Vorgeblättert

Leseprobe zu Linda Le: Flutwelle. Teil 1

21.07.2014.
Zu meinen Lebzeiten habe ich nie viel geredet. Jetzt, wo ich unter der Erde liege, bleibt mir genügend Zeit für Selbstgespräche. Seit der Sargdeckel über mir zugefallen ist, bin ich nur noch von einem Wunsch beseelt: Rechenschaft abzulegen, meinen Anteil an dem, was passiert ist, zu klären und ein paar erhellende Hinweise auf das Drum und Dran des Dramas zu geben, das höchstens als kleine Meldung unter "Verschiedenes" auftaucht. Ich neige nicht zur Reue, aber ich muss mein Gewissen prüfen, so überflüssig das nun auch sein mag. Man wird mich in Erinnerung behalten als einen, der immer auf Kompromisse setzte und Sachen gern auf die lange Bank schob, um niemanden aufzuregen oder mangels Diplomatie die Dinge noch zu verschlimmern. Ich bin keiner von diesen Pedanten und Besserwissern, die überzeugt sind, alle anderen in die Tasche zu stecken. Nein, ich habe mich stets bemüht, meine Umgebung nicht zu behelligen, nicht nur, weil mir vor häuslichen Zwistigkeiten graut, sondern weil mir Probleme einfach nicht liegen. Es gibt nichts Kostbareres als den Seelenfrieden, und trotz aller Schicksalsschläge hätte ich gern meine Ruhe gehabt. Wahre Orkane sind durch meinen Schädel gerast. Vielleicht habe ich in einem früheren Leben etwas Schreckliches verbrochen und musste in meinen letzten fünfzig Jahren dafür bezahlen. Ich glaube an nichts, an einen Rächergott so wenig wie an einen alles verzeihenden Wiederauferstandenen. Aus den Lehren des Buddhismus konnte ich keinen Gewinn ziehen, und von den Predigten Bossuets habe ich nur die Stilübungen behalten. Da ich trotz meiner Abneigung gegen Religionen einen Hang zum Spiritualismus hatte, interessierte ich mich schon immer für Probleme, die das menschliche Begriffsvermögen übersteigen. So versuchte ich, die Mysterien der Teleologie zu durchdringen, mit den Sensualisten die Lust der Ästhetik zu erfahren und den Romantikern das Streben nach dem Unendlichen abzulauschen. Um meine Seele zu stärken, verleibte ich mir das Mark der kräftigendsten Prosa ein, aber wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, tauschte ich damit den Zweifel gegen eine Wissenschaft, die kaum geeignet war, mir zu helfen und meine Irrungen zu entwirren. Ich stürzte mich auf die Literatur in der Hoffnung, wenn schon nicht mein Glück darin zu finden, so doch zumindest lebhaften Gefallen an überraschenden Einfällen. Davon gibt es ein paar fragmentarische Überbleibsel, blinkende Sterne in einer weit entfernten Galaxie: Vautrin und Madame Verdurin, Molloy und Bardamu, Ah Q und Sganarelle, Ahab und Salome, Philoktet und Ophelia … eine unvollständige Liste, in der noch die Nebenfiguren fehlen, die ich einmal mit Vergnügen klassifiziert habe (eine vollkommen absurde Fleißarbeit). Aber in meinem armen Kopf geht es drunter und drüber.
     Meine Arbeit als Lektor, die ich zum Überleben brauchte und anfangs auch sehr ernst genommen habe, hat mein Gedächtnis eher ruiniert als trainiert. Die tägliche Fron an Manuskripten und Fahnen trug zu einer Veränderung meines Charakters bei, der immer verkniffener wurde, während meine sichere Beherrschung der Rechtschreibregeln tagtäglich auf beklagenswerte Weise nachließ. Ich achtete immer weniger auf falsch gebrauchte Wörter, schlecht gebaute Sätze oder hinkende Metaphern. Ich übersah Satzfehler und Doubletten. In den Verlagen fiel das gar nicht auf, ich bekam weiter Aufträge, an denen ich wie ein kleiner Änderungsschneider herumretuschierte, ohne mit dem Herzen dabei zu sein. In meinen Anfängen war ich ein Ayatollah des Purismus, ich duldete keinen Anglizismus, kein Irgendwie, keinen Missbrauch von Neologismen, keine Schlamperei unter dem Vorwand, das sei modern. Es empörte mich, wenn ein Autor sich nicht der Disziplin der Syntax unterwarf, Satzzeichen nach Belieben über den Text verstreute oder sich angeblich gewagte, tatsächlich aber missglückte dichterische Freiheiten erlaubte. Wenn da zu viele Relativpronomen waren, strich ich Sätze zusammen oder schrieb sie um. Irgendwann schlich sich der Schlendrian ein. Husch, husch schluderte ich meine Arbeit hin und verdarb mir nicht mehr die Augen bis in die Puppen, um jedes Detail genau unter die Lupe zu nehmen. Der Großteil der schwerverdaulichen Romane, die ich lektorierte, war der Mühe des Verbesserns nicht wert, nur ab und zu stieß ich auf Seiten, schmackhaft wie sonnensatte Orangen. Wenn ein Meister der Prägnanz Perioden verkürzte und verdichtete oder ein Text von Wortraritäten oder Dialekt strotzte, war ich in meinem Element. Ich sage selbst auch lieber Firlefanz statt Unsinn oder dass etwas keinen Pfifferling wert ist statt keinen Pfennig, die Hasskappe aufhaben statt wütend sein, und ich mag Ausdrücke wie Fisimatenten, über den Löffel barbieren, kosen, Ganove und gut betucht sein … Kurz, um es weniger altbacken zu formulieren, ich bin eher out als in und alles andere als hip.
     Vielleicht sind Ausländer (und ich bin einer), die eine Sprache nicht vor Ort lernen, sondern indem sie Klassiker lesen, empfänglicher für altertümliche Wendungen. Sie glauben, dass sie in ihrem Munde nicht anachronistisch klingen, sondern das Siegel einer gelungenen kulturellen Anpassung sind. Dass solche Ausdrücke den Anschein ihres Aussehens widerlegen. Dass die Beherrschung der Feinheiten der angenommenen Sprache die Neunerprobe ihrer Verwurzelung im Asylland ist. Nicht genug damit, dass sie alte Wendungen wiederbeleben, würzen sie ihre Rede mit deftigen volkstümlichen Begriffen, die ihre Schwäche fürs Idiomatische zeigen sollen. Ich, der die Schulbank im französischen Lycée von Saigon gedrückt hatte, wurde erst mit Racines Poesie gefüttert und dann von Mitschülern in den Dialekt eingeführt, gewählt zu sprechen ist für mich keine Hürde, Vulgarität ist mir nicht fremd, und das kunterbunte Idiom der Städte beherrschte ich schon, bevor ich nach Paris kam.
     Ich liege auf dem Friedhof von Bobigny. Vor Kurzem hatte ich die Gelegenheit, Karten für zwei Theaterabende im hiesigen Kulturhaus zu ergattern, Inszenierungen von Deborah Warner und Lev Dodin. Nach einer dieser Aufführungen sagte ich zu meiner Frau Lou, dass ich gern in der Nähe dieses Vorstadttheaters begraben werden würde, wenn ich einmal ins Gras beißen sollte. Und sie hat mich beim Wort genommen: Mein Grabstein steht nur zwei Schritte von den Stadttürmen entfernt. Am Tag meiner Beisetzung, einem Dienstag im Oktober, schüttete es wie aus Eimern. Die Luft war frisch, ein starker Wind wehte, es gab weder Blumen noch Kränze, und nur eine Handvoll Menschen begleitete mich zu meiner letzten Ruhestätte. Ulma, die ewig junge Ulma in einem sandfarbenen Kleid und beigefarbenem Trench, wirkte trotz ihrer hohen Absätze winzig unter ihrem riesigen Schirm. Die drei Nachbarn aus dem Haus, die ich damals, als ich mich noch um gute Beziehungen zu meinen Mitmenschen bemühte, zu meiner Einweihungsfeier eingeladen hatte, waren gekommen. Die Verleger, für die ich gearbeitet hatte, fühlten sich verpflichtet, ihre Pressebeauftragten zu schicken. Zwei Kollegen, beides verdiente Linguisten, trugen den Sarg. Meine Frau im anthrazitgrauen Kostüm und grauem Gabardinemantel hatte geschwollene Augen und ein nervöses Zucken um die Mundwinkel. Hugues, mein Waffenbruder, ein Jansenist der Literatur, hielt eine Rede auf mich, den Exilierten, der das Französische besser beherrscht habe als die Einheimischen (das war ein bisschen übertrieben), den scharfsinnigen Leser (der sehr heikel geworden war in der Auswahl seiner Lektüre, hätte er hier noch hinzufügen sollen), den Lektor, der das Stilbewusstsein bis zum Äußersten trieb (eine Überschätzung, aber das war mein Ruf), den Stachanow-Arbeiter (zwangsweise, weil pro Seite bezahlt), den begnadeten Briefeschreiber (nicht Möchtegernschriftsteller!), der seine Briefpartner so reich beschenkt habe, den lakonischen Gesprächspartner, der sich selbst nicht gerne reden hörte, den Cineasten, der nicht nur für Murnau und Dreyer schwärmte, sondern auch für Eustache und Cassavetes, Kiarostami und Sokurow (wie viele Sonntage habe ich damit zugebracht, mir ihre Filme wieder und wieder anzusehen!), den Weltbürger ohne Vorurteile (Ruhm und Preis den Übersetzern, die mich von den Visa für die Antipoden erlösten!), den Wohltäter, der jeden Moment der Muße der Ausstattung eines Bücherbusses gewidmet habe (es war meine Schwäche, Immigranten zum Lesen verführenzu wollen), den treuen, hilfsbereiten Freund (mit dem kleinen Fehler, dass er sich für unentbehrlich hielt), den Gatten, der sich stets bemüht habe, der unvermeidlichen Eheroutine etwas entgegenzusetzen (da waren meinem Laudator ein paar Details entgangen), den Vater, der weder allzu cool noch allzu beschissen rüberkam (wie meine Tochter gesagt hätte; Hugues, seines Zeichens Spezialist für das 18. Jahrhundert, drückte sich natürlich gewählter, wenn auch nicht ganz so treffend aus). Alles in allem sei der Welt mit mir eine erausragende Persönlichkeit abhandengekommen, mein Tod reiße eine Lücke, die niemand ausfüllen könne, die Verlagslandschaft habe einen ihrer besten Mitarbeiter verloren, und meine Familie stehe nach diesem unersetzlichen Verlust ohne Oberhaupt da.
     Anschließend las meine Tochter Laure in ihrer Gothic-Verkleidung ein Gedicht von Pierre Reverdy vor, "Zum Traumsprung", das so beginnt:

Wie ich mich selbst verstand
auf meinem Begräbnis
in jener Nacht
Die Hände auf der Brust gefaltet
sah ich der Trauerfeier zu
und hielt den Gedanken an meinen Tod kaum aus.


Es tat weh, sie so zu sehen, die kleine Laure in ihrem langen dunklen Mantel, dem unförmigen Pullover, unter dem sich ihr Nabelpiercing abzeichnete, mit dem Pentagramm um den Hals, der purpurnen Strähne im rabenschwarzen Haar, den schwarz bemalten Nägeln und Lippen. Die Wimperntusche zerfloss und rann ihr in schwarzen Streifen über die Wangen. Sie hatte einen ganzen Vormittag in meiner Bibliothek gestöbert und Anthologien durchgeblättert, bevor sie sich für die Verse Reverdys entschieden hatte. Wäre es nur von ihr abhängig gewesen, hätte sie wahrscheinlich lieber etwas Elektrisierenderes zitiert, zum Beispiel einen Text aus Marilyn Mansons Album Holy Wood ("In the Shadow of the Valley of Death"):

We have no future
heaven wasn"t made for me
we burn ourselves to hell
as fast as it can be…



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