Vorgeblättert

Leseprobe zu Margherita von Brentano: Das Politische und das Persönliche. Teil 1

29.04.2010.
Autobiographische Notizen (1994)

Das Salz in der Suppe

Die eher plebejischen, dafür interessanten and begabten Vorfahren

Mein Urgroßvater, Carl Beyerle, war der Sohn eines Metzgers aus Frankfurt am Main. Er ging ins Bankfach und in die Welt, landete über Paris in Kairo als Vertreter der Französischen Nationalbank. Dort gründete er selbst eine Bank, wurde ein sehr reicher Mann mit einem Stadthaus in Kairo und einem Landgut in Oberägypten, auf dem ein Fürstengrab ausgegraben wurde, das er dem Britischen Museum übermachte.
     Meine Urgroßmutter, Marie Rose Pachoud, war das Kind savoyardischer Musikanten aus Französisch-Savoyen, geboren in St. Gingolf.
     Sie wurde als kleines Mädchen von drei Jahren von einem französischen Grafenpaar, mit dessen Kindern sie am Genfer See gespielt hatte, adoptiert. Die Wahrheit ist wohl, daß die Grafen das bildhübsche und begabte Kind ihren Eltern, die als Musikanten durchs Land zogen ("avec la marmotte") und sicher noch viele Kinder hatten, abkauften.
     Sie wuchs also als Comtesse mit den Söhnen des Grafen auf und erhielt die gleiche erstklassige Ausbildung bei als Hauslehrern beschäftigten Abbes und zusätzlich englischen und deutschen Gouvernanten eigens für sie.
     Als sie 18 oder 19 Jahre alt war, erfuhr sie, daß sie ein Adoptivkind und in Wahrheit Kind einfacher Leute sei. Sie sagte ihren Adoptiveltern, die sie sehr liebte, daß sie nicht weiter als Gräfin leben wolle und versuchen würde, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Das war damals - etwa 1870 - gar nicht so einfach, Berufsarbeit für Frauen gab es nur unter niederen Tätigkeiten, was die Eltern ihr auch vorhielten. Sie entgegnete, daß sie dank der vorzüglichen Ausbildung, die sie ihren Adoptiveltern verdanke, den Beruf einer Hauslehrerin ausüben könne; und das tat sie auch. Sie wurde von einer - ebenfalls gräflichen - Diplomatenfamilie engagiert und gelangte mit dieser nach Kairo.
     Carl Beyerle and Marie Rose Pachoud lernten sich in Kairo kennen, verliebten sich und heirateten. Sie waren beide bildschöne, hochbegabte und vor allem hochmusikalische Menschen. Sie führten ein großes und offenes Haus und waren die Lieblinge der Gesellschaft, zu der sie nach Herkunft eigentlich nicht gehörten. Aber Schönheit, Begabung und vor allem Reichtum können ja solchen "Mangel" komensieren. Berühmt waren ihre Hauskonzerte, bei denen sie selber mitwirkten.
     Das Paar hatte zwei Töchter, Madeleine und Marguerite. Madeleine, die ältere, heiratete einen italienischen Principe, ließ sich scheiden, um einen schottischen Grafen zu heiraten, und heiratete schließlich in dritter Ehe einen amerikanischen Millionär. Es ging die Familiensage, daß sich alle drei Ehemänner, die ehemaligen und der aktuelle, einmal im Jahr auf dem Schloß des Grafen in Schottland trafen, um Rebhühner zu jagen.
     Marguerite, die Jüngere, wollte es ihrer Schwester gleichtun, und verlobte sich mit 17 Jahren mit dem Sohn eines Scheichs. Die Eltern stoppten das und beschlossen, schleunigst für die Tochter einen honorigen Ehemann zu finden. Den fanden sie in Gestalt von Joseph von Loehr, einem jungen deutschen Diplomaten in Kairo (welchen Posten er dort im Auswärtigen Dienst einnahm, weiß ich nicht.)
     Die beiden heirateten oder wurden verheiratet, und die Ehe schien zunächst gutzugehen, obwohl die beiden höchst verschieden waren: mein Großvater ein stiller, vornehmer, ruhiger Mensch - die äußerste Unmutsäußerung, die ich je von ihm hörte, war: "Das ist ein wenig unschön" - meine Großmutter eine kapriziöse, unberechenbare Frau, eine Künstlernatur - sie war hochmusikalisch, als Sängerin und Pianistin ausgebildet - sachlich und seriös allerdings dann, wenn es um Musik ging, z. B. wenn wir ihr vorspielen mußten. Eine erste Tochter, Alix, starb als Baby auf der Überfahrt von Kairo nach Genua, (die kleine Leiche hätte nach den Bestimmungen ins Meer versenkt werden müssen, die Eltern bestachen jedoch den Kapitän und nahmen sie mit; sie ist in der Burgkapelle auf der Sauerburg begraben). [Die Sauerburg wurde im Jahr 1908 von Marguerite von Loehr gekauft und befand sich bis 1934 im Familienbesitz.]
     Das zweite Kind war Dorothea, meine Mutter. Nach vier Jahren folgte ein Sohn, Erhard. Nach zehn weiteren Jahren wurde ein zweiter Sohn geboren, Harold. Meine Großmutter hatte sich inzwischen in den italienischen Militärattache, Luchino Montuori, verliebt. Harold war bereits sein Sohn, war aber, als in der noch bestehenden Ehe geboren, juristisch der Sohn meines Großvaters, der ihn im übrigen nicht nur als seinen Sohn aufzog, sondern abgöttisch liebte.
     Die Ehe ging auseinander, und meine Großmutter zog mit Luchino nach Genua. Eine Scheidung hingegen machte große Schwierigkeiten. Nicht nur waren alle Beteiligten katholisch, und das Scheidungsverbot der Kirche hatte damals noch uneingeschränkte, auch gesellschaftliche Geltung; mein Großvater jedenfalls verweigerte die Scheidung mehrere Jahre, und auch, als er endlich einwilligte, konnten Luchino und Nonnina (so nannten wir sie) in Italien nicht heiraten, weil es dort nur kirchliche Ehegesetze gab. Sie heirateten schließlich in Frankreich, da meine Großmutter eine geborene Französin war, war das möglich.
     Wie tief die religiösen und gesellschaftlichen Prägungen Menschen prägen, zeigt sich an Folgendem: Onkel Harold sah aus wie ein Italiener aus dem Bilderbuch, dunkler Teint, schwarze Augen und Haare, ein römisch geschnittenes Gesicht. Obwohl wir ja wußten, daß meine Großmutter schon während ihrer ersten Ehe sich in Luchino verliebt hatte, kamen wir erst als Erwachsene zu der doch naheliegenden Einsicht, daß Onkel Harold der Sohn Luchinos war. Er war ein sehr junger Onkel, eine Generation zwischen den Eltern und uns und ein sehr witziger Onkel. Von ihm lernten wir alle Schlager der 20er Jahre, wenn wir am Heiligen Abend auf die Bescherung warteten, was sehr lange dauern konnte, da meine Mutter darauf bestand, den Baum eigenhändig zu schmücken, sang er uns die Dreigroschenoper vor.


Über meinen Vater

Mein Vater Clemens von Brentano war Berufsdiplomat. Nach dem Hitlerputsch in München von 1923 bat Stresemann, damals Außenminister, der zu meinem Vater, auch weil dieser im Unterschied zu manchen anderen im Auswärtigen Amt ihm gegenüber loyal gesinnt war, ein gutes Verhältnis hatte, ihn um ein kurzes Dossier zu dieser neuen Rechtspartei.
     Ich habe das Dossier nie gesehen, es wurde zum Glück rechtzeitig von Freunden aus den Akten des Auswärtigen Amtes entfernt. Aber es muß ziemlich klarsichtig und prognostisch gewesen sein: wenn nicht Durchgreifendes gegen diese Partei unternommen würde, würde sie in zehn Jahren legal zur Macht kommen und in weiteren zehn Jahren einen Krieg entfesseln.
     Mein Vater verfolgte weiter mit Aufmerksamkeit die Programmatik, den Populismus und das Wachsen der Nationalsozialisten. Er las Hitlers Mein Kampf gründlich, nahm es wörtlich und beschwor seine Freunde, die hier angekündigten Programme ernst und wörtlich zu nehmen, insbesondere auch die über die Juden.
     In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre war er Botschaftsrat beim Vatikan. Er wurde nicht müde, Pius XI. auf die Nazis als kommende Gefahr nicht nur für Deutschland hinzuweisen und vor ihnen zu warnen. Nicht ohne Erfolg bei Pius XI., aber sehr zum Unwillen des Auswärtigen Amtes, dessen Personal mehrheitlich konservativ, um nicht zu sagen reaktionär gesinnt war.
     Diese Warnungen brachten ihm schon zwei Jahre vor der Machtergreifung den Rückruf ins Amt nach Berlin und die z. D. ("zur Disposition")-Stellung ein. Formell war der Vorwurf der, über den Kopf hinweg bzw. hinter dem Rücken des Botschafters von Bergen mit dem Souverän, bei dem er akkreditiert war, verhandelt zu haben - de facto war es natürlich der Inhalt seiner Warnungen. Herr von Bergen blieb übrigens auch unter den Nazis Botschafter beim Vatikan bis von Weizsäcker ihn ablöste - es hatte wohl seinen Grund, daß mein Vater ihn ein wenig überging.
     Als die Nazis zur Macht kamen, wurde die z.D.-Stellung in eine vorzeitige Pensionierung umgewandelt. Dies gibt mir Anlaß für eine Anmerkung: es ist nicht wahr, wenn als Rechtfertigung für das Mitmachen bei den Nazis angeführt wird, man wäre sonst in großer Gefahr gewesen. Man mußte keineswegs für die Nazis sein, man machte nur im öffentlichen Dienst keine Karriere. Wie man am Beispiel meines Vaters sieht, erhielt ein wegen mangelnder Gesinnung entlassener sogar seine Pension. Man war also auch nicht in Gefahr zu verhungern. Die Zahl der hohen Beamten, die unter den Nazis das Amt verließen oder pensioniert wurden, war übrigens verschwindend gering, wenn ich recht unterrichtet bin, maximal vier.
     Man durfte sich natürlich nicht bei solchem erwischen lassen, was unter Umständen die Todesstrafe zur Folge hatte, z. B. im Krieg ausländische Sender ("Feindsender") hören. (Weswegen mein Vater, wenn er BBC hörte, eine Decke über den Radioapparat und seinen Kopf tat, zum Vergnügen seiner Familienmitglieder, von denen mein Bruder und ich in meinem Zimmer auf meinem kleinen Philips ebenfalls BBC-Nachrichten hörten).
     So scheinbar irre und widersprüchlich war das Regime. Menschen, von denen bekannt war, daß sie das Regime ablehnten, lebten ziemlich ungeschoren, konnten auch in freien Berufen durchaus erfolgreich tätig sein. Aber jede winzigste Handlung gegen die Nazis - mußte zwar nicht, aber - konnte zur Verhaftung, ja zum Todesurteil führen.
     Dies war aber keineswegs irre, sondern sehr herrschaftsrational. "Denkt, was ihr wollt, aber handelt nicht", das war die Maxime, und sie wirkte.
     Das bedeutete nicht, daß man nichts Sinnvolles tun konnte. Mein Vater hatte eine Reihe jüdischer Freunde, und er beschwor sie, die Programme der Nazis ernst zu nehmen, und sich um Auswanderung zu bemühen. Das war, zur Zeit als die Auswanderung noch möglich war, gar nicht bequem. Denn manche, auch unter den doch offen bedrohten Juden, nahmen Hitler nicht ernst genug, glaubten an eine begrenzte Dauer des Regimes und auch daran, daß nichts so heiß gegessen wie gekocht würde. Die Kassandrarolle macht nicht beliebt. Aber sie hat im Falle meines Vaters manche bewogen, das Land rechtzeitig zu verlassen.


Über meine Mutter


Aus meinen ersten Kinderjahren habe ich so gut wie keine Erinnerung an meine Mutter. Ich war das vierte Kind, geboren auf der Sauerburg während der Inflation, seit meinem ersten Jahr lebten wir in Berlin, seit meinem dritten in Rom mit Unterbrechungen auf der Sauerburg. Betreut wurden wir kleineren Kinder von Kindermädchen, zuerst Viktoria, dann Lotte Piani, später von Patricia Hunt. Die Eltern sahen wir beim Mittagessen, wo wir ungefragt nicht reden durften, abends aßen wir oben mit den Erzieherinnen, und die Eltern erschienen höchstens in Abendkleidung, um gute Nacht zu sagen.
     Ich erinnere mich daran, einmal in Rom im schönen Zimmer meiner Mutter in ihrem großen Bett mit ihr gelegen zu haben, wobei ich mit ihrer Halskette spielte und ihren Busen entdeckte, zu meinem großen Interesse und ihrer großen Verlegenheit. Dies war sicher das einzige Mal, daß ich bei ihr im Bett verbrachte, sonst hätte sich die Erinnerung mir nicht so eingeprägt.
     Wir hatten, wie gesagt, mit den Eltern nicht allzuviel Kontakt. Tagsüber waren wir mit den Erzieherinnen zusammen, abends gingen die Eltern aus oder hatten ihrerseits Gäste, zu denen wir allenfalls kurz im Sonntagskleidchen zum Knicksen hineingeführt wurden. Sonntags fuhren wir manchmal mit den Eltern im Auto zu irgendwelchen schönen Orten. Das benutzten die älteren Geschwister, um sich über die in der Tat haarsträubenden Erziehungsmethoden und Prügelstrafen ("Tatzen") der Hauslehrerin Fräulein Müller zu beschweren. Dann gab es, heimgekehrt, eine Untersuchung, aus der Fräulein Müller regelmäßig als Siegerin hervorging und nun erst recht Tatzen austeilte. Zum Glück unterstanden wir "Kleinen" nur an den Donnerstagen, an dem Miss Hunt Ausgang hatte, dem Regime von Fräulein Müller, das war auszuhalten.
     Erst als mein Vater nach Berlin zurückbeordert wurde, schon Ende 1931, wurden die Erzieherinnen entlassen. Wir kamen auf normale Schulen, und es brach eine relative Freiheit aus, da meine Eltern nicht gewohnt waren, das Erziehungsgeschäft selbst zu übernehmen. Ich schloß Freundschaften in der Schule und brachte die Freundinnen auch nach Hause mit; am großen Eßtisch mit sieben bis neun Personen (wenn Tante Mathilde oder Onkel Harold da waren) fiel eine mehr oder weniger nicht auf. Um die Schule kümmerte sich, wenn überhaupt jemand, mein Vater. Ich frage mich heute, ob meine Mutter jemals auch nur den Namen einer meiner Lehrer gekannt hat, weder in der Liebfrauenschule noch später in der Westendschule - mein Vater sehr wohl.
Ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals mit meiner Mutter ein persönliches Gespräch geführt zu haben. Die Wahrheit ist: wir hatten so gut wie keinen Kontakt und keine Berührungspunkte. Ich hatte allerdings gelegentlich Streit mit ihr, dann nämlich, wenn sie wieder einmal in einem Streit zwischen meinen Brüdern unbesehen für ihren Liebling Erhard Partei ergriff und ich mich dann einmischte, notfalls meinen Vater zu Hilfe rief, dem das zwar peinlich war, der aber versuchte zu schlichten.


Meine Mutter

Meine Mutter, Dorothea von Loehr, war die Tochter eines sehr liebenswürdigen und freundlich sanften Mannes aus hessischem Beamtenadel. Ihre Mutter wiederum stammte von Eltern ab, die ich in dem Text "Das Salz in der Suppe" geschildert habe.
     Als sie etwa 14 Jahre alt war, kam es zum Liebesverhältnis meiner Großmutter mit Luchino Montuori, zur Geburt des jüngeren Brüderchens Harold, der bereits ein Sohn von Luchino war, wenn auch in der Ehe geboren und von meinem Großvater als sein eigener Sohn aufgezogen, und zur Scheidung ihrer Eltern.
     Meine Mutter muß dies ihrer Mutter sehr verübelt haben. Bis zu ihrer eigenen Hochzeit, für die mein Vater auf Versöhnung mit ihrer Mutter bestand, hatte sie sich geweigert, sie zu sehen. Ich glaube auch, daß sie sehr stark aus der Opposition zu dieser ihrer Mutter heraus lebte und sich selbst stilisierte. So legte sie, obwohl als Kind, junges Mädchen und junge Frau sehr schön, zunehmend wenig Wert auf ihr Äußeres, verlor ihre gute Figur und wurde ziemlich, man muß es leider sagen, dick. Sie verachtete jegliche Kosmetik, trug ihr langes Haar zu einem unkleidsamen Dutt gebunden und kleidete sich schon seit ihren Dreißigerjahren eher matronenhaft.
     Dies mag natürlich auch an der Konvention gelegen haben, die einer Mutter von fünf Kindern damals eher einen matronenhaften Habitus zugestand als einen mondänen. Sie hatte aber leider auch keinen guten Geschmack. Unsere Kinderzimmer waren mit den häßlichsten Möbeln vollgestellt, bis ich halb unbewußt dagegen durch einen mehrstündigen Weinkrampf protestierte. Es war mein Vater, der diesen Weinkrampf immerhin ernst genug nahm, um nach mehreren Stunden (wie gesagt) herauszufinden, daß ich unter der Häßlichkeit unseres Mobiliars litt, und alsbald dafür sorgte, daß meine Schwester und ich für unser Zimmer hübsche neue Möbel bekamen.
     Mit den fünf Kindern im Abstand von sechs Jahren war meine Mutter wohl ohnehin überfordert. Solange wir klein waren, wurden wir von Angestellten betreut, als wir nach Berlin zogen und diese entlassen wurden, kamen wir auf normale Schulen und brauchten nicht mehr [diese] notwendige Betreuung.
     Soweit schulische Dinge die Teilnahme der Eltern erforderten, übernahm mein Vater diese Aufgabe. Ich bezweifele, ob meine Mutter überhaupt wußte, wer unsere Lehrer waren, während mein Vater sich dafür interessierte.
     Bei meinen Freundinnen war meine Mutter sehr beliebt, und sie war auch liebenswürdig zu ihnen. Allerdings diskriminierte sie hier nach sozialem Stand, je vornehmer die Freundinnen waren, um so liebenswürdiger war sie, und später, als ich Studentinnen wie z. B. Marly Wetzel [sie war später mit Walter Biemel verheiratet] nach Hause mitbrachte, die eben nicht vornehm war, behandelte meine Mutter sie ausgesprochen unliebenswürdig. Mein Vater hingegen, der etwas für gescheite Frauen übrig hatte, schätzte Marly sehr.
     Meine Mutter hatte einen gewissen trockenen Humor, Mutterwitz nennt man das wohl. Sie war ein spontaner, gänzlich unreflektierter Mensch, von ihren jeweiligen Ansichten, ob diese nun originär ihre oder z. B. von meinem Vater übernommen waren, nicht abzubringen, schon gar nicht durch Argumente, die sie für bloße Spitzfindigkeiten hielt. Deswegen war sie leider auch voller Vorurteile. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo dies zur Groteske ausartete. Es besuchte uns in Freiburg eine entfernte italienische Verwandte, eine Principessa so und so. Wir waren Anfang Zwanzig, sie um wenige Jahre älter - aber verheiratet. Sie war zurechtgemacht, auffallend geschminkt und mit rotlackierten Finger- und Fußnägeln, was meine Mutter an uns gar nicht schätzte. Meine Mutter bestand darauf, daß wir ihr die Hand küßten, weil unverheiratete Mädchen einer verheirateten Frau eben die Hand küssen sollten. Wir versuchten, das zu ironisieren, indem wir fragten, bis zu welchem Altersunterschied das gelte, ob bei zehn, fünf, vier, zwei Jahren Differenz, sogar bei Gleichaltrigkeit. Hier griff mein Vater vermittelnd ein und meinte, ein gewisser Altersunterschied sei doch wohl Voraussetzung. Meine Mutter war beleidigt, weil mein Vater uns recht zu geben schien, auf das Argument hörte sie nicht.
     Weil unreflektiert, war sie leider auch ungerecht. Dies galt nicht nur für ihre gegen den älteren Bruder grausame blinde Vorliebe für Erhard, über die ich an anderer Stelle geschrieben habe [siehe die nachstehenden Seiten]. Sie war auch willkürlich in der Bevorzugung von Freunden und Freunden der Kinder und ließ sich das anmerken. Auch hier galten Argumente nichts, ich dachte manchmal, daß sie gar nicht wußte, was ein Argument sei außer Rechthaberei.
     Sie war unordentlich, um nicht zu sagen chaotisch, wozu noch kam, daß sie zum Anlegen von Vorräten neigte und daß sie nichts weggab oder wegwarf. Das führte einerseits dazu, daß unsere nicht kleinen Wohnungen alle überfüllt und vollgestopft waren. Es erwies sich allerdings in der Kriegs- und Nachkriegszeit als Vorteil, sie brachte tatsächlich Ende des Krieges noch irgendwoher ein Stück Seife oder ein Päckchen Tee ans Licht. Auch hatte sie ihre sämtlichen Abendkleider aus der römischen Zeit aufgehoben, sie waren in einem riesigen Zweimeterschrank, der leider in meinem Zimmer stand und es verhäßlichte und verengte. Aber immerhin konnten wir uns später aus den Sachen Sommerkleider schneidern, als es nichts zu kaufen gab.
     Sie war übrigens eine vorzügliche Autofahrerin. Als wir kleiner waren, fuhr sie die ganze Familie samt Hund und meinem Kanarienvogel im großen Horch in die jeweiligen Sommerferien. Auch sonntags fuhren wir gelegentlich zu einem Picknick ins Blaue oder zu irgendeiner Besichtigung. Allerdings fuhren wir meist erst am Nachmittag los, weil meine Mutter darauf bestand, alles selber vorzubreiten, und das sehr lang dauerte. Hatte die Köchin Ausgang, kochte meine Mutter, was dazu führte, daß es Mittagessen um fünf Uhr nachmittags gab.
     Am Heiligen Abend bestand sie darauf, den Baum selbst zu schmücken, weshalb es erst gegen elf Uhr zur Bescherung kam. Bis dahin unterhielt uns Onkel Harold mit der Dreigroschenoper.

Teil 2