Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Cobb: Tod in Paris. Teil 1

17.03.2011.
Alles unter Beobachtung: Das dichte Netz der Pariser Gesellschaft


"? Jean Soyer, Viehzüchter, geboren in Saint-Front (Orne), ungefähr 36 Jahre, wohnhaft in Montrouge, verheiratet ? ein Hemd mit den Initialen I.S., ein graues, gelb gestreiftes Wams aus Nanking, eine Weste aus blauem Tuch mit weißen Streifen, ein Hemd aus selbigem Tuch ? Leichnam identifiziert von Guillaume Soyer, Viehzüchter, wohnhaft in Montrouge, und Rene Soyer, Kutscher, wohnhaft in Paris, Rue de l?Oursine 26, Division du Finistere, beide Brüder des Verstorbenen ?"  (Protokoll vom 19. Prairial VIII)

"? Rue de la Ferronnerie, Kutschplatz (Section des Marches) ? eine auf der Erde liegende Person ? bei besagter Person soll es sich um einen Droschkenkutscher handeln, der dort seinen Standplatz hat ? besagter Kutscher habe ein Gasthaus aufgesucht & sei nach dessen Verlassen neben seinem Gefährt zusammengebrochen ? erschienen die Citoyenne Witwe Grosclere ? erklärte, Eigentümerin der Kutsche Nr. 1006 zu sein, erkannte besagte Person mit Bestimmtheit als ihren Kutscher, erklärte, dass sein Name vermutlich Allart laute, dass sie aber nicht wisse, wo er wohne ? dass sie bei Mercier gewesen sei, einem Kutschenverleiher, Rue de la Reunion, in dessen Diensten besagter Allart lange gestanden habe, dass sie bei Fontaine gewesen sei, commissaire de police im Rathaus der Division de l?Invisibilite, alle Nachforschungen aber vergebens gewesen seien ? in Anbetracht ? der Unmöglichkeit, Verwandte und Freunde des besagten Allart ausfindig zu machen, wird angeordnet, dass die städtische Verwaltung des 4. Arrondissements für seine Beisetzung sorgt."  (Protokoll vom 27. Messidor VII)


Verlagern wir für einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit von den Hauptpersonen all dieser früh beendeten Lebensläufe auf die Nebenfiguren. Unser Material wird dadurch eine neue, vielleicht überraschende historische Dimension gewinnen. Mit wenigen Ausnahmen sind alle Verstorbenen, ohne dass ihnen das freilich noch nutzen konnte, Teil eines Netzwerks von Lebenden: Mindestens vier repondants melden sich für jeden Leichnam. Jedes ertrunkene Kind hat Eltern, Brüder und Schwestern, Paten, jeder Rentier, jeder Insasse eines Armenhauses, eines Hospitals oder Hospizes hat Verwandte: Kinder, Neffen, Nichten und Enkel. Selbst der Junggeselle, der sich erschossen, die alte Jungfer, die sich aus dem Fenster gestürzt hat, können noch von jenseits des Grabs einen Neffen oder eine Schwägerin herbeizitieren, manchmal vom anderen Ende der Stadt, dazu Arbeitskollegen, Ladenbesitzer, Vermieter, Kaffeehauswirte, Pförtnerinnen, Rentiers. Man glaubt fast, den Verstorbenen bei ihren alltäglichen Verrichtungen und Besorgungen zuzusehen, sie auf ihren gewohnten Wegen, bei ihrem unspektakulären Leben zu begleiten: Hier haben sie gewohnt, dort ihr Brot gekauft, da gegessen, getrunken, Karten gespielt, ihren Abendspaziergang gemacht, sind sie in der Sonne gesessen. So folgen wir ihnen, schauen ihnen über die Schulter, belauschen ihre Gespräche, nehmen an ihrer Freude an den einfachen Dingen des Lebens teil - dem Schatten, der über eine gelbe Wand kriecht, dem tiefen Grün der Platanen, der Tönen einer Drehleier, von einem munteren Straßenmusikanten aus der Auvergne gespielt, die hinreißende Schönheit eines Mädchens, durch ihre vielfach geflickte Kleidung nur noch hervorgehoben - ein Charme, der einem Meister der Beobachtungskunst, wie Restif einer war, nicht entgehen konnte. Man spürt die leichte Brise, die vom Fluss herüberweht, lauscht einem Streit, der sich zu wüsten Beschimpfungen steigert, oder nur dem leisen Klackern von Dominosteinen. Es braucht nur ein klein wenig Phantasie, und schon ersteht vor uns die kleine, intime, persönliche Geographie der Straßen, manchmal ganzer Viertel. Die Protokolle verschaffen uns den Schlüssel zu solch vergessenen, halb geheimen Wegen, Gässchen, zu dunkelgrünen Türen, die in verborgene Gärten führen, und zu der Art von Wissen, über das mit Sicherheit jeder einigermaßen gewiefte garçon-coiffeur verfügt: "Sein Name lautet ?", "das ist ein reicher Buchbinder", "abends findet man ihn im Cafe, er spielt dort Karten", er hat drei Töchter, eine hat vor kurzem geheiratet", "zur Sonntagsmesse gehen sie nach Saint-Nicolas-des-Champs". Aber sie zeigen uns nicht alles, weshalb wir weitere Hilfe beim commissaire de police und in den Rundschreiben des Bureau Central suchen müssen.
     Selbst ertrunkenen Soldaten wird der zweifelhafte Vorteil des postumen Wiedererkennens durch ein halbes Dutzend Kameraden ihres Regiments oder ihrer Kaserne zuteil. Nicht immer sind sie vom gleichen Rang, es kommt durchaus vor, dass ein sergent-major für einen grenadier erscheint, ein lieutenant für einen marechal-des logis, ein hussard für einen lieutenant. Sie waren die letzten Gefährten der Toten, und sie waren die ersten, die ihr Fehlen in der Kaserne, ihr Nichterscheinen an einem vereinbarten Treffpunkt bemerkten. Sie alle gehören einer Armee an, in der, wenn auch vielleicht etwas erzwungen, die egalite gepflegt wird. Bei den Vergnügungen treten die Rangunterschiede in den Hintergrund. (Es kam vor allem darauf an, wer am Wochenende Geld in der Tasche hatte - ein Hauptmann ließ sich sicher auch von einem Sergeanten ein Glas spendieren, ein Sergeant von einem Korporal. Und die mehr als sechs Jahre Krieg werden das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Militärangehörigen in einer Stadt voller Zivilisten ziemlich gestärkt haben. Sie mussten einfach zusammenhalten, blieb Soldaten der Zugang zur Pariser Gesellschaft doch weitgehend versagt - allein schon ihre Uniformen schlossen sie aus, wie sie nur zu gut wussten, was man Berichten über ihre Gespräche mit Personen außerhalb militärischer Kreise entnehmen kann.)
     Natürlich war es nicht einfach, den kollektiven Fesseln des Militärlebens zu entkommen, das wenig Glanz und Gloria, aber viele Zwänge bereithielt, denen man selbst durch einen Suizid nicht entkam. Und wenn der Leichnam schließlich in die Zuständigkeit der Zivilbehörden der Stadt fiel - der Tod ist die endgültige Selbst-Demobilisierung - dann holte sich das Militär zumindest die Uniform zurück. Sogar ein Fremder scheidet in Paris nicht unerkannt aus dem Leben: Ein Militärbeamter aus Rocroy wird von drei Gefährten aus derselben Kleinstadt identifiziert, sämtlich gutsituierte Männer, zwei von ihnen wohnen in seiner Nähe in einem Hotel. Wahrscheinlich sind sie alle zusammen angekommen, und zwei von ihnen hatten bereits für eine gemeinsame Rückreise Plätze in der Postkutsche nach Charleville reserviert. Der Selbstmörder hatte sogar schon sein Gepäck vorausgeschickt.?

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? "Jacques Gillet, ehemals lieutenant im 1er Bataillon des Ardennes, geboren in Rocroy, 27 Jahre, wohnhaft in Rocroy, logiert seit ungefähr 3 Monaten in Paris, Rue Helvetius 603, vermisst seit dem 15. dieses Monats ? mit einem Strick um den Hals aufgefunden ? bekleidet mit einem Hemd ? einer Kniebundhose ? keine Strümpfe, kein Leibrock, keine Schuhe ? Leichnam identifiziert von Jean-Pierre Kellenter, Kaufmann, wohnhaft normalerweise in Julier ( Roërs), gegenwärtig in Paris, logiert Rue und Maison Clos-Georges ? François Janes, Angestellter im Finanzministerium, Rue des Poulies ? und Victor Huart, ehemaliger Heereslieferant der Republik, Heimatort Rocroy, logiert gegenwärtig in Paris unter selbiger Adresse ? geben an, der Tote sei an besagtem Tag [15. Prairial] mit den genannten Citoyens Kellenter und Huart in seinem Quartier, Rue Helvetius, verabredet gewesen ? dass sie Gillet dort aber nicht angetroffen hätten, man ihnen ausgerichtet habe, er werde bald zurückkommen, worauf sie gewartet hätten, er sei aber nicht wiedergekommen, dass Gillet am nächsten Morgen zusammen mit dem Citoyen Huart nach Rocroy hätte zurückfahren sollen, dass er zu diesem Zweck sogar sein Felleisen zu diesem habe bringen lassen ?" ( Protokoll vom 23. Prairial VII ).
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zu Teil 2

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