Vorgeblättert

Leseprobe zu Mircea Cartarescu: Der Körper. Teil 2

18.08.2011.
Jetzt, da er als Einziger noch stand, zeigte der Block auf der Uranusstraße, wo ich seit drei Jahren wohne - und wo auf meinem Tisch nun ein anderer Block, aus handbeschriebenen Blättern, emporwächst -, seine ganze Größe und Schmach in der Atomwüste aus verkrümmtem Eisen, Schutt und alten Fäkalien unter zerknüllten Zeitungen. Als priapischer, ungemein schmerzender Penis der traurigsten Stadt dieser Welt hat mein Wohnblock die Abrisswelle überstanden und zeigt sich nun bis hin zum Horizont, an dem sich das tiefgefrorene Mammut "Haus des Volkes" fast vom einen bis zum anderen Ende breitmacht, als einziges senkrecht aufragendes Objekt in einer Gegend, wo kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Wenn ich morgens Brot und Milch kaufen gehe, sinke ich bis zu den Knöcheln ein in den Staub, zu dem die Kaufmannshäuser des einst ruhigen Viertels zerfallen sind. Seitdem sich das Licht veränderte und der Frühlingswind in warmen Wirbeln über die Mauern zu streichen begann, leerten sich die Häuser von Menschen und Möbeln, die Fensterscheiben zersplitterten, das Holz der Fensterrahmen faulte dahin, und die so hübschen, so zärtlichen, sonderbaren, sinnlichen, grauenhaften, gespenstischen Stämme der gipsernen Gorgonen, der Atlanten unter den schmiedeeisernen Balkönchen - verstümmelte Frauen, versehrte Männer, eintönig mit der gleichen rosa Tünche bestrichen - zerbröselten im blitzhaften Pfeifen des Tag-und-Nacht-Wechsels. Die Außenwände der kleinen Villen und wuchtigen Häuser, von wer weiß welchen großmannssüchtigen Architekten Anfang des Jahrhunderts erbaut, waren zuletzt dünn wie Papier, mehlig und außen überzogen von den starren Blicken der Ferngläser, innen aber von dunklen Tapeten mit mattgrünen und goldenen Blumen, die jedes Mal aufleuchteten, wenn die Abendröte mit der Wucht einer Entjungferung durch eines der Fenster brach und einen exakt rechteckigen Fleck flüssigen Purpurs an die gegenüberliegende Wand warf. Die Tapetenblümchen öffneten - damals, dort, in jenem Flammenfleck (das restliche, zischend leere Zimmer blieb pechschwarz) - ihre transparenten Fruchtbecher, sie wirkten kränklich blass wie die Triebe von lange im Dunkeln lagernden Kartoffeln, waren jedoch von blutvollen Kapillaren durchzogen und regten sich unmerklich, als würden sie von einem dickflüssigen unsichtbaren Fluidum hinauf und hinab gestoßen, glitschten hin und wieder über den Bauch einer Spinne, die, mit ekstatisch gereckten Beinen an ihrem gleichfalls purpurnen Faden abwärts gleitend, den gurgelnden schwarzen Nektar aus ihren Mäulern, jenem zum Abendrot hin aufgerissenen Rachen, schöpfte und schließlich, am Boden angelangt, aufgeregt aus einer Ecke in die andere rannte, bis sie im Dunkel verschwand.

     Frühmorgens bei rotem Wetter oder auch zur Sonnenuntergangszeit, wenn das zunächst schmutzige Gelb in blau beflecktes Rosenrot wechselte, um schließlich in einem göttlichen Purpur aufzugehen, das sich in das Nichts zwischen jenen gespenstischen Häusern ergoss, kam es oft genug vor, dass ich mit dem vorsintflutlichen Fahrstuhl hinabrasselte bis zur stämmigen Wurzel des Blocks und gleich loseilte in Richtung der verlassenen Villen, in deren Fensterrahmen noch Glassplitter funkelten, denn ich wollte rechtzeitig da sein, wenn es losging und die Welt sich vollends entwirklichte, wenn Schicht um Schicht von den zerrütteten gelben Häusern fiel, so dass sie (jedes auf seine Weise, mit jeweils anderen Säulen, anderen Dachbalken und Balustraden, anderen zu unmöglichen Terrassen führenden Wendeltreppen, Türattrappen, Ziertürmchen) zuletzt so immateriell wären wie geträumt, so illusorisch wie von einem alten Meister der Perspektive gemalt. Pergamenthäutige gelbe Hunde mit Menschenaugen in ihren schmalen Hundehirnschalen erhoben sich mühsam von ihren Lagern und wedelten anmutig neben mir her. Motten mit ebenso menschlichen Augen sogen das Abendrot dermaßen schnell in ihren dichten Pelz auf, dass die Luft um sie herum azurblau wurde wie mitten am Tag. Ich öffnete hier und da eine Pforte aus verbeultem Metall und stand für einen Moment dem großen Trümmerhaufen im verwahrlosten Hof gegenüber. Es gibt nichts Einsameres - weder auf dieser Welt noch weit weg auf einer der zahllosen anderen bewohnten Welten - als ein Haus in Trümmern. Untröstlichkeit wirkt daneben wie ein Kind der Hoffnung, Trauer wie Glückseligkeit und Ruhe wie entfesseltes Blechbläserdröhnen. Auge in Auge mit dem Haus - der Backstein dünn wie Fingernägel und so durchscheinend auch, trümmerstaubumhüllt, monströses Pflanzenwuchern aus allen Ritzen und Spalten, am einzigen Stockwerk ein Balkon aus Schmiedeeisen, fein gewirkt wie ein spitzenbesetzter schwarzseidener Strumpfhalter, und darauf in einer Holzkiste eintrocknend ein blattlauszerfressener Oleander -, Auge in Auge mit jenem einst von Willen und Gedächtnis erfüllten Riesenschädel, der jetzt zertrümmert war und von schimmeligen Skalpresten bedeckt, rechnete ich jeden Moment damit, in Besitz genommen zu werden, selbst derjenige zu sein, den das Oberlicht ins Auge fasste und mit Fetischistenneugier und -leidenschaft verfolgte: ein winziges Lebewesen vor einem großen Abendrot-Portal.

     Und ich wurde tatsächlich zum erotischen und metaphysischen Objekt der Riesenschimäre vor mir. Nur war ihr Autismus total und die ihr subkutan injizierte Dosis Dämmerung tödlich, und so konnte ich, indem ich tief einfallende Klingen rubinroten Lichts aufscheinen ließ, eindringen in den Spalt zwischen den Gebäudeflügeln, ich glitt auf elfenbeinern gestrichenen Dielen dahin, schmiegte mich an die Wand, die glutrot war von der zum Fenster hereinflutenden Sonne, tauchte ein ins Gewimmel der blassen, dem Bretterboden entsprießenden und von unsichtbaren Strömen hypnotisch aufgerichteten Blumen, genoss das Abendrot als Bad, als Flächenbrand, ließ mich vernichten, auszehren vom Abendrot. Da mich die durchsichtigen Tässchen auf der Tapete absorbiert hatten, ging ich in der fluoreszierenden Wand auf und verteilte mich im papierenen Gemäuer des Hauses, nahm es ganz und gar in Besitz, verstaute es als Haus in Trümmern in meinem Kopf. Begegnete mir aber ein schwammiges Stück Möbel mit Spiegel, das wegen seiner bleiernen Schwere nicht hatte transportiert werden können, so betrachtete ich mein Gesicht auf dem verblassten Gemälde in der Tiefe, sah mich da wie aus einem einzigen Purpurblock gemeißelt, im Rücken das riesige, pechschwarze Zimmer. Ich blickte mir in die Augen, das Silbernitrat hatte mein Gesicht mit einer Fertigkeit gemalt, als wäre hier der rätselhafteste Maler der Welt am Werk gewesen. Das schmale Gesicht wie aus Perlmutt mit seinen leicht asymmetrischen Zügen, das linke Auge von einer alten Parese verfinstert, das rechte wiederum glänzend wie ein Tropfen Tau, so menschlich und warm ? Der Mund sinnlich und trübsinnig, hellbraun und drahtig der Schnurrbart, wild gewachsen die schwarzen Haarsträhnen und selten gekämmt, filzig werdend im dichten Filz der Dunkelheit ringsum.

     Wenn ich vor dem Spiegel herumhampelte in dem öligen Nass, das den Salon bis zur Decke erfüllte und worin die Pflanzen der Tapete alle auf einmal rhythmisch mal hin und dann wie von einem Wasserkamm gekämmt plötzlich wieder her wogten, verlor ich mitunter die Besinnung und fragte mich, sobald ich wieder zu mir kam, wo ich wohl gewesen sein mochte in jenem Augenblick der Abwesenheit. Ob mein Bewusstsein so etwas wie einen Knick, eine Falte, einen Thomschen Schwalbenschwanz gebildet hatte? Senkte sich das Haus in Trümmern mit mir mittendrin plötzlich in meinen Schädel ein, dort vor dem Spiegel des uralten Möbelstücks? Fand ich mich plötzlich im Zentrum meines Verstandes wieder, Auge in Auge mit einem stummen Bruder? War dies der einzige Ort auf der Welt, wo wir uns noch sprechen und berühren konnten? Dann glättete sich die Falte, und mein ausgeweidetes Hirn pumpte mich erneut hinaus in die kindische, erbärmliche Illusion der Wirklichkeit. Als ich wieder zu Sinnen kam, wendete sich das Abendrot schon zur Nacht hin. Eine Zeitlang streifte ich noch durch den Stadtteil mit den sonderbaren Villen - sonderbar jede auf eigene Weise, mit jeweils anderer Gipsbevölkerung zwischen den Fenstern -, streichelte auch mal einer gelben Hündin den Kopf, die Menschenaugen hatte und Zitzenreihen am Bauch, und verlor mich unter den schattigen Maulbeerbäumen des Weges, der zwischen Unkrautgestrüpp und Gehäusen alter Waschmaschinen hin zu meinem phallischen und nutzlosen Wohnblock führte. Ich verhedderte mich in Transmissionsriemen aus gummiertem Leinen, meine Schuhe kickten ranzige Präservative vor sich her, minutenlang vertiefte ich mich in die Lektüre hingekrakelter Aufsätze in vermoderten Schulheften und brauchte weitere Minuten, um andere seltsame Schriftzeichen zu entziffern: die welken Innereien, die dem Bauch einer die Zähne bleckenden toten Katze entquollen waren. Im Medusenfleisch herumliegende Glassplitter hielten in ihrem Muster die Abenddämmerung fest, bläuliche kleine Feuer, indigofarbene Flammendreiecke. Gelegentlich sammelte ich sie ein, ordnete sie später auf meinem Schreibtisch nach Entwicklungsstufen, indem ich als ersten einen emporhob, der mir ein noch verborgenes, larvenhaftes Licht zeigte, jenes undifferenzierte Elf-Uhr-Azurblau des Monats März, weich und träge wie ein Wolllausweibchen, als zweiten dann einen, dessen Licht bereits Struktur besaß: eingestülpte Keimblätter, erkennbarer Wirbelkanal - dies war der kraftstrotzende Juninachmittag; im dritten, vierten, fünften durchlief das Licht seine Stammesgeschichte neu, ihm wuchsen Kiemen und Organe, die für andere Nachmittage - aus der Kreidezeit und dem Miozän - spezifisch waren und sich danach wieder zurückbildeten, und so fort bis zum letzten Splitter, der das menschliche, das für unsere Augen zulässige wahre Licht enthielt. Diesen bläulichen, doch wie eine Ampulle mit Purpur gefüllten Splitter hielt ich vor dem Fenster lange in die Höhe. Darin saß, kleinfingergroß höchstens, aber mit jeder Falte, Pore, Warze seiner Haut wie unter einer scharfen Lupe deutlich erkennbar, ein schweigsamer Homunkulus, dessen Gesicht, Brust und Gliedmaßen aus reinem Licht bestanden. Es war das Ende-November-Licht, kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit und vor dem Niederrauschen eines trostlosen Regens: Licht von der Farbe des Bernsteins, in Richtung Klapperschlangengift getönt. Die Lichtaugen des Kristallkindes sahen nicht, der leicht asiatische Schnitt ihrer Augen erfasste nicht die Simulacren1, die sich dünn wie Spinnweben von den Dingen ablösten und durch den Äther auf sie zu wanderten. Sie nahmen die Dinge und den Windhauch zwischen diesen ganz unmittelbar wahr. Was zur Folge hatte, dass der kleine Prinz von Langeweile und Melancholie verschont blieb. Hatte ich die Reihe der eckigen und barbarisch groben Splitter, die sämtliche Hypostasen des irdischen Lichts in sich schlossen, bis zum letzten durchgenommen, kramte ich eine Glaskugel aus der Tasche, die mir beim Aufpulen einer stacheligen grünen Kastanienschale zugefallen war. Ich platzierte sie unweit der Tischkante ans rechte Ende der Reihe, dann hob ich sie zwischen zwei Fingern hoch, um in ihrem Brennpunkt das unirdische Licht betrachten zu können, die Offenbarung, die Erleuchtung, die Ekstase, die epileptische Aura, die Poesie, das Kokain, den Orgasmus, die Intuition, den REM-Schlaf, die Vision und die Vision der Vision, den Kirlian-Effekt und dessen zunehmend pure Fraktale, jenes Licht, dem gegenüber unser Licht schwarze Erde und Blei ist. Ich rückte die Kugel näher an mein Gesicht heran, so dass sie, die von der Größe meiner Augäpfel war, schließlich mit den beiden ein Dreieck bildete - drei Augen, zwei aus Fleisch, eines aus Glas, die sich wechselseitig in einer Art Weberschiffchen-Hin-und-Her beschauten, bis meine Augen selbst ganz aus glänzendem Glas waren und aufmerksam, doch unpersönlich betrachtet wurden von einem in der Luft hängenden lebendigen Augapfel mit Ringmuskeln, gelblich-elfenbeinfarbener Hornhaut samt Äderchen, kaffeebrauner Iris und im Halbschatten geweiteter Pupille. Eine Weile später verglaste die Kugel wieder, und in meine Augen kehrte die Sehkraft zurück. Da fuhr ich mir mit der Kugel über den nackten Arm, sah mir durch sie hindurch die Behaarung und die Schuppen meiner plötzlich zur bewaldeten Landschaft mutierenden Haut an. Unter dem Hemd rollte ich die Eisigkalte auf dem hageren Brustkorb hin und her, spürte sie an den Brustwarzen, hielt inne, drückte sie leicht in die Vertiefung des Nabels. Schließlich strich ich mit ihr, die trotz ihrer äußersten Unbestechlichkeit etwas vom Duft meiner Haut angenommen hatte, über die Seiten meines nicht enden wollenden flaumigen Manuskripts, las dabei in der Quarzblase, neben der sich ein kleiner, höchst intensiver Lichtpunkt bildete, trapezförmig auseinanderlaufende Wörter.

zu Teil 3