Vorgeblättert

Leseprobe zu Peter Nadas: Parallelgeschichten. Teil 3

26.01.2012.
Nach diesem erneuten Wortwechsel wurde die Stille zwischen ihnen unheilverkündend und hoffnungslos düster. Vorhin hatte ich sie, zwar peinlich berührt und widerwillig, aber noch neugierig verfolgt, dieser Anfall hingegen erschütterte mich. Was sie da zusammen trieben, brauchte keine Zeugen, meine Anwesenheit war nicht mehr erklärbar oder erträglich. Nicht aus moralischen Gründen, sondern es schlug mir direkt auf den Magen und das Gedärm. Man weiß nie genau, was man sich vom Leben wünscht, man muss ja gleichzeitig Verschiedenes wünschen, Möglichkeiten abwägen, aber so etwas wollte ich bestimmt nicht. Ich fürchtete, ich würde vor Schreck einen Furz lassen.
Der Augenblick war nah, ich fühlte es, da ich die Konsequenzen meiner dauernden Beklemmung nicht mehr würde unter Kontrolle halten können.
Ich meldete mich leise und vorsichtig zu Wort, nannte die Frau zum ersten Mal beim Vornamen, und um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, beugte ich mich näher zu ihr und packte mit beiden Händen neben ihren Schultern die Polsterung der Rückenlehne. Ich passte sehr auf, dass ich nicht einmal zufällig ihren Mantel streifte.
Der Mann betrachtete mich feindselig im Rückspiegel.
Ich glaube, meine Gegenwart ist gänzlich überflüssig, sagte ich, und wenn sie erlaube, würde ich jetzt aussteigen.
Als hätte sie meine Stimme erwartet, wandte sie nicht nur den Kopf, sondern drehte sich mit dem ganzen Oberkörper um, mit der Drehung ihrer Schulter presste sie meine Finger in die Polsterung hinein. Gerade hatte ich mich dem Mann zuwenden wollen, um mich kurz von ihm zu verabschieden. Doch wenn das jetzt so lief, mussten wir es so belassen, es so akzeptieren. Sie band mich mit ihren Schultern und ihrem Rücken an sich, ich verstrickte mich in sie, sie ließ mich nicht los, und auch mir wäre nicht eingefallen, mich loszureißen. Es war, wie wenn man einen Stecker in eine Steckdose steckt, der Strom beginnt zu fließen und das Licht geht an. Sie musste fühlen, wie gespannt und aufgewühlt mein Körper war. Aber durch ihren Mantel hindurch spürte ich, dass es für Nervosität keinen Grund gab, ihre Ruhe und Sicherheit konnten nicht einmal von ihrer momentanen Verzweiflung angekratzt werden. Und bei mir würde das Licht die nächsten zehn Jahre sowieso nur für sie angehen können. Das war?s, und fertig. Sie ruhte in sich selbst, bestand aus Vertrauen und Sicherheit, andere Regungen und Gefühle streiften sie nur an der Oberfläche, erschütterten sie aber nicht.
Das Dunkel, in dem wir saßen, glitzerte, weil das hereinfallende Lampenlicht von den sich auf der Autoscheibe ansammelnden und rasch abperlenden Tropfen des Sprühregens zerstreut wurde, die Tiefe des Dunkels roch nach kaltem Rauch, nassem Haar, Mänteln, Leder und Parfüm, jetzt entdeckte auch ich den Gestank von hartem Schnaps darin.
Das schwarze Haar des Mannes und die blonde Mähne der Frau dufteten verschieden.
In dem Augenblick hatte für mich alles eine elementare Kraft, hatte Perspektive, Höhe, Tiefe, Schatten und natürlich ein unauslotbares Dunkel. Ob außen oder innen, elementare Kräfte spannten sich zusammen, und damit sie nicht so nackt sichtbar waren, sagten Worte das Eine und Gesten das Andere. Sonst hätten sie mich zerhackt oder gänzlich mitgerissen. Denn obwohl alles vom Gefühl der Hilflosigkeit durchwoben war, und ich war durchtränkt und durchdrungen von den Gefühlen der damaligen Zeit, von völliger Hoffnungslosigkeit, Angst, Enttäuschung, Kummer, Gereiztheit, Verkrampftheit und Anspannung, prallte es doch mit der elementaren Gewissheit zusammen, dass man lebte, und die eigene Atmung gab einem nicht einfach nur Sicherheit und ein gewisses Vertrauen in den nächsten Augenblick, sondern in erster Linie die Energie, mit der man vieles erträgt oder zumindest überbrückt. Während ich die Bemerkung vom Weggehenwollen machte, wusste ich schon, dass ich niemals mehr aus dieser Sache herauskommen würde. Ich wusste es, wusste es im Voraus. Sie durchschaute mich wohl, und ich befürchtete, dass mich auch ihr Mann durchschaute, während ich selbst überhaupt nicht begriffen hatte, wie und womit ich meine Erschütterung vor ihnen enthüllt hatte. Das Lampenlicht fiel jedenfalls mir ins Gesicht, ihre Gesichter waren im Schatten, aber in den Augen der Frau sah ich zweimal ein nicht misszuverstehendes Aufleuchten, mit dem sie mich beruhigen wollte. Als sagte sie beim ersten Mal, es steht zwar ziemlich schlimm, aber im Moment habe ich es noch im Griff, und bezöge sich beim zweiten Mal auf meine hysterische Angst, sie stellte sich mir in den Fluchtweg und befahl: Bleib, hilf mir.
Doch das sagte sie nicht laut, sie passte ihre Worte eher den alltäglichen Anstandsregeln an.
Sie sagte, aber bitte, ich solle ruhig gehen, das sei kein Problem, und da ich mich nicht rührte, weil ich nicht wusste, worin ich ihr helfen konnte, legte sie die Hand auf den Türgriff, umfasste ihn, die Tür öffnete sich wahrscheinlich schon ein wenig, sie wollte aussteigen und mich über den vorgeklappten Vordersitz hinauslassen.
Der Gedanke, wie es gekommen wäre, wenn ich tatsächlich ausgestiegen wäre, verfolgt mich seither.
Wäre ich tatsächlich ausgestiegen, wäre ich bestimmt auch nie mehr ins Lokal gegangen, und mein Leben hätte eine ganz andere Richtung genommen. Dann hätte meine hysterische Angst die Oberhand gewonnen und etwas ganz anderes wäre mir zugestoßen. Bestimmt wäre ich auf der Margareteninsel jemandem begegnet, jemandem, der keine Frau war. Aber auch das kann ich nicht wissen. Vielleicht hätte ich den Wunderriesen wiedergetroffen, den ich sowieso nie mehr vergessen konnte. Aber es kam nicht anders, der Mann ließ den Motor an, in Sekundenschnelle, der alte Motor drehte röchelnd auf, Klara konnte die aufgehende Tür gerade zurückreißen.
Unter uns spritzten Pfützen, die nasse Fahrbahn zischte, wir brausten auf der leeren Straße davon.
Von da an sagte keiner mehr etwas.
Geschehe, was wolle, wenn er betrunken am Steuer sitzt, dann soll er eben. Ich lehnte mich auf dem schmalen, ungefederten ledernen Rücksitz zurück, auch das war mir gleich. Wir bogen mit quietschenden Reifen in einer scharfen Kurve von der Nagymez-Straße in die Andrassy-Allee ein. Der Mann ist ja vielleicht nicht nur betrunken, sondern auch verrückt, ich ertappte mich bald schon dabei, dass ich seine Maßlosigkeit genoss. Ertappte mich dabei, dass ich mich nicht bloß festhielt, sondern dass meine Finger tasteten, meine Handflächen Streichelbewegungen machten, unwillkürliche Bewegungen, und enthüllende. Als würde ich etwas in Besitz nehmen, das ihnen gehörte. Haut wollte ich, und dazwischen dachte ich wieder an den Riesen. Ich tastete am fein gearbeiteten schwarzen Ledersitz herum, streichelte die perlmutt schimmernden stark geäderten braunen Zierbänder, die auf der Höhe der Rückenlehnen die vertikal abgesteppten Wülste der grauen Tapezierung einrahmten. Als entdeckte ich erst jetzt, dass im Inneren der alten Kiste alles makellos, bequem und luxuriös war. Zu ihr passte es, zu ihm nicht. Ich genoss die Geschwindigkeit, ihre verstockten Nacken, ihre Verrücktheit, meinen eigenen Wahn, genoss die gleichmäßig vorüberhuschenden Lichter, genoss, dass ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde oder was ich mit meinen unabweisbaren Gedanken anfangen sollte. Ich genoss die kleine, ihnen abgewonnene Freiheit, die mich von meinem gewohnten Leben wegspülte, so dass mich alle Fragen nur noch aus der Entfernung zu berühren schienen. Ich überließ mich der rasenden Geschwindigkeit, die nach heutigem Maßstab bestimmt gar nicht so groß war, aber damals presste sie mir die Seele im Leib zusammen.
Schon aus größerer Entfernung war zu sehen, dass vor dem Kaffeehaus Savoy Polizisten locker um einen offenen Einsatzwagen herumstanden und Zigaretten rauchten, trotzdem verlangsamte er nicht. Das Savoy war an diesem Abend leer, das Abbazia auf der anderen Straßenseite auch. Weiß gedeckte Tische im leeren Licht. Die ganze Stadt, gelähmt vom Ausnahmezustand, lag leer in der Dunkelheit, wenn auch voller Nachrichten und Schauermärchen, die verschreckten Leute zogen es vor, sich zu Hause zu ducken. Unter Quietschen und Schütteln rasten wir mit überhöhter Geschwindigkeit die Straßenbahnschienen entlang über die mit patschnassen Fahnen geschmückte Ringstraße. Aus irgendeinem Grund kamen die Polizisten nicht hinter uns hergestürmt. Ich wagte nicht zurückzublicken, wollte mir gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn sie uns folgten. Ein gutes warmes Gefühl, eine Art unbegründeter Sicherheit sagte, dass auch das unwichtig war, sollen sie eben kommen. Aber sie kamen nicht. Nach einer Weile verbreitete sich im Wagen angenehme Wärme, die nass gesprühten Scheiben waren beschlagen. Mir kam sogar der Gedanke, dass die Polizei ihn wegen seines Ledermantels für einen der ihren hielt, oder dass er so waghalsig fuhr, weil er es tatsächlich war. Gewöhnliche Polizisten trugen keine so feinen Ledermäntel. Auf der Andrassy-Allee rasten die im starken Wind bewegten nass glänzenden kahlen Äste der Platanen über uns weg.
Nirgends ein Fahrzeug, ein Fußgänger.
Die glänzende Wölbung der gepflasterten Allee warf sich uns dunkel zwischen die Räder. Kurz vor dem Körönd-Kreisel schrie ich unwillkürlich auf, pass auf, ein Hund, denn vom äußeren Gehsteig begann ein ziemlich großes schwarzes Tier auf den Wagen zuzurennen. Sein sichtlich überraschter, schreiender und herumfuchtelnder Besitzer warf sich ihm nach, vergebens. Der Hund rannte in einem steilen Winkel von ihm weg, vom Gehsteig herunter, lief über die Straße, wieder auf die Promenade, um sich von den umgegrabenen Blumenbeeten her auf uns zu werfen. Dann, warum auch immer, überlegte er es sich noch einmal und bellte unter den Bäumen mit vorgestreckter Schnauze und angespannten Muskeln den Rädern nach.
Es war aber nicht jener Hund.
Unsere Geschwindigkeit hatte sich nicht im Geringsten vermindert. Er fuhr nicht wie jemand, der die Gefahren missachtet oder sie geradezu herausfordert, um sich frei zu fühlen. Eher könnte man sagen, dass er zu jedem Zusammenstoß bereit war, koste es, was es wolle, seine wilde Entschlossenheit war nicht mit Freiheit oder Knechtschaft zu erklären. Er hielt das Steuer mit steif gespreizten Armen. Für nichts gab es eine wirkliche Erklärung. Auch dafür nicht, dass ich mich in dieser Anarchie oder diesem beginnenden Chaos zum ersten Mal wirklich wohlfühlte. Ich schämte mich ein wenig für den Schrei. Als hätte ich immer noch etwas zu verlieren.
Aber besser, wenn nichts so ist, wie ich es möchte, sondern alles so kommt, wie es kommt.
Von Klaras Körper aber kam keine Antwort.
Allerdings hatte auch niemand etwas gefragt, Personen und Ereignisse waren unabhängig voneinander. Am Ende überließ ich mich dem Gefühl, das Simon um sich verbreitete. Überließ mich der verrückten Hatz, die alle meine wirren oder schönen oder sonstigen Gefühle zudeckte und die Frage nicht einmal aufkommen ließ, wohin wir eigentlich rasten.
Ursprünglich hatte er wohl zum Heldenplatz am Ende der Andrassy-Allee hinausfahren wollen.
Wir hatten den wütenden Hund knapp hinter uns gelassen, als wir vom Kreisel aus sahen, dass jetzt etwas folgen würde, bei dem wir nicht so ungeschoren davonkämen. Aus der Distanz sah es aus wie eine unerklärliche Erscheinung. Irgendwo auf der Höhe der Bajza-Straße verstellten zwischen den baumgesäumten Gehsteigen zwei dunkle Blöcke die Fahrbahn. Zwischen den Blöcken nur ein schmaler, lichtgleißender Durchgang. Zuerst verstand ich gar nicht, was das war. Man sah eigentlich nur einen glühenden Lichtblock zwischen zwei dunkel dämmernden Blöcken.
Vielleicht hatte es Simon zuerst gesehen und begriffen, was es war. Da waren wir schon über die große Kreuzung des Kreisels hinausgerast. Er musste es in dem Moment beschlossen haben. Ohne das Geringste an der starren Haltung seiner ausgestreckten Arme zu ändern, riss er mit Hilfe seines ganzen Oberkörpers das Steuer nach rechts, dann, unter fürchterlichem Schlenkern, Schütteln und Quietschen, noch einmal, diesmal nach links, womit er glücklich vermied, in Blumenbeete und Bäume hineinzudonnern, er traf auch recht gut die Fahrbahn zwischen den beiden Gehsteigen, auf der er, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, weiterraste.
Ich muss zugeben, dass ich ihn bewunderte.
Die Erscheinung hatte eine einfache Erklärung. Um diesen Teil der Straße zu sperren, hatte die Polizei zwei Einsatzwagen einander gegenübergestellt, die sich mit den Scheinwerfern anleuchteten.
Was machten die da. Vielleicht war in der Stadt noch etwas vorgefallen, wovon wir noch nicht wussten, zusätzlich zu dem entsetzlichen Unglück vom Vormittag, am Ort der offiziellen Feierlichkeiten. Aber keiner von uns sagte oder fragte etwas. Vielleicht wollten sie Leute verhaften oder die Stadt unter völliger Kontrolle halten. Es blieb vieles ungesagt, sogar angesichts belangloser Unstimmigkeiten sagte man lieber nichts, weil man eigentlich immer auf Katastrophen gefasst war. Im Dunkeln unter den Bäumen standen die Lederbemäntelten in Gruppen. Eine so auffällige Straßensperre hatte es seit vier Jahren nicht mehr gegeben. Es war auch merkwürdig, dass sie das Stadtviertel gerade auf dieser Höhe absperrten. An dieser Ecke stand hinter seinem schweren Eisenzaun der Gebäudeblock der Sowjetischen Botschaft, jetzt im Dunkeln, und wenn man auf diesen baumbestandenen Straßen weiterspazierte, sah man, dass bis zum Epreskert alle Gebäude des Viertels dazugehörten, es war ein Klein-Moskau. Nicht einmal auf dieser Nebenstraße der Allee kam man durch den Kordon. Aber Simon bremste nicht, sondern bog, fast über den Gehsteigrand schrammend, in scharfem Winkel, zweimal auf die Hupe hauend, in die Bajza-Straße ein.
Das Spiel begann erst jetzt richtig, oder vielleicht war es gar kein Spiel.
Vielleicht wollte er der Frau etwas beweisen. Oder mir. Er brüllte. Nicht aus voller Kehle, das kann man nicht sagen, eher aus der Tiefe seines Brustkastens. Als sänge er den einsamen Sang der Selbstvergewisserung. Mal steigerte er die Geschwindigkeit, mal drosselte er sie genauso plötzlich, es warf uns vor und zurück. Er ließ das Steuer lange los, dann wieder stemmte er beide Arme dagegen und riss es hin und her, ließ den Wagen zwischen den Gehsteigen tanzen. Es war nicht vorauszusehen, wie viel das alte Gerät, vielleicht ein Adler, noch vertragen würde. Die ganze Zeit drückte er rhythmisch auf die Hupe. Ich wusste nicht, wollte er mit diesem Amoklauf seine Frau auf die Probe stellen, war es eine mir zugedachte Demonstration oder rächte er sich an den hinter uns zurückgelassenen und sicher verblüfften Polizisten für das ewige Gefühl der Bedrohung; zeigte er ihnen ganz einfach den Finger.
In jenen Jahren tat man so etwas nicht.
Es war sonst schon gefährlich genug.
Klara klammerte sich fest an ihren Sitz, aber ihre Haltung ließ nicht erkennen, ob sie Angst hatte, ob sie sich bei alledem etwas dachte. Sie hatte sich zurückgezogen, auf neutrales Terrain, keine demonstrative Geste, aber natürlich doch deutlicher Ausdruck einer Überzeugung. Man forderte das Schicksal nicht unnötig heraus. Und während wir unter diesem triumphierenden Kampfgeheul hupend die Königin-Vilma-Straße, jetzt Gorkij-Allee, dann die Damjanich-Straße überquerten, musste ich einfach denken, Simon sei tatsächlich durchgedreht. Der fährt absichtlich gegen die nächste Hauswand. Er fuhr auf den Gehsteig hinauf. Unter schauerlichem Geschepper fegten wir ein paar hinausgestellte Mülleimer zur Seite.
Es konnte ja doch jemand nichtsahnend aus einem der Tore treten.
Ich rechnete damit, dass ihn Klara bremsen, dass sie sich etwas einfallen lassen würde.
In den paar Sekunden, in denen wir über den Gehsteig der Nefelejcs-Straße fuhren, hielt ich lieber die Augen geschlossen. Anders konnte ich mich nicht vor einem solchen Angriff des Wahnwitzes schützen. Vielleicht wäre es auch gefährlicher gewesen, etwas zu tun, als nichts zu tun. An der Ecke zur Dembinszky-Straße stürzten wir geradezu von dem hohen Gehsteig herunter. Als hätte er sich die Zunge durchgebissen, hörte er plötzlich mit dem Gebrüll auf. Er fuhr, als sei es die natürlichste Sache der Welt, schräg über die Straße und bremste auf der anderen Seite so scharf, dass es uns nach vorn warf.
Voila, on y est, sagte er, wir sind da, und er schlug wieder mit beiden Händen aufs Steuer, dass die Hupe aufblökte.
Erst jetzt blickte ihn Klara wieder an, und sie hatte wieder ein neues Profil.
Ich ziehe mich um, sagte sie trocken, gib mir zehn Minuten.
Fünf, sagte er.
Acht, sagte sie, und bevor sie ausstieg, warf sie einen Blick auf mich.
Sie wollte sehen, ob ich die Fahrt überlebt hatte.
Ich klammerte mich an ihre Aufmerksamkeit, aber diese kurze Ermutigung reichte mir nicht, um die nächsten Minuten durchzustehen. Sie ließ die Wagentür vorsichtig ins Schloss fallen, es klickte nur gerade, und ging mit raschen Schritten durch das dunkle, gähnende Tor. Der Mann lehnte sich über den Sitz, stieß die Tür noch einmal auf und brüllte ihr nach, sie solle Zigaretten mitbringen. Die Tür schnappte ein zweites Mal zu, es wurde endlich still, wieder ein unmöglicher Augenblick. Draußen rauschte der Wind, klapperte mit den Blechtraufen. Die Lebensgefahr hatten wir hinter uns. Er schaute mich im Rückspiegel so feindselig an, als habe er mit mir oder der Welt noch etwas vor, ich schaute zurück. Sein Blick war nicht zu deuten, ich wusste nicht, was er vorhatte. Der aus Klaras beruhigendem Blick gewonnene Vorrat war schon aufgebraucht. Jetzt hätte ich es wirklich nicht mehr begründen können, wenn ich wegging.
Es war schon ziemlich spät, aber was wäre das für eine Begründung gewesen.
Ich sagte, ich wolle mir ein wenig die Beine vertreten, aber ich dachte jetzt an nichts anderes mehr, als dass ich gehen wollte. Nicht abwarten, bis Klara zurückkam.
Natürlich dachte ich auch gleich daran, dass ich über die dunkle Arena-Straße musste. Ich fühlte in den Gliedern schon das beschwingte Weggehen voraus, die befreit spazierenden Schritte.
Als erwarte mich unter den sturmgepeitschten Bäumen auf der anderen Straßenseite tatsächlich die Freiheit.
Ich nannte die Straße noch bei ihrem alten Namen, Arena, hier nämlich stand das aufs Stadtwäldchen blickende Haus, das mein Großvater gebaut hatte und in dem ich geboren war. Und unter den großen Platanen hinter der Kunsthalle gähnte, schwach erleuchtet, der im Souterrain gelegene Abort, wo immer Mengen von hungrigen Männern aufeinander warteten.
Er fragte, ob ich Zigaretten hätte, sagte, auch er würde sich gern ein wenig die Beine vertreten, siezte mich dabei aber strikt, was mich eher freute. Wenigstens diese Distanz zwischen uns war klar. Ich sagte, ich rauche leider nicht, was nicht ganz stimmte, und wir stiegen beide aus. Für mich war das umständlicher, ich musste ja über die vorgekippte Rückenlehne des Vordersitzes klettern. Damit es nicht so demütigend war, sagte ich, wenn ich mich recht erinnere, gibt?s da in der Nähe ein Wirtshaus. Während wir auf Klara warteten, könnte ich ihm ja dort Zigaretten holen. Er lachte auf, als wäre er auf seine Verlegenheit stolz. Er sagte, das sei sehr zuvorkommend, aber ein paar Minuten würde er es schon noch aushalten. Ein Wirtshaus hingegen gebe es tatsächlich, da, auf der anderen Straßenseite, wie er mir mit der Hand bedeutete.
Ziemlich müdes Kraut, was die da haben.
Es war ein Dreiviertel-Ledermantel, jetzt unter den Straßenlaternen sah ich, dass das Leder schon ziemlich in die Jahre gekommen war, die Oberfläche schuppig. Herrenchauffeure und Wirtschaftsverwalter hatten vor dem Krieg solche Mäntel getragen.
Da, auf der anderen Seite der öden, heruntergekommenen Straße, gab es tatsächlich noch das Wirtshaus. Vor seinem beleuchteten Portal standen, ihre Biere und Gespritzten in der Hand, wer weiß wie lange schon die Schatten von Männern. Das Wirtshaus gehörte zu den geheimnisvollsten Orten meiner Kindheit. Aus welcher Familie man auch stammt, in einer Stadt, in der man aufwächst, gibt es immer verbotene Orte. Das Wirtshaus war keine feindliche Welt, wenn nicht gerade die Betrunkenen randalierten, ging es eher friedlich zu, trotzdem wusste ich, da darf ich nicht hinein. Nicht, weil es jemand verboten hätte. Aber es drängte sich einfach nicht auf, keine Situation des Lebens verlangte es. Neustens fuhr der Bus Nummer fünf von da ab, das war jetzt die Endstation. Drinnen war das Wirtshaus rauchverhangen, es summte wie ein Bienenstock, so viele Männer, dass einige auf die Straße hinausgepresst wurden, sogar im Winter. An der Hauswand stand eine Bank. Auch auf der Istvan-Straße verkehrte keine Straßenbahn mehr. Die Bank war blau gestrichen, wie die Busse, sie war für die pausierenden Chauffeure und Schaffner gedacht, auch wenn meistens Betrunkene darauf lagen.
Aus dem dunklen Stadtwäldchen lief der von nassen Bäumen duftende Frühlingswind ungehindert durch die Straße.
Und da geschah wieder etwas Peinliches, etwas, womit ich wieder nicht gerechnet hatte.

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Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages
(Copyright Rowohlt Verlag)


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