss ein großer Kerl sein. Dann habe ich gesehen, dass du noch kleiner bist als ich, und mich kaputtgelacht. Ich hab mich fast totgelacht."
     "Ja, na ja. Könnte ich eine Zigarette haben?"
     "Ich werde dich retten", sagte der Mann und wandte sich ab.
     "Mich retten?"
     "Er wird dich nicht retten", sagte eine andere Stimme. "Er hat noch nie jemand gerettet. Er ist ein Arschloch."
     Dann wurde die Tür geöffnet und ein Schwall kühler Luft kam herein - keine frische Luft, aber kühle Luft, die besser roch, wenn auch nur deshalb, weil sie aus einem breiteren, saubereren Korridor hereinwehte -, und ein lauter, fröhlicher Chor war zu hören:"Charlie!" - "He, Charlie!" - "Wie geht's, Charlie?"
     Er war deutlich über eins achtzig und gebaut wie ein Schwergewicht, ein Schwarzer in Grün wie die anderen, doch er beherrschte sie alle, als er seinen Schlüsselbund einsteckte, langsam die Station betrat und einen Wagen mit Medikamenten vor sich herschob. "Guten Morgen... Guten Morgen", sagte er mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme, und sogar der Polizist sagte, "Morgen, Charlie", nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tür wieder verschlossen war.
     "He, Charlie, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?"
     "Charlie, hören Sie: Erinnern Sie sich, gestern habe ich Sie was gefragt?"
     Sie scharten sich um ihn, näherten sich ihm von allen Seiten, während er seinen Wagen genau in die Mitte des Flurs schob, wo er stehen blieb und den Kopf hob, um sie alle zusprechen.
     "Stärkung, meine Herren!", rief er in die eine Richtung und "Stärkung, meine Herren!" in die andere. Auf den Tabletts auf seinem Wagen standen viele kleine Gläschen, gefüllt mit etwas, das wie Bourbon oder Ahornsirup aussah: Es war weder das eine noch das andere, aber es schmeckte ein bisschen nach beidem.
     "Haben Sie meine Zeitung dabei, Charlie?", fragte ein Mann mit einem schmutzigen Bündel Zeitungen unter dem Arm.
     "Oh, nein, Mr. Schultz, Sie haben noch genügend Zeitungen. Wenn Sie die verbraucht haben, bringe ich Ihnen vielleicht eine neue." Und er wandte sich an einen Pfleger."Wie viele Neuzugänge gestern Abend?"
     "Acht. Wir haben jetzt einhundertsiebzehn auf der Station."
     Charlie zuckte zusammen und schüttelte den großen Kopf. "Das sind zu viele. Und heute werden noch mehr kommen, morgen auch und am Montag auch. Wir sind dafür nicht eingerichtet." Mit einem Klimpern seines Schlüsselrings schloss er eine Tür mit dem Schild BETRETEN VERBOTEN auf und ermöglichte so einen kurzen Blick in ein gemütliches kleines Büro - ein Tisch mit Stühlen, ein Regal mit Tassen und eine Kochplatte sowie Utensilien zum Kaffeekochen -, bis er mit zwei Schachteln Pall Mall in der Hand wieder herauskam.
     "Also gut, einer nach dem anderen, meine Herren", sagte er zu der gierigen Meute, die sich um ihn scharte. "Stellen Sie sich bitte von rechts an; einer nach dem anderen und immer nur eine. Sie nicht, Mr. Jefferson, sie haben eine Schachtel in der Tasche. Sie kennen die Regeln: Das hier sind Stationszigaretten..."

Teil 2


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