Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Kohan: Sekundenlang. Teil 2

05.02.2007.
     "Machen wir es doch so: Singen Sie mir einfach ein Stückchen vor!"
      "Ich?"
     "Bloß ein kleines Stückchen, Mann, Ihr Lieblingsstück."
     "Ich soll singen, meinen Sie?"
     "Ja, klar. Einfach damit ich mir eine Vorstellung machen kann, wozu extra den Wincofon anschmeißen? Singen Sie sehr falsch?"
     "Ich singe nicht falsch, Verani. Dafür merkt man, daß Sie überhaupt nicht wissen, wovon Sie reden."
     "Na gut, vielleicht drücke ich mich nicht besonders geschickt aus, Ledesma, aber versuchen Sie doch zu begreifen, was ich meine: Ich sage, Sie sollen ein kleines Stückchen vorsingen, und auf einmal sind Sie sauer, weil es sich hier offenbar um Musik ohne Text zum Singen handelt. Menschenskind, Ledesma: Dann pfeifen Sie eben ein bißchen, trällern Sie, so meine ich das."
     "Verani, wovon reden Sie eigentlich? Wie stellen Sie sich Mahlers Musik denn vor?"
     "Ich stelle mir gar nichts vor, darum sage ich ja, singen Sie ein bißchen was."
     "Ich sehe schon, Sie meinen, das ist so eine Art Tango, wie von Rivero - man kann ihn überall anstimmen, hier in der Bar, und das singt sich dann ganz von allein."
      "Keine Ahnung. Deshalb frage ich ja."
     "So ein Blödsinn, Verani. Völliger Blödsinn."
     "Ich habe ja nicht gemeint, daß Sie singen sollen, verstehen Sie mich nicht falsch. Einfach ein bißchen trällern, ein Stückchen pfeifen. Ich weiß schon, daß das keine Lieder sind, so mit Worten und so, keine Lieder, die man singen kann."
     "Und wie soll man bei dem Lärm hier überhaupt singen? Außerdem, so einfach ist das nicht. Von Mahler gibt es nicht nur Symphonien, eine schöner als die andere - daß Sie hartnäckig keine davon hören wollen, ist wirklich jammerschade -, von Mahler gibt es auch Lieder."
     "Ach was."
     "Ganz genau."
     "Richtige Lieder, mit Worten?"
     "Ja."
     "Also so, wie ich gesagt habe?"
     "Nein, nicht so wie Sie meinen. Sie glauben, da kommt irgend so ein dahergelaufener Edmundo Rivero oder ein Nino Bravo, und dann wird gesungen. So ist das nicht." "Aber es sind Lieder mit Worten, ja?"
     "Ja, natürlich."
     "Und die sind nicht zum Singen?"
     "Hören Sie, Verani, warum kommen Sie nicht einfach zu mir nach Hause und hören sich die Platten an, wie jeder andere vernünftige Mensch auch?"
     "Sind die Lieder jetzt zum Singen oder nicht?"
     "Natürlich werden die gesungen, Verani."
     "Na also, dann singen Sie mir doch eins vor!"
     "Sie glauben eben, man singt die wie 'Noelia' oder so. Hier in der Bar, aus dem Stegreif, bei dem Lärm und Geschrei da draußen, die mich ganz krank machen. Diese Lieder brauchen eine völlig andere Stimmung, eine besondere Umgebung, außerdem sind sie wirklich sehr schwer zu singen, das kann nicht jeder dahergelaufene Musikliebhaber."
     "Nein?"
     "Nein."
     "Sie auch nicht."
     "Ich auch nicht."
     "Aber sie haben einen Text?"
     "Ja, sie haben einen Text."
     "Und worum geht es da?"
     "Wie?"
     "In dem Text."
     "Text?"
     "Ja."
     "Weiß ich nicht. Die sind auf deutsch."
     "Auf deutsch?"
     "Ja, auf deutsch. Aber eins kann ich Ihnen sagen -"
     "Nur zu."
     "Mahler hat einen Liederzyklus komponiert, und der hat folgenden Titel, hören Sie gut zu: Kindertotenlieder."
     "Meine Fresse."
     "Die Musik ist wirklich zum Fürchten, beim Anhören durchfährt es einen. Ist ja kein Wunder, bei dem Thema. Auf jeden Fall, einige Zeit später, ich weiß nicht wie lange, jedenfalls nicht lange - also, da starb Mahlers kleine Tochter, die ältere."
     "Was Sie nicht sagen."
     "Ja, ein vierjähriges Mädchen. Sie hieß Maria. Sie wurde krank, es ging ihr immer schlechter, und schließlich starb sie."
     "Armes kleines Ding."
     "Was muß das für ein Schlag gewesen sein! Was für ein furchtbarer Schmerz. Und dann stellt Alma Mahler, die Frau von Mahler, ihren Mann zur Rede und sagt, in gewisser Weise sei er schuld an allem, weil er diese schreckliche Musik zu diesen schrecklichen Gedichten komponiert habe. Sie sagt, in gewisser Weise habe er das Unglück heraufbeschworen."
     "Tja, also wenn Sie mich fragen: Die Frau hatte recht."
     "Immer wenn ich diese Geschichte erzähle, muß ich an meine Quelita denken."
     "Also wenn Sie mich fragen: Die Frau hatte recht. Wo es so viele schöne Themen auf der Welt gibt - was muß der sich da auf so was einlassen? Eine Frau hat ein Gespür für solche Sachen. Wie hieß sie nochmal?"
     "Mahlers Frau?"
     "Ja."
     "Alma."
     "Alma. Klar, bei dem Namen muß sie was geahnt haben."


Donald Mitchell mußte aus seinem Elternhaus in Newark fliehen, aber das sollte für ihn kein Nachteil sein. Er war im letzten Jahr des Jahrhunderts geboren - 1899, so dies tatsächlich das letzte Jahr des Jahrhunderts war und nicht das darauffolgende, wie manche mit schwer zu widerlegenden Argumenten behaupten. Er heiratete nicht, hatte kaum Freunde. Niemand weiß, wieso und weshalb er ein so großes Interesse an der Optik entwickelte; noch vor Beendigung seines zwanzigsten Lebensjahres hatte er sich auf diesem Gebiet zu einem wahren Meister seines Fachs entwickelt. Seine Eltern, einfache Bauern, sagten ihm eine vielversprechende Zukunft als Fabrikant von Vergrößerungsgläsern und Brillen voraus und freuten sich, daß die Regel, derzufolge Kinder für gewöhnlich mehr erreichen als ihre Eltern, sich einmal mehr zu bestätigen schien. Als umsichtige, vorausblickende Protestanten, die sie waren, legten sie Monat für Monat geduldig und ohne jede Habgier den Überschuß aus den Einkünften ihres Hofes, und war er noch so kärglich, zur Seite. Die Geldscheine versteckten sie unter einer Fußbodenleiste im Wohnzimmer, die sich anheben ließ. In regelmäßigen Abständen holten sie das Geld hervor, um es zu zählen, zählten immer zweimal, und bestätigten sich, was sie längst wußten: daß die Summe mit der Zeit, aber ebensosehr durch ihr geduldiges Beharren langsam, aber sicher zunahm. Eines schönen Tages jedoch, oder vielmehr: eines unschönen Tages, waren auf einen Schlag sämtliche Scheine verschwunden. Später mußten sie Gott für die vorschnellen Verdächtigungen um Vergebung bitten, die sie bezüglich der mutmaßlichen Urheberschaft eines so schändlichen Diebstahls anzustellen, wenn auch nicht offen auszusprechen gewagt hatten. Denn der Täter, so unfaßbar dies ihnen erscheinen mußte, war niemand anderes als ihr Sohn Donald. Donald Mitchell, ihr fleißiger einziger Sohn, hob - nehmen wir lieber an, in einem unbeherrschten Moment, statt nach reiflicher Überlegung - hob also, als er einmal allein zu Hause war, besagte Bodenleiste an, bemächtigte sich der Scheine und begriff augenblicklich, falls es ihm nicht schon zuvor klar gewesen war, daß diese Tat sein Verschwinden aus dem elterlichen Hause zwingend notwendig machte. Für seine an ein bescheidenes Leben gewöhnten Eltern handelte es sich durchaus um eine beträchtliche Summe, was es in gewisser Hinsicht auch war. Donald dagegen reichte sie gerade einmal, um einen dieser raffinierten neuartigen Apparate zu erwerben, mit denen man Lichtbilder aufnehmen konnte - so geschehen, während er seine Flucht nach New York ins Werk setzte. Derlei Bilder waren damals noch nicht allgegenwärtig und erregten für gewöhnlich großes Aufsehen. Der Apparat war alles, was Donald besaß, als er den Zug bestieg, um seine Reise ins Ungewisse anzutreten, weshalb er sich in erster Linie an die sorgfältige Erforschung der Geheimnisse der Linsen und des sie verbindenden Mechanismus machte und kaum einen Blick für die zu beiden Seiten des Waggons vorbeigleitenden Landschaften übrighatte. Gleichzeitig nahm in seiner Vorstellung das Bild des mittellosen jungen Mannes, der in der Großstadt triumphiert, immer deutlicher Gestalt an, Zeit dafür war schließlich genug, und er bemühte sich nach Kräften, es mit seiner Person zur Deckung zu bringen. Recht hatte er, wie sich herausstellen sollte, mit dem Glauben, um es zu etwas zu bringen, werde er nicht mehr benötigen als Entschlußfreudigkeit und seine nagelneue Erwerbung. Dafür sollte sich die Annahme, der Erfolg werde ihm die Rückkehr zu den Eltern und deren Vergebung ermöglichen, als Selbsttäuschung erweisen. In jedem Fall war es noch eine ziemliche Weile hin bis zu dem Moment, da er die Heimreise ins Auge fassen, in die Tat umsetzen und dabei Schiffbruch erleiden sollte; zunächst einmal kehrte er dem vertrauten Newark den Rücken und kam sich dabei vor wie ein Eroberer, der auf direktem Wege ins Zentrum der Welt katapultiert wird, wie es ihm, in der Eisenbahn sitzend, ja auch tatsächlich geschah. Die ungeheuren Dimensionen der Stadt schreckten ihn nicht: sie waren unmenschlich und hatten folglich nichts mit ihm zu tun; ihm konnte nur Menschliches etwas anhaben. Es ließ sich gut an für ihn - so wie man ja auch sagt, daß allem Anfang ein Zauber innewohnt -, denn bald nach seiner Ankunft fand er eine Anstellung bei der Sports Illustrated. Zu Beginn brachte er die Zeit damit zu, freundliche Porträts lächelnder Ruderer anzufertigen. Allmählich lief es dann besser: Er photographierte die Gesichter von Gewichthebern am Extrempunkt verbissener Kraftanstrengung, und das eröffnete ihm neue Möglichkeiten. Bis schließlich - so, als hätte er, indem er nie daran zweifelte, die schicksalhafte Wendung ganz von allein herbeigeführt - die große Nacht kam. Es ist der vierzehnte September 1923, und man erteilt ihm den Auftrag, nicht ohne ihn auf die Bedeutung eines derartigen Auftrages hinzuweisen, als Bildreporter den Kampf um die Boxweltmeisterschaft zu begleiten. Donald ist sich der Herausforderung bewußt: Ihm fällt die Aufgabe zu, die flüchtige Erscheinung von Körpern in Bewegung im Bild zu fixieren. Auf manchen Bildern, womöglich dem Großteil, wird nicht viel mehr als eine Anzahl verschwommener Flecken zu sehen sein, immer dann, wenn die Ereignisse sich schneller vollziehen, als der Apparat unter Einwirkung des Lichts zum Funktionieren braucht. Aber einige wenige gelungene Schnappschüsse werden zweifellos genügen, um ihn dem Ziel seiner Träume näherzubringen - ein großer Photograph zu sein, wie er sich inzwischen ausdrückt. In der Arena angekommen - sie ist bis zum letzten Platz besetzt -, schlägt er den ihm angebotenen Standplatz mit umfassender Übersicht aus, so angemessen er jemandem erscheinen sollte, der vorhat, die Ereignisse in ihrer Gesamtheit zu verfolgen. Nicht um sich wichtig zu machen, sondern weil er gewohnt ist, seine Objekte aus nächster Nähe aufzunehmen, verlangt er statt dessen einen Platz in ummittelbarer Umgebung des Geschehens. Er besteht hartnäckig auf seiner Forderung und erreicht, daß man ihn direkt am Ring, zwischen einem Radioreporter und einem der Punktrichter in Position gehen läßt. Statt eines Spähpostens nimmt er Kauerstellung ein, im Vertrauen darauf - vielleicht ist es auch eine Vorahnung -, daß ihm die Nähe in irgendeiner Weise von Vorteil sein wird. Er ist ein Augenmensch, ein Photograph, gleichwohl ziehen die Geräusche, das, was er zu hören bekommt - und von weiter weg nicht zu hören bekommen hätte -, als der Kampf beginnt und der Weltmeister und sein Herausforderer aufeinander losgehen, viel stärker seine Aufmerksamkeit auf sich: das angestrengte Keuchen, das Aufstöhnen der Kontrahenten, das Quietschen der Gummisohlen auf dem Ringboden, das wütende Zischen der Handschuhe, wenn sie auf einen Körper treffen. Er bemüht sich, keine Sekunde in der Aufmerksamkeit nachzulassen, wartet angespannt auf den einen, entscheidenden Augenblick. Nichts überstürzen, im richtigen Moment reagieren, keine Zeit vergeuden. Wann genau der richtige Moment sein wird, läßt sich unmöglich vorhersagen: bestenfalls erahnen, sollte er einem den Gefallen tun, sich unmittelbar vor seinem Eintreten anzukündigen, oder sich, wie durch ein Wunder, im Moment des Vollzugs zu erkennen geben. Ein leises Vibrieren erfaßt den Körper, die Hand, die den Magnesiumblitz hält, den Finger, der steif auf dem Auslöser ruht, Donald Mitchell spürt es, oder meint es zu spüren, jetzt, in dieser Sekunde, in genau dieser und keiner anderen Sekunde der Nacht des vierzehnten September 1923, als der Herausforderer, der Titelanwärter, einen Volltreffer auf dem Körper seines Rivalen landet, als die gesamte Arena in abgrundtiefes, fassungsloses Schweigen verfällt und Jack Dempsey, der Champion, der Titelverteidiger, stürzt, zu Boden geht.

Leseprobe Teil 3

Informationen zum Buch und Autor hier
Stichwörter