Vorgeblättert

Leseprobe zu Leonardo Padura: Ketzer. Teil 2

06.03.2014.
Conde wusste, worauf Yoyis Vorahnungen hinausliefen, und er schämte sich bei dem Gedanken, dass er hierherkam, um seinen Partner anzustacheln. Doch von seinem alten Stolz war nur noch wenig übrig, und stand ihm das Wasser bis zum Hals, kreuzte er hier auf und jammerte Yoyi etwas vor. Mit seinen vierundfünfzig Jahren gehörte er zu dem, was er und seine Freunde vor einigen Jahren als die "verborgene Generation" bezeichnet hatten: älter gewordene, gescheiterte Männer, die sich in ihre Schlupfwinkel verkrochen und zur enttäuschtesten, kaputtesten Generation innerhalb des im Entstehen begriffenen neuen Landes entwickelt (oder besser gesagt: zurückentwickelt) hatten. Zu kraftlos und zu alt, um sich zu Kunsthändlern oder Leitern ausländischer Unternehmen oder wenigstens zu Klempnern oder Konditoren umschulen zu lassen, blieb ihnen nur noch der Kampf ums nackte Überleben. Während einige von den Dollarüberweisungen ihrer Kinder aus irgendeinem Teil der Welt lebten, versuchten andere, sich irgendwie durchzuschlagen, um nicht im absoluten Elend zu versinken oder im Gefängnis zu landen. Sie gaben Privatstunden, vermieteten ihr klappriges Auto (mit und ohne Chauffeur), arbeiteten auf eigene Rechnung als Tierärzte oder Masseure, taten, was immer sich ergab. Doch es war nicht einfach, sich über Wasser zu halten, und verursachte jene Erschöpfung, das Gefühl ständiger Unsicherheit und endgültigen Scheiterns, das auch den ehemaligen Polizisten häufig quälte und dazu trieb, auf der Suche nach alten Büchern, mit denen er ein paar Pesos zum Überleben verdienen konnte, durch die Straßen zu laufen.
Nachdem sie Kaffee getrunken, ein paar Zigaretten geraucht und über dies und das geplaudert hatten, gähnte Yoyi herzhaft und sagte zu Conde, nun sei es Zeit für eine Siesta, bei dieser Hitze die einzige anständige Tätigkeit für einen Habanero, der etwas auf sich halte.
"Keine Sorge, ich geh schon …"
"Du gehst nirgendwohin, man", sagte Yoyi, wobei er sein Lieblingswort noch mehr in die Länge zog. "Schnapp dir die Campingliege aus der Garage und stell sie im Schlafzimmer auf. Hab die Klimaanlage schon vor ner Weile anwerfen lassen. Die Siesta ist heilig. Nachher bring ich dich nach Hause, ich muss sowieso noch weg."
Da Conde nichts Besseres zu tun hatte, kam er der Aufforderung nach. Obwohl er rund zwanzig Jahre älter war als El Palomo, hatte er grundsätzlich Vertrauen in dessen Lebensweisheit. Und nach dem Kabeljau und der Flasche Pesquera drängte sich eine Siesta, das Beste, was die Spanier ihnen hinterlassen hatten, in der Tat auf. Man ergab sich quasi nur dem Befehl des tropischen Fatalismus.
Drei Stunden später nahmen die beiden Männer in dem glänzenden Chevrolet Cabrio, den Yoyi voller Stolz durch die holprigen Straßen Havannas lenkte, Kurs auf El Condes Stadtviertel. Kurz bevor sie das Haus des ehemaligen Polizisten erreichten, bat der seinen Partner, anzuhalten.
"Lass mich an der Ecke raus", sagte er, "ich hab da was zu erledigen."
Yoyi El Palomo grinste und hielt an der Bordsteinkante.
"In der Bar der Verzweifelten?", fragte er, da er die Bedürfnisse und Charakterschwächen El Condes kannte.
"Mehr oder weniger."
"Hast du Geld?"
"Mehr oder weniger. Aus dem Fonds für den Bücherkauf", wiederholte El Conde gebetsmühlenartig und streckte dem Jüngeren die Hand zum Abschied hin, die dieser kraftvoll drückte. "Danke für das Essen, die Siesta und das Bringen."
"Hier, man, nimm das, für alle Fälle."
El Palomo zog ein Geldbündel aus der Tasche, zählte ein paar Scheine ab und reichte sie Mario. "Kleiner Vorschuss auf das Geschäft, das in der Luft liegt."
Conde sah Yoyi an und nahm das Geld, ohne langes Nachdenken. Der Jüngere half ihm nicht zum ersten Mal aus, und seitdem er von dem angeblich bevorstehenden Geschäft gesprochen hatte, wusste Conde, dass ihn beim Abschied eine kleine Finanzspritze erwarten würde. Und obwohl ihre Freundschaft zunächst aus einer rein geschäftlichen Beziehung hervorgegangen war, in die jeder seine speziellen Fähigkeiten einbrachte, wusste El Conde auch, dass Yoyi ihn wirklich mochte. Aus diesem Grund fühlte er sich bei der Scheinchenübergabe nicht noch mehr in seinem Stolz verletzt, als er es ohnehin schon war.
"Weißt du was, Yoyi? Du bist das netteste Arschloch in Kuba."
Yoyi grinste und streichelte das riesige Goldmedaillon auf seinem vorgewölbten Brustkorb. "Erzähl das bloß nicht weiter. Wenn die Leute rauskriegen, dass ich auch nett sein kann, schadet das meinem Ruf … Wir sehen uns", fügte er hinzu und startete den Motor des Bel Air. Der Wagen glitt dahin, als wäre er Herr über die Straßen Havannas. Oder der Welt.
Mario Conde betrachtete das trostlose Panorama, das sich vor ihm ausbreitete, und spürte deutlich, wie der Anblick seinen ohnehin schon jämmerlichen Gemütszustand noch verschlimmerte. Diese Straßenecke war der Nabel seines Viertels gewesen, und jetzt glich sie einem Eiterpickel. In einem selbstquälerischen Nostalgieanfall erinnerte er sich an seine Kindheit, als sein Großvater Rufino ihn in die Kunst des Trainings von Kampfhähnen einweihte und ihn auf das Überleben in einer Welt vorbereitete, die einem Hahnenkampfplatz sehr ähnlich war. An genau dem Punkt, wo er sich jetzt befand, konnte man damals das ständige Chaos der berühmt-berüchtigten Omnibus-Endhaltestelle des Viertels beobachten, an der sein Vater jahrelang gearbeitet hatte. Doch nachdem die Linie stillgelegt worden war, war die verwaiste Anlage immer mehr verfallen wie ein zum Sterben verurteilter Autofriedhof. Und Conchitas Kneipe, Porfirios Stand, an dem Zuckerrohrsaft gepresst wurde, die Imbissbuden von Pancho Mentira und El Albino, Nenitas Kramladen, die Friseurläden von Wildo und Chilo, die Cafeteria, Miguels Geflügelhandlung, die Bodega von Nardo und Manolo, Izquierdos Café, der chinesische Laden, das Möbelgeschäft, die Eisenwarenhandlung, die beiden Kfz-Werkstätten mit ihrem Reifenservice und der Waschanlage, der Billardsalon, die Bäckerei La Ceiba mit ihrem Duft nach Brot und Leben … all das war ebenfalls verschwunden, wie von einem Tsunami oder noch etwas Schlimmerem hinweggefegt, und überlebte nur noch in der hartnäckigen Erinnerung von Typen wie El Conde. Jetzt fungierte eine der Kfz-Werkstätten zwischen Straßen voller Schlaglöchern und kaputten Bürgersteigen als Cafeteria, die ihr Zeug gegen CUCs, die irreale kubanische Zwitterwährung, verkaufte. In der anderen Werkstatt gab es nichts mehr. Und das Lokal, in dem sich früher einmal die Bodega von Nardo und Manolo befunden hatte und das mehrmals renoviert worden war, um das Original wieder auferstehen zu lassen - leider vergeblich -, bestand nun aus einer Theke in der Tür. Durch stabile Eisenstäbe vor den Attacken möglicher Korsaren und Piraten geschützt, diente sie als Verteilerstelle von Alkohol und Nikotin und wurde von El Conde "Die Bar der Verzweifelten" getauft. Hier, und nicht in der Cafeteria, die nur CUCs annahm, tranken die wahren Trinker des Viertels zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren billigen Rum ohne wohltuende Eiswürfel, im Stehen oder auf dem dreckigen Boden hockend, wo ihnen die unzähligen Straßenköter den Platz streitig machten.
Conde wich den schmutzigen Wasserpfützen aus, überquerte die Straße und näherte sich der mit dem Gefängnisgitter gesicherten Bar neuen Typs. Sein Alkoholdurst war weniger schlimm als sonst, musste aber nichtsdestoweniger gestillt werden. Und Gandinga, der Mann hinter dem Tresen, "Gandhi" für die Stammgäste, stand bereit, um ihm dabei behilflich zu sein.
Zwei große Glas Rum und gute zwei Stunden später stand El Conde, frisch geduscht und parfümiert mit Kölnischwasser, einem Geschenk von Tamaras Zwillingsschwester Aymara, wieder auf der Straße. Neben die Bodenklappe der Terrassentür hatte er den Fressnapf für Basura II hingestellt, der trotz seiner inzwischen zehn Jahre nach wie vor dem Straßenköterdasein frönte - eine Vorliebe, die er von seinem ruhmreichen und inzwischen verstorbenen Vater, Basura I, geerbt hatte. Conde dagegen hatte nichts gegessen: Wie an fast jedem Abend hatte Josefina, die Mutter seines Freundes Carlos, ihn zum Essen eingeladen, und in solchen Fällen war es besser, so viel Platz wie möglich im Magen frei zu halten. Bewaffnet mit zwei Flaschen Rum, die er dank Yoyis Großzügigkeit in der Bar der Verzweifelten hatte kaufen können, stieg er in den Bus. Und trotz der Hitze, des Chaos, der stampfenden Reggaeton-Musik, die seinen Ohren und seiner Stimmung Gewalt antat, der herrschenden Enge und der allgemeinen Erschöpfung fühlte er sich bei der Aussicht auf einen angenehmen Abend wieder einigermaßen wohl.
Ein Abend mit seinen alten Freunden beim dünnen Carlos, der längst nicht mehr dünn war, war für Mario Conde die schönste Art, den Tag zu beschließen. Am zweitschönsten fand er es, den Abend (und die Nacht) mit Tamara zu verbringen, sich gemeinsam einen seiner Lieblingsfilme anzusehen - etwa Chinatown, Cinema Paradiso, Der Malteser Falke oder das immer wieder tiefschürfende und ergreifende Werk Wir waren so verliebt von Ettore Scola mit der hinreißenden Stefania Sandrelli - und den Tag mit einer Runde Sex abzuschließen, der mit der Zeit weniger wild und langsamer geworden war (von beiden Seiten), aber immer noch äußerst befriedigend. Diese kleinen Freuden waren die besten Hinterlassenschaften eines Lebens, das mit den Jahren und den zahlreichen Fußtritten fast alles verloren hatte, das nicht mit dem bloßen Überleben verbunden war. Verloren hatte er sogar seinen Traum, irgendwann einen Roman zu schreiben, eine so lakonische wie ergreifende Geschichte wie die von diesem verdammten Salinger, der wohl bald sterben würde, ohne auch nur eine einzige weitere erbärmliche Erzählung veröffentlicht zu haben.
Nur in jenen Bereichen, die El Conde und seine Freunde hartnäckig von der Realität ferngehalten und zum Schutz vor den Barbaren vehement abgeschirmt hatten, existierten liebenswerte, unveränderliche Welten, auf die keiner von ihnen verzichten wollte oder konnte, auch wenn sie selbst sich physisch und mental verändert hatten. Welten, mit denen sie sich identifizierten und in denen sie sich vorkamen wie Wachsfiguren, fast sicher vor den Katastrophen und Pervertierungen um sie herum.
Der dünne Carlos, der Hasenzahn und der rote Candito unterhielten sich bereits vor dem Haus. Seit ein paar Monaten saß Carlos in einem neuen, batteriebetriebenen Rollstuhl, einem Wunderding, das ihm die stets hilfsbereite treue Dulcita aus dem Norden mitgebracht hatte. Dulcita, die verlässliche Exverlobte des Dünnen, noch verlässlicher, seit sie ein Jahr zuvor Witwe geworden war, kam jetzt doppelt so häufig von Miami nach Kuba geflogen und blieb - aus offensichtlichem, wenn auch nicht öffentlich eingestandenem Grund - jedes Mal länger auf der Insel.
"Weißt du, wie spät es ist, Alter?", begrüßte ihn der Dünne und setzte seinen elektrisch betriebenen Stuhl in Gang, um Mario die Plastiktüte zu entreißen, in der er zu Recht den für den bevorstehenden Abend benötigten Brennstoff vermutete.
"Red keinen Scheiß, Dünner, es ist erst halb neun … Was läuft, Roter? Wie gehts, Hasenzahn?", fragte El Conde und drückte den beiden Freunden die Hand.
"Beschissen, aber glücklich", antwortete der Hasenzahn.
"Genauso wie dem da …", sagte Candito und wies mit dem Kinn auf den anderen. "Aber ich will mich nicht beklagen. Wenn ich merke, dass ich losjammern will, bete ich ein wenig."
Conde lachte. Seit Candito die bewegten Zeiten in den verschiedensten Berufen - Betreiber einer Flüsterkneipe, Schuhfabrikant mit geklautem Material, Verwalter eines illegalen Benzinlagers - hinter sich gelassen und sich dem Protestantismus zugewandt hatte - welcher der zahlreichen Spielarten, wusste Conde nicht -, versuchte der Mulatte mit dem inzwischen weiß gewordenen Haar seine Probleme mit Gottes Hilfe zu lösen.
"Irgendwann werde ich dich bitten, mich zu taufen, Roter", sagte Mario. "Das Problem ist nur, ich bin dermaßen im Arsch, dass ich danach den ganzen Tag lang beten müsste."
Carlos kam in seinem Rollstuhl zurück vor die Tür gefahren, auf den Knien seiner schlaffen Beine ein Tablett mit vier klirrenden Wassergläsern, drei randvoll mit Rum und eins mit Limonade. Beim Verteilen der Getränke - die Limonade war natürlich für Candito - sagte er: "Das Essen ist so gut wie fertig."
"Und was serviert uns Josefina heute?", wollte der Hasenzahn wissen.
"Sieht schlecht aus, sagt sie, und außerdem wär sie nicht inspiriert."
"Dann macht euch auf was gefasst!", rief El Conde, der ahnte, was auf sie zukam.
"Weils so heiß ist", sagte Carlos, "gibts als Vorspeise einen Kichererbseneintopf mit Chorizo, Morcilla, ein paar Brocken Schweinefleisch und Kartoffeln. Als Hauptgericht gegrillten Fisch, einen Pargo, aber nicht besonders groß, nur etwa zehn Pfund schwer. Und natürlich Reis, aber mit Gemüse, wegen der Verdauung, sagt sie. Und der Salat ist auch schon fertig: Avocados, grüne Bohnen, Radieschen und Tomaten."
"Und zum Nachtisch?" El Conde sabberte wie ein tollwütiger Hund.
"Das Übliche: Guavenscheiben mit weißem Käse. Wie gesagt, sie war nicht inspiriert."
"Scheiße noch mal, Dünner, ist die Frau eine Zauberin?", rief Candito, der sich offenbar darüber wunderte, dass sein Glaube an das Unbegreifliche noch übertroffen wurde.
"Wusstest du das nicht?", rief Conde und kippte das halbe Glas Rum hinunter. "Das kannst du mir nicht erzählen, Roter, mir nicht!"
"Mario Conde?"
Als ihm der Hüne mit dem Pferdeschwanz diese Frage stellte, begann er nachzudenken: Seit Jahren hatte er keinem Ehemann mehr Hörner aufgesetzt, seine Büchergeschäfte waren so sauber, wie Geschäfte nur sein konnten, Geld schuldete er nur Yoyi … und den Polizistenberuf hatte er schon vor so langer Zeit an den Nagel gehängt, dass ihn unmöglich jemand mit einer Vendetta bedrohen konnte. Zog er dazu den eher erwartungsvollen denn aggressiven Ton und den freundlichen Gesichtsausdruck des Mannes vor sich in Betracht, wuchs seine Sicherheit, dass der Unbekannte wohl nicht die Absicht hatte, ihn umzubringen oder zu verprügeln.
"Ja, bitte?"
Der Mann hatte sich aus einem der beiden wackligen Schaukelstühle mit der abgeblätterten Farbe erhoben, die El Conde vor seinem Haus stehen und trotz ihres beklagenswerten Zustands aneinander- und dann an eine Säule des Portals gekettet hatte, um jeden Versuch zu erschweren, sie von der Stelle zu bewegen. Im lediglich von der Straßenbeleuchtung durchbrochenen Dämmerlicht - die letzte Glühbirne der Lampe im Hauseingang hatte Conde eines Nachts, zu besoffen, um sich über Glühbirnen Gedanken zu machen, bei irgendwem anders eingeschraubt und dort vergessen - konnte er sich ein erstes Bild von dem Besucher machen. Der Mann war etwa ein Meter neunzig groß, etwas über vierzig Jahre alt und einige Kilos schwerer, als sein Körperbau es vorsah. Das vorn eher spärliche Haar trug er zum Ausgleich im Nacken lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden, der wiederum ein Gleichgewicht zu seiner enormen Nase herstellte. Als Conde vor ihm stand und die blassrosa Hautfarbe sowie die sportlich elegante Qualität seiner Kleidung bemerkte, folgerte er, es müsse sich um jemand handeln, der übers Meer gekommen war. Über irgendeines der sieben Meere.
"Elias Kaminsky, sehr erfreut", sagte der Fremde lächelnd und reichte El Conde die Hand.
Der warme weiche Händedruck dieser Riesenpranke überzeugte den Expolizisten davon, dass der Mann nichts Böses im Schilde führte, und er warf seinen Gehirncomputer an, um zu ergründen, warum dieser Ausländer kurz vor Mitternacht im dunklen Hauseingang auf ihn gewartet hatte. Hatte Yoyi recht, und hier stand jemand, der auf der Jagd nach seltenen Büchern war? Sah ganz danach aus, schloss El Conde und setzte ein an jedwedem Geschäft desinteressiertes Gesicht auf, wie es ihm El Palomo mit seiner merkantilen Weisheit geraten hatte.
"Wie war noch der Name?" Conde bemühte sein Gehirn, das dank des Nahrungsschocks, den die alte Josefina ihnen verpasst hatte, vom Alkohol nicht übermäßig vernebelt war.
"Elias … Elias Kaminsky. Entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Uhrzeit so überfalle … Hören Sie …" Der Mann, der ein ziemlich neutrales Spanisch ohne bestimmten Akzent sprach, lächelte verlegen und beschloss dann offenbar, gleich seinen besten Trumpf auszuspielen: "Ich bin ein Freund Ihres Freundes Andrés, des Arztes, der in Miami lebt …"
Bei diesen Worten wichen auch die letzten Reste der Anspannung wie durch einen Zauberspruch von Mario. Dieser Mann musste auf der Suche nach alten Büchern sein, und sein Freund Andrés hatte ihn zu ihm geschickt. Wusste Yoyi davon und hatte er deshalb so getan, als hätte er eine Vorahnung?
"Ja, natürlich, klar, er hat so was erzählt", log El Conde, der seit zwei oder drei Monaten nichts mehr von Andrés gehört hatte.
"Umso besser. Also, Ihr Freund lässt Sie grüßen und …" Der Fremde griff in die Brusttasche seines lässigen Hemdes (von Guess, stellte Conde fest). "Er hat mir einen Brief für Sie mitgegeben."
Conde nahm den Umschlag. Seit Jahren hatte er keinen Brief mehr von Andrés erhalten, und er war neugierig auf den Inhalt. Irgendein besonderer Grund musste den Freund veranlasst haben, sich hinzusetzen und ihm einen Brief zu schreiben, denn seit der Arzt in Miami lebte, hatte er, sozusagen als vorbeugende Maßnahme gegen das hinterlistige Heimweh, beschlossen, nur noch eine lose Verbindung zu seiner schmerzlichen und der Gegenwart deshalb abträglichen Vergangenheit zu pflegen. Nur zwei Mal im Jahr brach er das Schweigen und badete in Melancholie: an Carlos' Geburtstag und am 31. Dezember. Er rief den Dünnen abends an, weil er wusste, dass dann seine Freunde bei ihm waren, Rum tranken und ihre Verluste bilanzierten. Verloren hatten sie auch ihn, Andrés, der vor nunmehr zwanzig Jahren, wie es in dem bekannten Bolero hieß, ohne Lebewohl fortgegangen war, um nicht zurückzukommen. Nur dass er Lebewohl gesagt hatte …
"Ihr Freund arbeitet in der Seniorenresidenz, in der meine Eltern ihre letzten Jahre verbracht haben", fuhr der Mann fort, als er sah, dass Conde den Umschlag faltete und in die Tasche steckte. "Er hatte eine besondere Beziehung zu ihnen. Meine Mutter, die vor ein paar Monaten starb …"
"Tut mir leid."
"Danke. Meine Mutter war Kubanerin und mein Vater Pole, hatte aber zwanzig Jahre in Kuba gelebt, bevor sie 1958 emigriert sind." Irgendeine liebevolle Erinnerung ließ Elias Kaminsky lächeln. "Obwohl er nur zwanzig Jahre in Kuba verbracht hat, sagte er immer: er sei Jude aufgrund seiner Herkunft, Deutsch-Pole von Geburt und durch seine Eltern, rechtmäßiger Bürger der USA und von all dem abgesehen Kubaner. In Wirklichkeit war er nämlich vor allem Kubaner. Von der Partei der Schwarze-Bohnen-und-Yucca-mit-Knoblauch-Esser, sagte er immer …"
"Also ein Kollege von mir … Wollen wir uns nicht setzen?" Conde zeigte auf die beiden Schaukelstühle. Er holte einen Schlüssel hervor, schloss die Kette auf, die sie wie ein zum Zusammenleben verdammtes Ehepaar miteinander verband, und schob sie in eine günstigere Position zum Plaudern. Neugierig darauf, warum dieser Mann ihn aufgesucht hatte, war ein weiterer Teil seiner bereits wochenlang andauernden Niedergeschlagenheit wie weggefegt.
"Danke", sagte Elias Kaminsky und setzte sich, "aber ich werde Sie nicht lange belästigen, um diese Uhrzeit …"
"Warum sind Sie denn nun zu mir gekommen?", fragte El Conde unvermittelt.
Kaminsky zog eine Schachtel Camel hervor und bot Conde eine Zigarette an, doch der lehnte höflich ab. Nur im Falle einer nuklearen Katastrophe oder bei Todesgefahr würde er diese parfümierte, süßliche Scheiße rauchen. Nebst seiner Mitgliedschaft in der Partei der Schwarze-Bohnen-Esser war er ein Nikotinpatriot, was er umgehend bewies, indem er sich eine seiner zerstörerischen Criollos anzündete, schwarz, ohne Filter.
"Ich nehme an, dass Andrés es Ihnen in seinem Brief erklärt. Ich bin Maler, geboren in Miami, lebe inzwischen aber in New York. Meine Eltern haben die Kälte dort nicht ertragen, deshalb sind sie in Florida geblieben. Sie hatten eine kleine Wohnung in der Seniorenresidenz, und dort lernten sie Andrés kennen. Ich selbst bin zum ersten Mal in Kuba und … na ja, es ist eine lange Geschichte. Darf ich Sie morgen zum Frühstück in mein Hotel einladen? Dann können wir in Ruhe darüber reden. Andrés sagt, Sie seien der richtige Mann, um mir zu helfen, etwas über meine Eltern herauszufinden. Ach ja, ich bezahle Sie selbstverständlich für Ihre Mühe."
Während Elias Kaminsky sprach, spürte El Conde, wie seine kurz zuvor ausgeschalteten Alarmlichter nach und nach wieder aufblinkten. Wenn Andrés diesen Mann, der offensichtlich keine seltenen Bücher suchte, zu ihm schickte, musste es einen gewichtigen Grund dafür geben. Doch bevor er einen Kaffee mit dem Unbekannten trank und erst recht, bevor er ihm sagte, dass er weder Zeit noch Lust habe, sich mit seiner Geschichte abzugeben, musste er ein paar Dinge wissen. Andererseits … Der Mann hatte von Bezahlen gesprochen, oder? Und wie viel? Der finanzielle Engpass, in dem er sich schon seit Monaten befand, ließ das Angebot verlockend erscheinen. Auf jeden Fall war es, wie immer, am besten, mit dem Anfang zu beginnen.

zu Teil 3