Vorgeblättert

Leseprobe zu Peter Nadas: Parallelgeschichten. Teil 1

26.01.2012.
S. 1151 ff

Diese verschreckte Befriedigung

Es gibt aber eine Art von heimlichem, verdrängtem, animalischem Gefühl, dessen wir uns wirklich schämen. Es redet nicht von Gut und Schön oder Böse und Hässlich, denn es hat keine begriffliche Sprache. Es geht nach dem Geruchssinn, obwohl es keine Nase hat. Ich wollte einfach nicht, dass mir der Duft der Frau weggenommen würde, besser, ich hätte nicht gewollt, dass man ihn mir zu früh wegnahm. Dass sie wegging. Dass ihr Mann oder sonst jemand sie in einem geschlossenen Auto mitnahm, bevor ich ihn nach Herzenlust auf der Zunge gespürt, ausgekostet hätte.
     Und auch wenn dieses Gefühl keine Augen hat, sieht es dennoch Dinge, die man nicht sehen kann. Denn es war nicht ihr Duft, besser gesagt, nicht nur und ausschließlich ihr Duft, an dem ich so hing, sondern alles, was das mit bloßem Auge Sichtbare umgab und umschwebte, alles, was ihr entströmte oder was sie erwartete und ersehnte, weil es ihr fehlte. Dieses Etwas, das genauso ihre Beschaffenheit wie ihre Bedürfnisse oder ihr Wesen und ihre Seele sein mochte, hatte nichts mit ihrer Schönheit zu tun. Ich sagte, gut, wir wollen nicht länger scheißblöd tun, und es berührte mich angenehm, dass ich plötzlich und unbegründet so locker und folgsam war, aber eigentlich sagte ich nur ja zu diesem Unbegreiflichen, Unergründlichen, Unsichtbaren, denn das hätte ich in keinem Fall abweisen können. Mein tierhaftes Sein, vielleicht meine Seele, wollte ihre Seele fesseln, aufnehmen, sich zu eigen machen oder sich einfach in der Gesellschaft ihres tierhaften Seins aufhalten.
     Hätte sie gesagt, sie verwandle sich jetzt in eine Katze und steige auf den Kirchturm, ich solle mich auch in eine Katze verwandeln und ihr folgen, hätte ich wohl sofort instinktiv nein gesagt. Aber gleichzeitig gedacht, na gut.
     Ich folgte ihr nicht etwa, weil ich hoffte, ich käme mit ihr doch noch auf einen grünen Zweig.
     Es war vorauszusehen, dass meine Situation schon im nächsten Augenblick unerträglich sein würde, trotzdem folgte ich ihr. Folgte ihr auch so. Später mochte ich mir dann wegen meines leichtfertigen Entschlusses die Haare raufen, musste es jetzt aber ertragen. Ertrug es gegen den gesunden Menschenverstand, gegen meine Erziehung, mein Gefühl für Ästhetik, gegen den Anstand und den guten Geschmack, gegen mein Bedürfnis nach Verhältnismäßigkeit. Gegen alle die goldenen Verhaltensregeln und Prinzipien meiner Erziehung, gegen alles, was man von sich selbst denkt.
     Egal, sei es. Vielleicht wendet sich ja, sagte ich mir, gleich alles zum Guten. Oder vielleicht nächste Woche.
     Mein Elend setzte sich fort, als ich auf den Hintersitz ihres Wagens kriechen musste. Wie kam ich dazu, in den Wagen eines unbekannten Mannes zu klettern. Sie hatte uns nicht miteinander bekannt gemacht. Ich schlug mit dem Kopf gegen den Türrahmen und gleich darauf mit dem Schienbein gegen den Rahmen des Vordersitzes. Ich hatte ihn gegrüßt, aber er hatte ins Dunkel gestarrt und den Gruß nicht erwidert. Stieg ich eigentlich in den Wagen eines unbekannten Mannes, um seine Frau zu verführen. Kein sehr überzeugender Grund, auch kein besonders wählerisches oder originelles Vorgehen, abgesehen davon, dass es nur zum Schein so war. Ich wollte niemanden verführen, hatte noch nie jemanden verführt. Vor Schmerz schrie ich auf und zischte, dann lachte ich, weil ich höflich zeigen wollte, dass ich schon wisse, wie lächerlich ich sei und wie unmöglich ich mich benehme.
     Klettere einer Frau nach, die nicht einmal meinen Namen kennt, und schon mache ich ihr was vor. Ich versuchte noch einmal, diesen fremden Mann zu grüßen, aber wieder tat er, als höre er es nicht. Ich verachtete, hasste mich zutiefst dafür, dass ich so anpasserisch war. Während ich im Dunkeln hineinkletterte und mich dumm anstellte und mir das Bein kaputt schlug, blickte ich diesen Mann an wie ein Tier ein anderes Tier. Wer mochte das sein, den diese Frau so wie mich schwachgemacht hatte. Der Rivale war ein schönes, großes dunkles Exemplar mit scharfen Gesichtszügen. Der bei aller roher Schönheit auch etwas Erschreckendes hatte. Vielleicht hatte ich bei ihm aber auch eine Eigenschaft entdeckt oder war vor einer Eigenschaft erschrocken, über die er gar nicht verfügte.
     In diesem Augenblick war ich meiner gar nicht mächtig, was ich wegen der Frau gegen jede nüchterne Vernunft akzeptierte. Der Mann musste mich doch einfach als Rivalen ansehen. Gleich schienen wir schon in aufflackernder animalischer Abneigung nach der Stelle Ausschau zu halten, an der wir den anderen packen konnten, wir schienen zu beobachten, wer schlagkräftiger war, stärker, geschmeidiger. Mit dem ersten Blick konnte sich schon alles entscheiden. Und richtig. In diesem Fall war der Körper das Entscheidende, seine Kraft, seine Geschicklichkeit, sonst nichts. Er war flinker als ich, tückischer, härter, offener und direkter, kampfbereiter, aber in seelischer Hinsicht war er nicht stärker. Auf dieser Ebene des animalischen Instinkts spürte ich voraus, dass der Körper, mit dem ich zusammenprallen würde, knochendürr, von Sehnen und Gereiztheit gespannt war.
     Mein zivilisiertes Ich sagte natürlich nichts dazu.
     Es war ein körperliches Gefühl, ein gemeinsames, wechselseitiges Gefühl, auch er sah mich so an, musterte mich, maß mich. Von Männern wusste ich mehr als er. Ich hatte die ersten Jahre meines Lebens in einem Internat verbracht, meine Erfahrungen gründeten in der Schlacht um die größeren Bissen und im harten Kampf um die Aufmerksamkeit der Aufseherinnen. Es war aber nicht zu entscheiden, wer von uns provokanter war. Die Mangelhaftigkeit oder Unehrlichkeit seines Wissens machte ihn verletzlich. Seiner körperlichen Beschaffenheit zufolge war er der angriffsbereitere, auch wenn ich, unserer Situation zufolge, der Angreifer war. Dem Anschein nach benahm natürlich auch er sich nicht feindselig, obwohl ich im ersten Augenblick nicht genau verstanden hatte, warum er meinen Gruß nicht erwiderte. Doch dann half er mir geradezu, kippte die Lehne des Vordersitzes nach vorn, ich solle ruhig hineinklettern, wenn es seine Frau so wünsche. Er bedauerte mich wegen meines angeschlagenen Kopfs. Dann rügte er, sich auf mein schmerzliches Zischen beziehend, sich selbst wegen meines Schienbeins. Warum hatte er mich nicht gewarnt. Sein Blick antwortete sogar auf die Frage, warum er diesen verdächtigen, bedrohlich wirkenden Ledermantel trug. Er wollte größer, stärker erscheinen, strenger, als er war. Ledermäntel gab es im gewöhnlichen geschäftlichen Umlauf nicht zu kaufen. Die Leute vom Geheimdienst trugen Ledermäntel, natürlich nicht irgendwelche kleinen Geheimbeamten, sondern die Chefs. Und die Polizeioffiziere. Man musste privilegiert sein, um zu so guter Ware zu kommen. Auch die Bezirksbosse der Partei trugen Ledermäntel, die Natschalniks, wie sie sich selbst nannten, die sich wöchentlich mindestens zweimal in ihren großen schwarzen Wagen ins Gebiet fahren ließen, wie sie das Land hochmütig und verächtlich nannten, mit großem Gedöns ausstiegen und dabei auszusehen versuchten wie die Verwalter der vertriebenen Gutsherren oder die bolschewistischen Politkommissare in den Filmen, die aus dem fernen Russland kamen. Dieser Mann war mehr als zehn Jahre älter als ich, er mochte um die dreißig sein, aber in den Gesichtszügen, in seinem mageren Körper, im Blick hatte er den verletzlichen jungen Burschen bewahrt, der dauernd Angriffe provoziert, überall Feinde wittert, keinen Widerstand erträgt.
     Ich selbst tat, als suchte ich die freundschaftliche Annäherung, ich versuchte die peinliche Situation sozusagen mit einem herzlichen Benehmen zu überbrücken. Jemand mit einer anständigen bürgerlichen Erziehung hat keine Mühe, und mag die Situation noch so peinlich, seine Stimmung noch so gedrückt sein, ein freundliches Gesicht zu machen. Was nicht Heuchelei ist, sondern eine vernunftgelenkte Navigationsregel. Habe ich meine Wohnung verlassen, soll ich den anderen weder mit körperlichen noch mit seelischen Gebresten zur Last fallen. Ich begucke mich nicht mehr im Spiegel, zupfe nicht an meiner Kleidung herum, sondern trete selbstsicher auf. Trotz der Peinlichkeit der Situation und der doppelten Zurückweisung hätte ich immer noch die Hand geboten zu einer förmlichen Vorstellung. Was er wiederum nur mit einem kühlen Blick beantwortete. Er wollte es nicht, hatte keinen Bedarf dafür, oder verschwendete einfach keine Zeit darauf.
     Offensichtlich hatte er keine ähnlich geartete Erziehung genossen. Er schien nicht vom Land zu kommen, eher aus der Vorstadt, was auch ein Grund unserer Spannung war, den er aber wohl naturgemäß nicht wahrnahm. Er konnte nicht wissen, was ich in seinem Benehmen als fehlend empfand. Höchstens merkte er, dass ich die deutlichen Zeichen seiner Zurückweisung nicht verstand. Ich selbst musste mir vormachen, dass ich nichts bemängelte und auch der Zurückweisung keine besondere Bedeutung beimaß, die bürgerlichen Anstandsregeln galten ja nicht mehr. Nicht nur, weil sie offiziell für ungültig erklärt worden waren, sondern weil auch ich diese stellenweise noch funktionierenden Regeln gern über den Haufen warf. Seine Augen aber schienen mir schön, dunkel, durchdringend, mit seiner Reserviertheit schützte er eher sich selbst.
     Auch er hatte keine andere Wahl, er musste wohl tun, als sei es nicht so, wie es war.
     Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass seine Frau ohne jegliche Vorankündigung ihre neueste Eroberung, ihren Erwählten, oder was weiß ich, mitbrachte.
     Um dieser Unmöglichkeit eine Form zu geben, hätte er eigentlich aussteigen und seiner Frau die Gelegenheit geben müssen, mich vorzustellen.
     Ohne diese Formalität war mir ja schon etwas mulmig zumute. Auf so engem Raum mit jemandem zusammen sein, dem man nicht vorgestellt worden ist.
     Ich konnte die peinliche Lage nicht aufheben, hatte kein Mittel zur Verfügung.
     Nicht nur hatte er das offensichtlichste und instinktive Zeichen der Herzlichkeit, meinen Gruß, nicht erwidert, sondern auch mein anhaltendes Lächeln nicht. Ich gebe zu, dass ich auch damit einfach nur die Anstandsregeln befolgte, in diesem Sinn war es tatsächlich ohne Bedeutung, aber was sonst konnte ich tun. Es war eigentlich gar nicht sein Blick, mit dem er die Konventionen oder auch mich persönlich zurückwies, es war vielmehr sein ganzes, von unterdrückter Wut und dauernder Unzufriedenheit aufgebrachtes Wesen, das sich mir entgegenstemmte. Wir hatten die Autotür noch gar nicht erreicht, als er schon empört mit der Zunge geschnalzt hatte. Er demonstrierte seine Wut auf seine Frau. Als fände er sein Vergnügen daran, kleinlich und gereizt zu sein und von vornherein auf alle Benimmregeln zu spucken. Weil er sich das erlauben dürfe, weil er seine Gewöhnlichkeit charmant finde. Er könne es sich sogar vor einem Fremden erlauben, sagte sein nackter Blick. Er sitze fest im Sattel. Oder er gestatte sich das gerade, damit ich seine Stärke und Macht sah und mich, was seine Frau betraf, nicht eitlen Phantasien hingab. In seinem Benehmen war etwas unangenehm Aufgeblasenes, Prahlerisches, Gespreiztes. Wütend drehte er seine Stimme auf so laut, als säße er nicht in diesem kleinen, geschlossenen Raum und in der Gegenwart eines Fremden. Dass ich mich für die Frau und mich selbst tödlich schämte, war noch das wenigste. Weil sie zu so einem schönen Ungeheuer gehörte, weil sie einen solchen Pfau brauchte.
     In einem Augenblick ging alles in Brüche.
     Seine Stimme war tief, stark, kräftig, voller drohender Reserven. Er regte sich wegen irgendwelcher Getränke auf, die sie zum Fest mitbringen sollten und die seine Frau vergessen hatte. Er hätte es wissen müssen. Sie hätten doch abgemacht, dass sie sie aus dem Kaffeehaus mitbringen würde. Es sei noch nie vorgekommen, dass sie eine Abmachung eingehalten habe. Dann änderte er den Ton und beschwor mit bedrohlicher, umständlicher und kalter Präzision ihren Dialog vom Vormittag herauf, was er gesagt hatte, was sie gesagt hatte. Um zwischendurch im Dunkeln dramatisch zu brüllen: So war es doch, oder etwa nicht. Worauf er keine Antwort erhielt. Trotzdem sprach er von diesen belanglosen Einzelheiten so ausführlich und mit einem solchen unkontrollierten Genuss, als sei jede seiner kleinsten Gesten, jedes einzelne Wort von ungeheurer Wichtigkeit. Seine Selbstgefälligkeit kannte wahrscheinlich keine Grenzen, schon die Tatsache, dass er sich an diese Einzelheiten erinnerte, schien für ihn die reine, unantastbare Wahrheit zu bezeugen. Offensichtlich brauchte er tatsächlich jeden noch so kleinen Beweis, da jemand die Richtigkeit seiner Worte dauernd in Zweifel zog. Als müsse er sich vor den Augen der Welt gegen eine wiederkehrende, heimliche Anklage verteidigen. Wahrscheinlich war seine Frau das Ungeheuer, das alle seine Worte anzweifelte. Vielleicht kann sie ja mit ihrem Spatzenhirn etwas so Einfaches nicht behalten, schmetterte er im Dunkeln, und dann müsste man dafür eine akzeptable Erklärung finden.
     Dass eine Frau nie achtgeben kann, wenn man etwas sagt, nie.
     Die Frauen sind einfach noch keine Menschen.
     Worauf die Frau ganz still, mit geübter, wenn auch gespannter Geduld erwiderte, sie wisse nicht, was die Frauen täten oder nicht täten, sie habe sich ehrlich gesagt auch noch nie mit der Frage beschäftigt, wie weit sie mit der Menschwerdung gediehen seien, sie jedenfalls gebe acht, wenn es die Sache wert ist.
     Aha.
     Bei dieser Szene achtzugeben habe zum Beispiel keinen Wert.
Das schien ein Schlusspunkt zu sein.
Und sie befasse sich auch nicht mit den Nöten ihres Mannes.
     Quietschend schwippten vor ihnen die Scheibenwischer übers Glas. Die Wagentür war offen geblieben, draußen knatterte der Wind, fuhr ins Wageninnere, spritzte Sprühregen herein. Wie ein auf Grund gelaufenes, auf die Seite gekipptes Schiff in den aufgewühlten Elementen. Wegen des Windes bekam ich etwas Luft, zwischen den beiden hingegen schien die Luft abgesaugt worden zu sein. Eine tödliche, fatale, stumme und taube Stille war zwischen ihnen entstanden. Vom Rücksitz konnte ich ihre Gesichter nicht sehen, nur zwei trotzig erstarrte Nacken und Hälse. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war ein alter Sportwagen, ein Coupe, auf dessen schmalem Rücksitz wohl eher die Koffer verstaut wurden.
     In solchen Fällen ist es wohl besser, sich einzugestehen, dass man nicht in der Lage ist, etwas zu tun und es dabei bewenden zu lassen. Nicht einmal zufällig hätten sie sich angeblickt, beide schauten nach vorn.
     Sie hatten ihr Zusammenleben zerrissen, es war vorbei. Dann aber würden sie nirgends mehr gemeinsam hingehen können. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie das täglich mehrmals durchspielten. Fertig, aus. Ihre wechselseitige Wut brachte auch mich in tödliche Gefahr. Aber da war keine Tür zum Aussteigen. Sie brannten, ihr Fleisch rauchte von diesem Riss. In einem Augenblick hatte ich mehr über sie erfahren als der Anstand zuließ. Ihre wilde Entschlossenheit hatte zwar je eine andere Stärke, war je anders gestimmt, aber ihre sinnliche Intensität bezog sich strikt aufeinander.
     Er hatte nur einen Augenblick verstummen wollen, vielleicht nichts anderes gewollt als nach der rhetorischen Frage eine Pause einlegen. Ihr unbarmherziger Satz überraschte ihn trotzdem nicht, im Gegenteil, als hätte er auf einmal doch eingesehen, wie vergeblich und überflüssig es war, weitere Reden zu schwingen, es hatte ihm die Sprache verschlagen, weil er gerade mit dieser grenzenlosen, unverfrorenen Gleichgültigkeit gerechnet hatte. Ihre Missachtung erschreckte ihn und ließ sein ganzes Wesen erschlaffen, befriedigte ihn aber auch.

zu Teil 2
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