Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Teil 3

05.11.2012.
Verhör in Heidelberg

Die Amerikaner wissen viel, mehr als die Deutschen ahnen, aber sie stehen auch unter Zeitdruck, denn sie wollen verhindern, dass auch nur ein Teil der gefährlichsten Technologie der Welt den Sowjets oder den Franzosen in die Hände fällt.
     Die Alsos-Gruppe hat, zusammen mit Agenten des Office of Strategic Services (OSS), der Vorgängerorganisation der CIA, versucht, jeden Schritt Heisenbergs zu überwachen. Als er 1944 einen Vortrag in der Technischen Hochschule (ETH) in Zürich hielt, spielte das OSS mit dem Gedanken, ihn zu entführen. Aber die Idee einer solchen Aktion auf dem neutralen Boden der Schweiz wurde wieder fallengelassen. Der sympathische junge Mann allerdings, der Heisenberg nach der öffentlichen Vorlesung kluge Fragen stellt, ist ein erfahrener Agent mit geladener Pistole in der Hosentasche. Als der arglose Heisenberg das Angebot annimmt, ihn noch zur Post zu begleiten, kann der Agent Morris Berg erspähen, dass die Postkarte, die Heisenberg frankieren will, an dessen Kollegen Georg Wentzel in Hechingen gerichtet ist. Damit ist für die Amerikaner klar, dass sich in dem Zollernstädtchen an der Schwäbischen Alb der letzte Akt des deutschen Uranprojekts abspielen wird.
     OSS und Alsos haben viel intensiver über Heisenbergs Denkweise, Motive und Charaktereigenschaften nachgedacht als der deutsche Generalstab. Das gilt besonders für jenen Mann, der ihn in Heidelberg eingehend verhören wird. Es ist der Holländer Sa muel Abraham Goudsmit, ein anerkannter Atomphysiker, der wis senschaftliche Leiter der Alsos-Gruppe. Auf dem verlassenen Schreibtisch Heisenbergs in Hechingen haben die Amerikaner ein gerahmtes Erinnerungsfoto entdeckt, das Goudsmit und Heisenberg zeigt. Wahrscheinlich wurde es im Juli 1939 in Ann Arbor, Michigan, auf genommen, bevor man sich dann mit Enrico Fermi und den anderen Kollegen zu einer abendlichen Abschiedsrunde zusammensetzte. Damals hatte Goudsmit mit unverhohlenem Misstrauen die Äußerungen Heisenbergs aufgenommen, warum er weder anders könne noch wolle, als wieder nach Deutschland zurückzukehren.
     "Deutschland braucht mich", hatte Heisenberg damals gesagt, und Goudsmit hat sich diesen Satz gemerkt. Seit Monaten hat er sich für das Verhör in Heisenberg hineingedacht und -gearbeitet, und er ist auf den Moment vorbereitet, an dem der Gefangene in sein Zimmer geführt werden wird. Er ist emotional aufs Äußerste angespannt. Heisenberg hingegen ist auf diese Begegnung in keiner Weise vorbereitet. Als er zu Goudsmit hereingeführt wird und sich die beiden gegenüberstehen, braucht er einen Moment Zeit, um zu erfassen, dass es sich bei dem hohen Offizier in amerikanischer Armeeuniform um einen alten Bekannten handelt. Heisenberg versucht, die reservierte Haltung Goudsmits zu überspielen und streckt ihm die Hand entgegen. Er glaubt, mit dem "lieben Goudsmit" wieder an kollegiale Gefühle anknüpfen zu können, aber der Holländer wendet sich ab.
     Es geht bei der folgenden Vernehmung um mehr als herauszufinden, wie weit die Deutschen in der Bombenphysik vorgedrungen sind. Zwischen beiden ist noch eine persönliche Rechnung offen. Heisenberg kann nicht ahnen, welche seelischen Erschütterungen Goudsmit in diesen Tagen durchlebt. Nach acht Monaten der Ungewissheit hat er erst vor Stunden die Nachricht erhalten, dass seine Eltern in Auschwitz umgebracht worden sind. Schuldgefühle, warum er sie nicht gerettet hat, übermannen ihn. Das letzte Lebenszeichen war ein Abschiedsbrief seiner Eltern mit der Adresse eines Konzentrationslagers gewesen, den er im März 1943 erhalten hatte. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen hatte er seitdem nie aufgegeben. Anfang 1943 hatte sich der holländische Physiker Dirk Coster, der schon mitgeholfen hatte, die Flucht von Otto Hahns Kollegin Lise Meitner zu organisieren, mit der Bitte an Heisenberg gewandt, sich für Goudsmits Eltern einzusetzen. Zwei Monate später hatte der sich in einem kurzen Schreiben an die deutsche Kommandantur in Brüssel gewandt und darauf hingewiesen, dass die Eltern Goudsmit ihn seinerzeit bei einem Besuch in Holland gut behandelt hätten und er sich für sie einsetzen wolle. Was immer das Schreiben hätte bewirken können, es kam zu spät; die Eltern Goudsmit waren bereits ermordet worden.
     Das Verhältnis zwischen dem Genie auf der Verliererseite, das mit der Atombombe gescheitert ist, und dem Physikerkollegen von einst, der nie zur ersten Liga zählte und nun als Untersuchungsrichter und Ankläger die Vernehmungen leitet, ist gereizt, und es dauert lange, bis sich die Beklemmung löst und ein gegenseitiges Verständnis aufkommt. Einmal stellt er Heisenberg die Frage "Würden Sie jetzt nicht nach Amerika kommen wollen, um mit uns zu arbeiten?" Für viele der deutschen Physiker, die einer unsicheren Zukunft entgegensahen, wäre schon die Frage verlockend gewesen. Heisenberg aber lehnt ab. "Nein, ich möchte nicht weggehen, Deutschland braucht mich."
     Hatte Heisenberg nicht die gleichen Worte "Deutschland braucht mich !" damals auch in Ann Arbor gesagt, als er kurz vor Kriegsausbruch nach Deutschland zurückkehrte ? Goudsmit hat eine Scheinfrage gestellt, denn Amerika ist auf keinen Heisenberg angewiesen. Die Arbeit ist längst getan; die Deutschen hingegen hat lange vor dem Ziel der Mut verlassen. Und ob sie überhaupt in der Lage gewesen wären, das letzte Geheimnis der Atombombe zu lüften, ist eine offene Frage, über die noch erbitterte Kontroversen geführt werden.
     Die Fragen sind Teil eines Katz- und Mausspiels, bei dem Goudsmit alle Fäden in der Hand behält. Er weiß, dass er jederzeit gegen Heisenberg einen wohlgehüteten, vernichtenden Trumpf ausspielen könnte. Mit einem einzigen Satz könnte er die Selbstüberhebung Heisenbergs, der sich und die deutsche Wissenschaft immer noch an der Spitze der Forschung wähnt, zunichte machen. Aber er beherrscht sich. Und er kostet es aus, den Nichtsahnenden zu täuschen und in die Irre zu führen. Nachdem Heisenberg ausführlich über den deutschen Forschungsstand beim Uranprojekt vernommen worden ist, richtet er nun seinerseits an den alten Kollegen die Frage, wie weit die Amerikaner mit der Atombombe gekommen seien. Goudsmit wiegelt ab. Amerika hätte andere, praxisnähere Forschungsziele verfolgt, wie beispielsweise die Entwicklung des Radars. Heisenberg sitzt nur allzu bereitwillig diesen Informationen auf und wird wenige Monate später dafür Spott und Demütigung ertragen müssen. Goudsmit dagegen wird zu denen gehören, die mit Genugtuung den erfolgreichen Abwurf der Hiroshima-Bombe verfolgen und sich an der Vorstellung weiden, dass Heisenberg immer noch glaubt, es könne sich bei der Nachricht um nichts anderes handeln als um eine "eine der üblichen Propagandalügen".



Zehn Physiker irren durch Europa

Vor einer Villa am Philosophenweg in Heidelberg hält am Morgen des 1. Mai 1945 ein Bus, in den sechs Personen einsteigen. Es fällt auf in diesen letzten Kriegstagen, dass alle sorgsam in Zivil gekleidet sind. Offenbar treten die Herren unterschiedlichen Alters eine längere Reise an, denn es dauert eine Weile, bis alle Taschen, Aktenmappen, Koffer und Mäntel verstaut sind. Die kleine Gruppe von Zivilisten könnte man sich gut als eine kulturbeflissene Herrenrunde vorstellen, die aufbricht, um eine Exkursion zu keltischen Grabstätten oder dergleichen zu unternehmen. Allerdings passen die dunkelhäutigen Wachen in amerikanischer Uniform, welche Villa und Park umstellen, und die olivgrünen Begleitfahrzeuge voller GIs mit Finger am Abzug ihrer Maschinenpistolen nicht recht zu einem Ausflug. Tatsächlich steht den sechs Deutschen, die von zwei Offizieren des britischen Geheimdienstes begleitet werden, eine Reise durch Westeuropa bevor, ohne dass irgendeiner der Beteiligten zu sagen wüsste, wo diese Reise enden und wie lange sie dauern wird.
     Alles findet unter größter Geheimhaltung statt. Von dem Moment an, in dem sich der Bus in Bewegung setzt, verschwinden die sechs aus den Augen der Öffentlichkeit. Ihren Familien bleiben nur Gerüchte, Wünsche und Hoffnungen. Erst nach Monaten werden sie Näheres erfahren. Alle haben eine "Einladung" erhalten, der nicht zu folgen unmöglich war. Die sechs Deutschen befinden sich in amerikanischem Gewahrsam, aber sie sind keine Armeeangehörigen, die als Kriegsgefangene oder War Criminals in Lager wandern. Stattdessen werden sie nie anders denn als "Gäste" bezeichnet. Diese "Gäste" zählen in den Augen der amerikanischen Armee, die eine mit ungewöhnlichen Vollmachten ausgestattete Organisation auf sie angesetzt hat, zu den gefährlichsten Geheimnisträgern überhaupt. Sie verfügen über ein Wissen, das Amerika großen, ja unermesslichen Schaden zufügen könnte. Es sind Naturforscher, Chemiker und Physiker, die da in den Bus steigen, und sie sind bis auf einen älteren Herrn alle Mitglieder des "Uranvereins", der die deutsche Atombombe konstruieren sollte. Zwar stehen sie nicht unter Anklage, aber sie werden als ansehnliche Beutestücke der Amerikaner verschleppt. Allerdings ist die Sammlung noch nicht vollzählig. Erst vor wenigen Tagen wurden sie von der Alsos-Truppe, einer Vorhut der amerikanischen Armee, in Hechingen und Tailfingen gefangen genommen. Einige fehlen, vor allem nach dem Gast Number One wird noch gefahndet: Werner Heisenberg, Cheftheoretiker und mastermind der ganzen Unternehmung. Nach Einschätzung von General Groves, dem bulligen Chef der Alsos-Spezialeinheit, wiegt er allein zehn Divisionen auf. Während der Bus mit den Begleitfahrzeugen in Richtung Frankreich fährt, kommen ihnen lange Fahrzeugkolonnen mit französischen Soldaten entgegen.
     Carl Friedrich von Weizsäcker gehört mit zweiunddreißig Jahren zu den Jüngsten im Bus. Für die Amerikaner zählt dieser Physiker, den man sich ebenso gut als Dozent für Philosophie vorstellen könnte, von Kriegsbeginn an zu den gefährlichsten Gegnern. Weizsäcker hatte nämlich 1940 in einer Denkschrift auf die waffentechnische Bedeutung der Kernreaktion hingewiesen. Und die Amerikaner argwöhnten, dass über seinen Vater Ernst von Weizsäcker, den Spitzenbeamten des Auswärtigen Amts und Träger eines hohen SS-Rangs, auf direktem Wege Informationen zu Hitler gelangen könnten. Neben Weizsäcker sitzt sein Freund Karl Wirtz, der zwei Jahre ältere Abteilungsleiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin-Dahlem. Wirtz hatte als rechte Hand Heisenbergs, der 1942 die Institutsleitung übernommen hatte, bis zum bitteren Ende alle Versuche geleitet, eine "Uranmaschine" oder einen "Uranbrenner" - heute sagt man Kernreaktor - in Gang zu setzen.
     Erich Bagge, ebenfalls zweiunddreißig, ein genialer, eigenbrötlerischer Tüftler, der 1940 im Alleingang eine vielversprechende Isotopenschleuse konstruiert hatte, überkorrekt bekleidet, mit einem Kneifer auf dem Strebergesicht, versucht mit dem einsilbigen, verschlossenen Korsching ins Gespräch zu kommen. Horst Korsching, 1912 geboren, zählt auch zu den Spezialisten für Isotopentrennung durch Thermodiffusion. Aus dem Schatten des Kaiser-Wilhelm-Instituts, an dem er in den letzten zehn Jahren wirkte, hat er sich nie entfernt. Für seine Bewacher stellt er "ein völliges Rätsel dar" und wirkt wie der Typ des sonderbaren Junggesellen, der nie zu kochen gelernt hat.
     Manchmal durchweht den Bus ein gemütlicher, warmer Frankfurter Dialekt und verbreitet eine angenehm optimistische Stimmung. Es ist Otto Hahn, der da spricht, jener Otto Hahn, der als erster Mensch nachgewiesen hat, dass ein Atomkern, anders als sein Name sagt, gespalten werden kann. Abgesehen von dieser epochalen Entdeckung hat Hahn nur am Rande mit der technischen Entwicklung einer deutschen Atombombe zu tun gehabt. Hahn plaudert mit seinem neuen Duzfreund, dem gleichaltrigen, fünfundsechzigjährigen Max von Laue, Nobelpreisträger des Jahres 1914, zu einem Zeitpunkt also, als die meisten seiner Begleiter gerade zwei Jahre alt waren. Beide haben noch die Autorität mächtiger Geheimräte erlebt, die in der Kaiserzeit über Karrieren und Biographien entschieden; Promotionen ohne Frack und weiße Hand schuhe wären damals undenkbar gewesen.
     Als feststeht, dass die Amerikaner jeden Augenblick Tailfingen besetzen würden, wohin Hahns Berliner Institut verlagert worden war, verbringt Hahn die letzte Nacht vor der Festnahme im Hause des ihm lange vertrauten Kollegen Laue. Beide sind 1879 geboren, allerdings ist Hahn ein paar Monate älter - und die Jüngeren sind erleichtert, dass der schlagfertige, natürliche Autorität ausstrahlende Hahn und nicht der etwas betuliche, zuweilen begriffsstutzige Laue mit seinem silbrigen Oberlippenbärtchen Sprecher der Gruppe wird.
     Vor wenigen Tagen haben die Mitglieder des "Uranvereins" noch mit allen Mitteln rund um die Uhr versucht, im dumpfen Bierkeller des Schwanenwirtes in Haigerloch die "Maschine" - so wurde der Uranbrenner genannt - zum Laufen zu bringen. Immer zwischen aufflammender Hoffnung und der darauffolgenden Erkenntnis, dass es doch nicht reichen werde. Dann sind die französischen Panzer da, und alles ist vorbei. Anders als die Amerikaner, die seit Monaten jeden einzelnen der Wissenschaftler und die Aktivitäten in Haigerloch im Visier haben, wollen die Franzosen aber so schnell wie möglich nach Sigmaringen, wo sich noch die Reste des Vichy-Régimes aufhalten. Von den Versuchen und Dramen im nahegelegenen Haigerloch ahnen sie nichts. Das alles ist schon jetzt Geschichte. Die Anordnung des Großversuchs B-VIII ist demontiert und nach Amerika geflogen worden. Nur die gesprengte Hülle der tonnenschweren Ummantelung des Reaktors ist wie ein zerknülltes Stück Papier zurückgelassen worden. Nicht geschleift worden jedoch ist der weltfremde Hochmut der deutschen Wissenschaftler, die sich nicht vorstellen können, dass ohne deutsche, speziell ihre Hilfe je eine Atombombe entworfen und gebaut werden könnte.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages
(Copyright Berenberg Verlag)

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