Vorgeblättert

Leseprobe zu Ngugi wa Thiong'o: Träume in Zeiten des Krieges. Teil 1

16.08.2010.
Als ich viele Jahre später bei T.S. Eliot las, dass der April der grausamste Monat wäre, musste ich daran denken, was ich 1954 an einem Apriltag im kühlen Limuru erlebte, jenem Kernort des Gebietes, das ein anderer Eliot, Sir Charles Eliot, der damalige Gouverneur des kolonialen Kenia, 1902 als White Highlands in Besitz genommen hatte. Lebhaft stand mir dieser Tag wieder vor Augen, als ereignete er sich jetzt, in diesem Augenblick.
     An jenem Tag hatte ich kein Mittagessen gehabt, und mein Magen erinnerte sich nicht mehr an den Brei, den ich am Morgen vor dem Sechs-Meilen-Marsch zur Kĩnyogori Intermediate School hinuntergeschlungen hatte. Jetzt lagen dieselben sechs Meilen Heimweg vor mir und ich gab mir Mühe, mich nicht zu sehr auf ein kleines Abendbrot zu freuen. Meine Mutter war ziemlich gut darin, jeden Tag eine warme Mahlzeit herbeizuzaubern, aber wenn man Hunger hat, sucht man sich besser etwas, irgendetwas, womit man sich vom Gedanken an Essen ablenkt. Ich tat das oft, wenn die anderen Kinder zur Mittagszeit das mitgebrachte Essen herausholten, und diejenigen, die in der Nachbarschaft wohnten, in der Mittagspause nach Hause gingen. Dann tat ich so, als müsste ich irgendwohin, wenn ich mich in Wahrheit nur in den Schatten eines Baums oder hinter einen Busch, weit weg von den anderen Kindern, zurückzog, um ein Buch zu lesen, irgendein Buch, denn viele Bücher gab es nicht, und deshalb waren sogar die Mitschriften der Schulstunden eine willkommene Ablenkung. An jenem Tag las ich die gekürzte Ausgabe von Dickens? "Oliver Twist". Im Buch gab es eine Strichzeichnung von Oliver Twist, der eine Schale in Händen hielt und zu einer gewaltigen Figur aufschaute. Unter der Zeichnung stand: "Bitte, Sir, kann ich noch etwas mehr bekommen?" Ich identifizierte mich mit dieser Frage, nur dass ich sie meistens an meine Mutter richtete, meine alleinige Wohltäterin, die mir immer zusätzlich gab, wenn sie konnte.
     Auch den Geschichten und Erzählungen der anderen Kinder zuzuhören, war eine wohltuende Ablenkung, vor allem während des langen Marsches nach Hause, obwohl der Weg eine geringere Tortur war als am Morgen, wenn wir barfuß den weiten Weg zur Schule rennen mussten und uns der Schweiß über das Gesicht lief, damit wir nicht zu spät kamen und die unausbleiblichen Schläge auf die ausgestreckten Handflächen vermieden. Der Nachhauseweg verlief meistens gemächlicher, nur für die Kinder nicht, die aus Ndeiya oder Ngeca kamen und zehn Meilen oder mehr vor sich hatten. Außerdem war es besser, sich die Zeit bis zum Abendbrot, dessen Regelmäßigkeit alles andere als gesichert war, auf der Straße zu vertreiben, und so den Arbeiten im Haushalt und im heimatlichen Gehöft zu entgehen.
     Mein Klassenkamerad Kenneth und ich waren damals ganz gut darin, die Zeit totzuschlagen, vor allem, wenn wir über den letzten Hügel stiegen, der uns von zu Hause trennte. Am Fuß des aufsteigenden Hangs beginnend, kickte jeder einen Ball, meist einen Sodom-Apfel, rücklings über den Kopf hangaufwärts. Der nächste Kick erfolgte von der Stelle, an der der Ball beim ersten Mal gelandet war. Und so ging es weiter im Wettstreit, wer zuerst die Kuppe erreichte. Das war weder die leichteste noch die schnellste Art, dorthin zu gelangen, aber sie hatte den Vorteil, dass wir darüber die Welt vergaßen. Inzwischen waren wir aber zu groß für solche Spiele und außerdem gab es nichts, was unsere Aufmerksamkeit so fesseln konnte wie eine Geschichte.
     Oft drängten wir uns um denjenigen, der erzählte, und wenn er es richtig gut konnte, war er sofort unser erklärter Held. Manchmal, wenn wir drängelten, um so nahe wie möglich am Erzähler zu sein, schob ihn die eine Gruppe sacht vom Weg; die andere Gruppe hielt dagegen und drängte ihn auf die andere Seite, sodass die ganze Meute wie eine Schafherde mäanderte.
     An diesem Abend war es, abgesehen vom Weg, den wir wählten, nicht anders. Von der Kĩnyogori School in mein Heimatdorf, Kwangũgĩ oder Ngamba, und seine Umgebung nahmen wir normalerweise einen Pfad, der sich über mehrere Hügel und durch verschiedene Täler schlängelte. Aber wenn man einer Geschichte lauschte, achtete man nicht auf die Hügel und die Felder mit Mais, Erbsen, Kartoffeln und Bohnen, die alle von Akazien oder Hecken aus Kei-Äpfeln oder grauen Dornenbüschen gesäumt wurden. Der Pfad führte an meiner alten Grundschule Manguo vorbei nach Kĩhingo, hinab ins Tal und schließlich über einen mit Gras und Schwarzakazien bestandenen Hügel. Heute jedoch nahmen wir, während wir wie Schafe dem Geschichtenerzähler folgten, einen anderen, etwas längeren Weg, an der Umzäunung der Limuru Bata Shoe Company entlang, vorbei an ihrem stinkenden Müllberg aus Gummiabfällen und verrottenden Häuten und Fellen, zu einer Kreuzung von Eisenbahngleisen und Straßen, von denen eine zum Marktplatz führte. An dieser Kreuzung hatten sich viele Männer und Frauen versammelt, die vermutlich vom Markt gekommen waren und aufgeregt diskutierten. Die Menschenmenge wuchs, weil auch Arbeiter aus der Schuhfabrik stehen blieben und sich einmischten. Ein oder zwei Schüler erkannten Verwandte in der Menge. Neugierig folgte ich ihnen, um alles mitzubekommen.
     "Man hat ihn auf frischer Tat ertappt", behaupteten einige.
     "Stellt euch vor, der hatte Patronen bei sich. Am helllichten Tag."
     Alle, sogar wir Kinder, wussten, dass es als Hochverrat galt, wenn ein Afrikaner auch nur mit einer einzigen Patrone oder Patronenhülse erwischt wurde; sofort wurde er zum Terroristen erklärt und sein Tod am Strang war die logische Folge.
     "Wir haben Gewehrfeuer gehört", sagten andere.
     "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf ihn geschossen haben."
     "Aber gestorben ist er nicht!"
     "Gestorben? Hmmm! Die Kugeln flogen auf die zurück, die auf ihn geschossen haben."
     "Stimmt nicht, er flog in den Himmel und verschwand in den Wolken."
     Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Erzählern lösten die Menge in kleinere Gruppen aus drei, vier oder fünf Personen auf, die sich um einen Erzähler scharten, der seine Sicht der Ereignisse dieses Nachmittags zum Besten gab. Ich zog von einer Gruppe zur anderen und schnappte hier das eine, da das andere Detail auf. Nach und nach setzte ich die Stränge der Geschichte zusammen, und es entstand die Erzählung, die die Menge fesselte, ein spannendes Märchen über einen Namenlosen, der nahe der indischen Läden verhaftet worden war.
     Die Läden standen auf einem Hügelkamm; Gebäudereihen, die einander ansahen und für Wagen und Käufer ein riesiges Rechteck mit Ein- und Ausgängen an den Ecken bildeten. Der Hügel senkte sich zu einer Ebene, in der die Gebäude der Afrikaner standen und ein ähnliches Viereck bildeten, dessen umschlossener Raum mittwochs und samstags als Marktplatz genutzt wurde. Die Ziegen und Schafe, die an diesen beiden Markttagen zum Verkauf standen, wurden gruppenweise auf dem großen, abschüssigen Gelände zwischen den beiden Einkaufszentren angepflockt. Und genau dieses Gelände war offensichtlich Schauplatz der Ereignisse gewesen, die jetzt Erzähler wie Zuhörer erregten. Alle waren sich darin einig, dass die Polizei den Mann, nachdem sie ihn in Handschellen gelegt hatte, auf die Ladefläche ihres Lastwagens verfrachtete.
     Plötzlich war der Mann heruntergesprungen und davongerannt. Die Polizisten hatten überrascht den Wagen gewendet und mit angelegten Gewehren die Verfolgung des Mannes aufgenommen. Einige waren ebenfalls vom Lastwagen gesprungen und liefen ihm hinterher. Dann mischte sich der Mann unter die Kunden und rannte durch die Lücke zwischen zwei Läden in das offene Gelände zwischen den indischen und den afrikanischen Geschäften. Die Polizei eröffnete das Feuer. Der Mann fiel, stand aber wieder auf und floh, Haken schlagend, weiter. Immer wieder lief das so ab und endete schließlich damit, dass sich der Mann seinen Weg im Zickzack durch die Schaf- und Ziegenherden bahnte, den Hang hinab, am afrikanischen Basar vorbei, über die Gleise auf die andere Seite rannte, an den überfüllten Unterkünften der Limuru Bata Shoe Company entlang, den Hügel hinauf, bis er, offensichtlich unverletzt, im saftigen Grün der Teeplantagen der Europäer verschwand. Unvermittelt hatte die Verfolgungsjagd den Gejagten, einen Namenlosen, zur Legende gemacht, an der sich bei denen, die das Ereignis miterlebt, und jenen, die diese Geschichte aus zweiter Hand erfahren hatten, zahlreiche Geschichten über Heldentum und Magie entzündeten.
     Ich hatte über die Mau-Mau-Guerillas ähnliche Geschichten gehört, vor allem über Dedan Kimathi; nur, dass sich die Magie bis dahin in Nyandarwa und dem Hochland um den Mount Kenya ereignet hatte, und die Geschichten noch nie von einem Augenzeugen erzählt worden waren. Auch mein Freund Ngandi, der kenntnisreichste Geschichtenerzähler überhaupt, hat nicht ein einziges Mal behauptet, dass er irgendeines der Vorkommnisse, die er so bildreich beschrieb, mit eigenen Augen gesehen hatte.
     Ich höre eigentlich lieber zu als selbst zu erzählen, aber das war eine Geschichte, die ich unbedingt erzählen wollte, sei es vor oder nach dem Abendessen. Und wenn ich Ngandi das nächste Mal traf, konnte ich vielleicht sogar mit ihm mithalten.
     Die gekreuzten Schranken am Bahnübergang waren hochgezogen. Eine Sirene ertönte, der Zug fuhr durch und erinnerte die Menge daran, dass noch viele Meilen vor ihr lagen. Kenneth und ich folgten, und als wir uns nicht mehr in Gesellschaft der anderen Schüler befanden, verdarb er die Stimmung, indem er den Wahrheitsgehalt der Geschichte anzweifelte, zumindest aber die Art, in der sie erzählt worden war. Kenneth war für eine klare Trennung zwischen Tatsache und Fiktion; er mochte nicht, wenn sie vermischt wurden. Wir trennten uns vor seinem Haus, ohne uns über den Grad der Übertreibung geeinigt zu haben.
     Endlich kam ich nach Hause, zu meiner Mutter Wanjiku, meinem kleinen Bruder Njinju, meiner Schwester Njoki und Charity, der Frau meines großen Bruders. Sie hockten eng aneinandergeschmiegt am Feuer. Kenneth zum Trotz hatte ich immer noch die Geschichte von dem Mann im Kopf, der, wie manche Figur, die ich aus Büchern kannte, keinen Namen hatte. Doch plötzlicher, stechender Hunger brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Und da es schon dunkel wurde, hieß das, es könnte bald eine Abendmahlzeit geben.
     Das Essen war tatsächlich fertig und wurde mir schweigend in einer Kalebasse gereicht. Sogar mein kleiner Bruder hielt den Mund, obwohl er sonst gerne lautstark auf meine Verfehlungen wie das Heimkommen nach Einbruch der Dunkelheit hinwies. Ich wollte erklären, warum ich so spät nach Hause kam, musste vorher aber erst das Rumpeln in meinem Bauch ersticken.
     Eine Erklärung war allerdings gar nicht mehr nötig. Mutter brach das Schweigen. Mein großer Bruder Wallace Mwangi - Good Wallace, wie er gewöhnlich genannt wurde -, war am Nachmittag nur knapp dem Tod entgangen. Wir beten dafür, dass er in den Bergen sicher ist. Das ist dieser Krieg, sagte sie.

Teil 2