Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Teil 1

05.11.2012.
Prolog
Der Zauberlehrling und sein Meister


Wie im Traum ist der vierzehnjährige Carl Friedrich von Weizsäcker einst in wenigen Jahren in die Welt der Physik gewandert und steht mit zwanzig mitten im Herzen der Atomphysik. 1939, bei Kriegsausbruch, zählt der Siebenundzwanzigjährige zu den Ersten, die eine Denkschrift zur militärischen Nutzung der Atomenergie vorlegen. Als er im Dezember 1926 Heisenberg kennenlernt, gilt er als unausstehliches, alles bekrittelndes Kind. Elisabeth Heisenberg schildert den Jungen als "furchtbar schwierig. Er fand alles grässlich. Alle Menschen fand er grässlich und war sehr unglücklich. Die Mutter wusste eigentlich gar nicht, was sie mit dem Jungen machen sollte." In Kopenhagen, wo der Vater Ernst als Gesandtschaftsrat an der deutschen Botschaft in Dänemark tätig ist, lernt die Mutter bei einer Musikveranstaltung einen deutschen Physiker kennen, der hervorragend Klavier spielt, und erzählt ihrem Sohn davon. Als sie sagt, er arbeite bei einem bekannten dänischen Physiker namens Bohr - so weit glaubt sie sich zu erinnern - und heiße Heisenberg, antwortet Carl Friedrich, für den die Eltern eine populärwissenschaftliche Zeitschrift abonniert haben, augenblicklich: "Den Namen weiß ich, den musst Du sofort einladen".
     Werner Heisenberg, der 1927 auf den Lehrstuhl für Physik an die Universität Leipzig berufen wurde, ist damals mit fünfundzwanzig schon eine kleine Berühmtheit. Bei der nächsten Abendeinladung am 3. Februar 1927 wird er neben den jungen Weizsäcker placiert und unterhält sich den ganzen Abend lang mit seinem Tischnachbarn. Er erzählt ihm von der aufregenden neuen Quantenphysik. Der Physik waren in den letzten Jahren bahnbrechende Entdeckungen und Einsichten gelungen, die selbst Einstein verwirrt zurückließen. 1925 hatte Heisenberg die endgültige Fassung seiner Aussagen zur Quanten mecha nik vorgelegt, die er mit dreiundzwanzig auf der Insel Helgoland formuliert hatte, 1927 veröffentlicht er "Unschärferelation" und fünf Jahre später wird dem einunddreißigjährigen der Nobelpreis verliehen. Die Entwicklung der Quantenphysik hat das Verständnis der Welt revolutioniert, und die Frage lautet nicht mehr, ob eine der neuen Theorien "verrückt", sondern ob sie verrückt genug sei.
     Die Begegnung wird für den jungen Weizsäcker zum "schönsten Tag meines Lebens". Das Gespräch mit Heisenberg wird ein Leben lang nicht mehr abreißen. Schon als siebzehnjähriger Schüler besucht er dessen Vorlesungen in Leipzig. Heisenberg wiederum sucht den Kontakt zu den Eltern. In Berlin verkehrt er in familiärer Atmosphäre bei den Weizsäckers, die vier Kinder haben. Carl Friedrich ist der Älteste, dann folgen Bruder Heinrich, der gleich zu Beginn des Poleneinmarsches fällt, und Schwester Adelheid. Der 1920 geborene Richard ist der jüngste. Mit Marianne von Weizsäcker, der Mutter, spielt der damals schmächtige, blonde junge Heisenberg Stücke für zwei Klaviere, bevor er wieder mit dem Nachtzug nach Leipzig fährt. Heisenberg wird zum Mentor des jungen Carl Friedrich und berät diesen über das einzuschlagende Studium. Der Abiturient, der sich nicht zwischen Philosophie und Physik entscheiden kann, erhält den weisen Rat: "Wenn du die Physik verstehen willst, musst du sie selber machen Und wenn du sie machen willst, musst du damit gleich jung anfangen. Am besten macht man Physik, ehe man dreißig Jahre alt ist. Bei Plato dagegen kannst du nach lesen, gute Philosophie kannst du erst machen, wenn du über fünfzig bist. Also hast du viel Zeit." Eigentlich ist Philosophie ein bisschen zu schwer für den Menschen, wie Heisenberg sagt, aber Physik sei "ein ehrliches Handwerk, und das muss man machen, wenn man jung ist." Jedenfalls gilt: "Ehe du die Philosophie ausführst, musst du das philosophisch wichtigste Ereignis unseres Jahrhunderts kennen. Das ist heute die theoretische Physik. Die kannst Du nur verstehen, wenn du sie selber machst. Also musst Du damit anfangen." Der ungewöhnlich talentierte Studienanfänger hält sich daran und verbietet sich drei Jahre lang jeden Ausflug in die Philosophie. Er studiert nur Physik, Mathematik und Astronomie. Und er ergreift die Gunst der Stunde: "Als ich entsprechend jung war, da wurden die Atomkerne reif."
     Einen Tag nach seinem zwanzigsten Geburtstag schließt Weizsäcker das Studium mit der Promotion bei seinem Doktor vater Heisenberg in Leipzig ab. Wenige Monate vorher, Anfang 1932, hat James Chadwick in Cambridge das Neutron entdeckt. Ernest Rutherford, der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1908, hatte bereits Anfang der zwanziger Jahre die Vermutung ausgesprochen, dass es Bestandteile des Atomkerns geben müsste, die verhinderten, dass sich die positiven Protonen im Atomkern gegenseitig abstoßen, und nannte diese "Neutronen." Chadwick gelang nach elf Jahren beharrlicher Arbeit der tatsächliche Nachweis. Damit eröffneten sich ganz neue Perspektiven. Die bisherigen "planetarischen" Atom modelle, bei denen Elektronen den Atomkern wie Planeten die Sonne umkreisen, waren mit einem Schlag überholt, auch wenn sie noch heute als Firmenembleme für Forschungszentren oder Energiekonzerne dienen. Erst jetzt wurden Atommodelle begründbar, die sich mit der Quantenmechanik in Einklang bringen ließen. Bis zu Chadwicks Entdeckung war auch für Heisenberg ein nur aus Protonen und Elektronen bestehender Atomkern nicht vorstellbar gewesen. Wie sollte er stabil sein beziehungsweise was hielte ihn zusammen ? Im Sommer 1932 hält sich Heisenberg in Brotterode auf, einem kleinen Kurort im Thüringer Wald, wo er vor Heuschnupfenattacken sicher ist, und nimmt seinen jungen Doktoranden als Begleiter mit. Dort hat Weizsäcker den Gedanken, dass Atomkerne aus Protonen und Neutronen bestehen müssten und dass sich damit eine schlüssige Theorie der Atomkerne aufstellen ließe. Nach Weiz säckers Worten kapiert Heisenberg sofort: "Wenn es Neutronen gibt, dann können Protonen und Neutronen als zwei etwa gleich schwere Elementarteilchen einen Atomkern bilden". Das wäre vermutlich eine stabile Sache. Damit war Heisenberg, der diesen Gedanken in einem Aufsatz weiterentwickelt, in der Kernphysik angekommen. Auch die Kernphysik überraschte damals fast täglich mit neuen Erkenntnissen, und Weizsäcker, der seine eigene Doktorarbeit über das Ferromagnetikum thematisch eher langweilig findet, beschließt, in die interessantere Atomphysik zu wechseln. Im Herbst 1933 studiert er bei Niels Bohr in Kopenhagen und kehrt dann zu Heisenberg zurück, dessen Assistent er 1934 wird. Fortan widmet er sich hauptsächlich der Kernphysik. Seine erste physikalische Arbeit gilt der "Ortsbestimmung eines Elektrons" - einer Anwendung der Quantentheorie. 1936 holt ihn Otto Hahn vertretungsweise ein halbes Jahr als "Haustheoretiker" und Assistent an seine Forschungsstätte, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin.
     1937 erscheint sein Buch über die Atomkerne. Für Weizsäcker sind die Jahre 1927 bis 1929 und 1932 bis 1933 die goldenen Jahre der Physik. Und bald wird er bei einem Weltereignis zugegen sein, das sein ganzes weiteres Leben mitbestimmen wird.

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