Vorgeblättert

Leseprobe zu Marcel Ophüls: Meines Vaters Sohn. Teil 1

28.01.2015.
Mein ganz und gar einziger Triumph


»Was ich damals empfunden habe, war zweifellos Kummer und Mitleid.«
MARCEL VERDIER, APOTHEKER

»Herr Rabe auf dem Baume hockt, / Im Schnabel einen Käs'.«
JEAN DE LA FONTAINE


Als dann alles vorbei war, suchte ich Alain und André in ihrem kleinen Büro in der Maison de la Radio auf. Wie üblich hatten sie ihre Füße auf die Schreibtische gelegt. Ich war gekommen, um ihnen zu sagen, dass ich nicht darauf warten würde, gefeuert zu werden. Sie meinten, dass sie ihrerseits noch ein bisschen warten wollten.
     Ein weiteres Mal packte ich also meine Koffer und nahm den nächsten Schlafwagen in Richtung Hamburg. Bedauerlicherweise war Egon Monk da schon nicht mehr Leiter des Fernsehspiels, nach meiner Kenntnis und Einschätzung sicher der beste, den Deutschland je gekannt hat. Er war ein früherer Assistent von Bertolt Brecht und 1953 aus Ostberlin geflohen, gleich nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni. Dessen ungeachtet bewahrte Egon bis zu seinem Tod großen Respekt und tiefe Bewunderung für seinen einstigen Chef. Egon war es auch gewesen, der »Ein Tag«, den ersten Fernsehfilm über die Konzentrationslager in Deutschland, gedreht hatte. Nach meinem Dafürhalten war es ein Fehler gewesen, den NDR fürs Theater zu verlassen, wo er keinen Erfolg hatte. Eine Inszenierung ging als »die Monk-Krise« in die Annalen ein.
     Sein Nachfolger war Dieter Meichsner. Wir verstanden uns überhaupt nicht, denn er war ein Sozialdemokrat vom rechten Flügel und Feuer und Flamme für den Kalten Krieg, während ich hingegen ganz einfach »nur« Sozialdemokrat war. Für die Unstimmigkeiten zwischen uns gab es auch noch eine Reihe anderer Gründe. Zum Beispiel war es meine Aufgabe, all jene Manuskripte mit den üblichen höflichen Formulierungen versehen zurückzuschicken, die der Herr Meichsner nicht so interessant gefunden hatte. Auf diese Weise gelang es ihm, Sendungen, die er seinerzeit selbst geschrieben hatte, unablässig wieder aufs Neue ins Programm zu nehmen. Am allermeisten aber schockierte mich am Benehmen Dieter Meichsners, dass er nicht geneigt war, Egon Monk seinen alten Platz wieder zu überlassen, als Letzterer danach strebte, doch wieder zum NDR zurückzukommen.
     Nachdem einige Zeit verstrichen war in diesen verfluchten Büros, in denen ich mich ordentlich langweilte und immer erst gegen zehn oder elf Uhr morgens eintraf, schlug mir Meichsner dann endlich doch noch einen Dokumentarfilm vor, der davon handeln sollte, wie es seinen Schulkameraden vom Berliner Gymnasium ergangen war. Als das Ganze aber in Gang gekommen war, änderte er indessen seine Meinung, denn er stellte sich wohl vor, dass ein Regisseur, der sich als Jude bezeichnete, ohne Zweifel die Jahre des Dritten Reichs überakzentuieren würde. So war es dann der exzellente Dokumentarfilmer Eberhard Fechner, der am Ende ausgewählt wurde, um dieses Thema zu behandeln. Fechner war in vollem Umfang über die Vorkommnisse auf unserer Etage auf dem Laufenden. Während der Dreharbeiten zu diesem Film steckte er allabendlich die Nase durch den Türspalt in mein Büro, um die Zahlen des Tages zu verkünden: ein Drittel oder 50 Prozent oder 75 Prozent. Damit war der Prozentsatz jener Kameraden von Meichsner gemeint, die über ihr Leben unter dem NS-Regime ausgesagt hatten.
     Auf demselben Stockwerk gab es noch einen anderen Brecht. Dessen Vorname war Hans, und er war Hamburger. Dieser groß gewachsene Mann mit grauen Schläfen hatte während des Krieges in der Marine gedient. Er war mit den dritten Programmen betraut und somit auch mit den Spielfilmen. Als Junggeselle wohnte er in Hamburg mitten in der Stadt, in einer kleinen, bescheidenen Einzimmerwohnung, die sich im fünften Stock befand, ohne Fahrstuhl. Eines Tages, als man ihn gefragt hatte, wie und wo man mich finden könne, antwortete er: »Marcel muss gerade in Sankt Moritz sein, zum Skifahren.« Dabei habe ich mein Lebtag keine Ferien in Sankt Moritz verbracht, und das ist auch sicher kein Ort, für den ich eine besondere Vorliebe hege. Doch er, Hans Brecht, revanchierte sich. Er verbrachte seine Sommerferien nämlich am Lido von Venedig. Dort brachte er der schönen Claude Sarraute das Schwimmen bei. Sie war die Ehefrau meines Freundes Jean-François Revel, eines bedeutenden Essayisten und Journalisten.
     Da ich mich bald zu Tode langweilte in diesem verdammten Studio des deutschen Fernsehens, schlug ich vor, einen Film zu produzieren, für den ich bereits bei der ORTF mit der Vorbereitung begonnen hatte. Er sollte in Clermont-Ferrand gedreht werden. Das war »Das Haus nebenan - Chronik einer französischen Stadt im Kriege«. Ich erblickte bei diesem Projekt vor allen Dingen eine Gelegenheit, meiner Tätigkeit als Bürokrat beim NDR zu entfliehen, wenigstens für einige Wochen. Dieter Meichsner, aus Gründen, die sich leicht erraten lassen, stimmte sofort zu. Ich dachte, dass man doch wohl auch Alain de Sédouy und André Harris bei dieser Unternehmung mit einbinden müsse. Zu jener Zeit waren auch sie beruflich »ins Exil« gegangen, allerdings in die Schweiz. Dort hatten sie eine kleine Firma aufgebaut, die TV Rencontre hieß. Ich rief sie also beide an.
     Der ganze Film kam mehr oder weniger mit einem kleinen, improvisierten Budget zustande. Er wurde innerhalb von sechs Wochen gedreht, in drei verschiedenen Ländern. Der Schnitt nahm nur sechs Monate in Anspruch. Während seines Entstehens habe ich erst ganz allmählich, stückweise sozusagen, begriffen, wie unglaublich naiv Harris, de Sédouy und ich anfangs gewesen waren. Wir hatten doch tatsächlich geglaubt, dass der Film am Ende von der Monopolanstalt des Generals ausgestrahlt werden könnte. Dabei hatte ich anfangs für die Realisierung dieses Projekts noch nicht mal große Begeisterung aufbringen können, weil es mir so vorkam, als hätten wir die französische Bourgeoisie mit »Munich ou la paix de cent ans« schon ausreichend belastet.
     Der hauptverantwortliche Cutter, Claude Vajda, sprach kein Deutsch, aber er kommunizierte bewundernswert gut mit seinen beiden Assistentinnen, die wiederum unsere Sprache nur wenig beherrschten. Häufig habe ich feststellen können, dass Sprachbarrieren in unserem Metier eigentlich nur sehr selten existieren.
     Die deutsche Fassung wurde im öffentlich-rechtlichen Programm sehr rasch und ohne Probleme ausgestrahlt. Sie wurde im Großen und Ganzen eher gut aufgenommen, wenngleich ihr nur ein mittelmäßiger Erfolg zuteil wurde. In Paris lagen die Dinge jedoch ganz anders. Der damalige Premierminister war Jacques Chaban-Delmas. Er hatte sich meinen Film an seinem Sitz im Hôtel Matignon zeigen lassen, in Anwesenheit von Sir Gladwyn Jebb, dem britischen Botschafter in Frankreich. Allem Anschein nach soll Chaban-Delmas, der eine bedeutende Rolle in der Résistance gespielt hatte, begeistert gewesen sein. Diese Vorführung sollte dann den Ausschlag dafür geben, dass die BBC zum allerersten Mal einen Film von dieser Länge zur Prime time und noch dazu an einem einzigen Fernsehabend aufs Programm setzte.
     In Frankreich war der Skandal, den die ersten Privatvorführungen vor handverlesenem Publikum auslösten, gigantisch. Meiner Meinung nach war das auch der Zeitpunkt, von dem an André Harris und Alain de Sédouy begannen, die Märtyrer der ORTF zu spielen. Sie glaubten nicht im Geringsten an die Möglichkeit, dass dieser Film in die Kinos kommen könnte, und noch weniger daran, dass er ins Ausland zu verkaufen sein würde. Ich versuchte, sie zu überreden und zum Handeln zu bewegen. Aber - nichts tat sich. Zunächst hatte ich ihnen einige höfliche und freundschaftliche Briefe geschickt, aber da ich überhaupt keine Antwort von ihnen erhielt, blieb mir am Ende nichts anderes übrig, als ihnen einen eingeschriebenen Brief zukommen zu lassen, in dem ich sie bat, unseren Film innerhalb der kommenden acht Tage François Truffaut zu zeigen. Das taten sie dann auch, und von jenem Moment an - da waren schon zwei oder drei Monate ins Land gegangen - schien endlich ein Ausweg aus der Zwangslage gefunden zu sein. Louis Malle war einverstanden, »Das Haus nebenan« im Saint-Séverin, seinem kleinen Kino auf der Rive Gauche, vorzuführen. François hatte sehr schnell noch zwei junge Kritiker der Cahiers du cinéma zu Hilfe gerufen, nämlich Michel Delahaye, einen äußerst überzeugten Rechten, und Emmanuelle Roy, die Kommunistin war. Allem Anschein nach hatte Emmanuelle Roy, um der Filmzensur ein Schnippchen zu schlagen, bei der für diese Gelegenheit organisierten Vorführung die Filmrollen der Kopie vertauscht, damit die Zensoren glaubten, dass es sich um einen Film für Intellektuelle handelte. Und da sie überhaupt nichts kapierten, konnten wir ihn dann auch auf der Kinoleinwand zeigen.
     Wegen der außergewöhnlichen Länge des Films begann die erste Vorstellung im Saint-Séverin bereits um zehn Uhr morgens. Selbstverständlich war ich anwesend, denn ich wollte Ton- und Bildqualität überprüfen. Im Zuschauerraum befanden sich drei oder vier Leute, darunter ein Herr in einem Regenmantel, der wirkte wie einer, der in einem Pornokino Zuflucht sucht. Als ich versuchte, die Platzanweiserin auf die katastrophale Qualität der Vorführung aufmerksam zu machen, zuckte sie lediglich mit den Schultern und meinte: »Was soll Sie das schon groß stören? Spätestens in zwei Wochen ist dieser Film doch sowieso wieder in der Versenkung verschwunden.« Als ich jedoch vier Stunden später wieder ins Freie trat, war die kleine Rue Saint-Séverin schwarz vor Menschen. Unter den Leuten, die Schlange standen, waren auch Hippies mit ihren Gitarren, die sich mitsamt ihren Gefährtinnen während der Wartezeit auf dem Bürgersteig niedergelassen hatten. Ein wenig beruhigt kehrte ich nach Hause zurück. In jenen Jahren zeigte Louis Malle in seinem Kino vorwiegend Filme aus der Dritten Welt, aus Kolumbien und Ägypten.
     Die Zuschauer waren allerdings keineswegs alle nur Hippies. Eines Tages sagte die Kassiererin zu mir: »Ach, Monsieur Ophüls! Wenn Sie nur wüssten, wie überaus glücklich wir hier alle sind. Jetzt kommen sogar Herren, die den Orden der Ehrenlegion tragen.«
     Eines Abends - an dem ich freilich nicht anwesend war, kannte ich meinen Film doch längst auswendig - erkannte ein Achtundsechziger-Student genau in dem Moment, als das Licht im Saal ausging, den Grafen René de Chambrun, einen direkten Nachfahren des Marquis de la Fayette und zugleich Schwiegersohn von Pierre Laval, der ja einer der Protagonisten des Films war. Da rief der Student in die Menge: »Sieh mal einer an, Chambrun ist hier!«

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