Vorgeblättert

Leseprobe zu Kristof Magnusson: Das war ich nicht. Teil 2

04.01.2010.
JASPER

Einmal pro Woche schickte die Personalabteilung eine Mail mit den neuen Mitarbeitern rum: Fotos, Mailadresse, Ausbildung, Funktion und Durchwahl. Hieß sie willkommen, ich glaube sogar, herzlich. Wenn jemand nicht mehr da war, erfuhr ich das erst, wenn ich eine Durchwahl wählte und jemand anders am Apparat war.
      In wenigen Tagen würde wahrscheinlich auch an meiner Durchwahl jemand anders sitzen. Doch wenigstens musste ich mir nicht die Demütigung geben, ahnungslos da aufzutauchen und gefeuert zu werden. Ich war gewarnt. Es gab schlimmere Arten, von seiner Kündigung zu erfahren: Ich hatte mal von ­einem Kollegen gehört, der am Wochenende von seinem BlackBerry eine Mail von seiner privaten an seine Arbeitsadresse schickte und von einer automatischen Rückantwort mitgeteilt bekam, dass er nicht mehr für Rutherford & Gold arbeitete.
      Zugegeben, so was war selten. Vielleicht sogar ein Gerücht. Aber auch der Normalfall war schlimm genug. Zum Beispiel bei meinem ehemaligen Chef aus dem Back-Office. Er wurde versetzt zu Fusionen und Übernahmen, es sah aus wie eine Beförderung, aber sicher war er sich nicht. Dafür, dass hier alles ­angeblich so rational war, gab es erstaunlich viel, wo man im Kaffeesatz lesen musste wie eine Wahrsagerin. Als ich einige Tage später mit meinem Ex-Chef im Fahrstuhl stand, sah er so schlecht aus, dass ich mich kaum traute, Hallo zu sagen. Schließlich erfuhr ich, was passiert war: Er hatte sein neues Büro vermessen, und es war zwei Quadratfuß kleiner als sein altes. Das waren ungefähr drei Seiten Papier. Und doch konnte er sich nicht damit abfinden, wurde schließlich sogar um 6:30 bei dem Versuch erwischt, sein altes Büro noch einmal nachzumessen. Einige Wochen später wurde er krank. Nie mehr gesehen. Obwohl sein neues Büro viel heller und zwei Etagen höher war, konnte ihm niemand den Glauben nehmen, degradiert worden zu sein.
      Nun stand ich mitten am Vormittag im Caribou Cafe, wo ich mir sonst nur mittags schnell ein Sandwich und einen Kaffee Americano holte. Setzte mich zum ersten Mal an einen Tisch. Merkwürdig, dass es hier überhaupt Tische und Stühle gab, wo alle so in Eile waren. Sie fragten einen nicht mal, ob man den Kaffee hier trinken wollte. Ich glaube, die hatten nichts anderes als Einwegbecher zum Mitnehmen. Nach dem ersten Schluck spürte ich ein Stechen in meinem Magen, doch ich gab nicht auf, nahm einen zweiten und, ehe mein Magen darauf reagieren konnte, einen dritten. Das würde ich nun wohl den ganzen Tag tun müssen. Kaffee trinken. Heute und an den vielen folgenden arbeitslosen Tagen auch.
      Auf der anderen Seite: Die schickten mich doch nicht in der Business-Class zur Fortbildung nach London, um mich dann zu feuern. Das wäre absurd. Absurd, aber nach allem, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt hatte, nicht unmöglich. Dies war Rutherford & Gold.

Nach zwei weiteren Americanos und einem Donut ging ich durch kalten Wind und Schneefall nach Hause. Noch nie hatte werktags so früh meine Freizeit angefangen, die sich in dieser Wohnung abspielte, die die Bank mir besorgt hatte, im 38. Stock eines Hochhauses mit Seeblick und uniformiertem Portier, der mir die Tür aufhielt.
      Ich setzte mich auf mein Sofa. Um diese Zeit hier zu sein, fühlte sich so merkwürdig an, dass ich einen Moment einfach nur dasaß. Und zum ersten Mal seit Monaten die Kartons an der gegenüberliegenden Wohnzimmerwand bemerkte. Vier hell­braune Boxen mit weißen Aufklebern. Das Wort premmö in schwarzen Großbuchstaben. Daneben in einem Oval, wiederum in Großbuchstaben, die Aufschrift: IKEA. Bereits vor einem Jahr hatte ich mir dort einen Tisch gekauft, ihn aber nie aufgebaut. Ich wusste nicht, wo ich das in meine Work-Life-Balance einbauen sollte. Teil meiner Arbeit war das nicht, aber in meiner Freizeit wollte ich auch keine Möbel zusammenschrauben. So lag der Tisch immer noch originalverpackt da.
      In meiner Freizeit schlief ich normalerweise, ging ins Fitness­studio oder Essen einkaufen. Am ersten und dritten Sonnabend jeden Monats wurde meine Wäsche abgeholt und die saubere geliefert, am zweiten und vierten Wochenende telefonierte ich mit meiner Mutter. Ansonsten spielte ich Schach. Früher im Verein, in Bochum, Jugendbundesliga sogar. Jetzt über ChessBase, von meinem Sofa aus, den Computer auf dem Schoß.
      Ich holte ein Küchenmesser. Dies war der perfekte Moment- wann war ich sonst um diese Zeit zu Hause, in diesem Vakuum zwischen Work und Life? Ich durchstach das Klebeband und riss die Kartons auf. Premmö. IKEA schien die Punkte auf dem ö auch in den USA für nötig zu halten. Ich breitete alles vor mir aus, die Metallfüße, die Bretter, die Klemmen, die zwei Sechskantschlüssel, stellte alle Schrauben senkrecht hin, die größten links, die kleinsten rechts. Las die Aufbauanleitung von vorn bis hinten durch, legte sie weg und begann. Eine Stunde später war Premmö fertig. Stand da wie ein Fremdkörper - kein Wunder, es war ja auch ein Schreibtisch, mitten in meinem Wohnzimmer.
      Ich holte einen Klappstuhl aus der Küche und setzte mich. Loggte mich bei Facebook ein, dem Internet-Netzwerk, wo man Kontakte zu alten Freunden halten konnte. Oder neue finden. Hatte beides nicht funktioniert. Meine Tage glichen sich so sehr, dass ich nie wusste, was ich in mein Profil schreiben sollte: Jetzt arbeite ich/jetzt bin ich zu Hause/jetzt gehe ich ins Bett?
      Ich hatte 93 Facebook-Freunde. Die, die ich davon persönlich kannte, hatte ich zum größten Teil seit Jahren nicht mehr ge­sehen. Kannte sie aus der Schule, vom Studium und vom Schach. Heute war in meinem Schachclub Spielabend. Auf der Facebook-Pinnwand des Clubs trudelten die Meldungen ein, wer ­alles kam. Alle kamen. Wie jede Woche. Dort könnte ich jetzt auch sein. Bier trinken. Erdnussflips essen. Blitzschach spielen. In meinem ersten Jahr hatten mich sogar zwei Freunde in Chicago besucht, Oliver und Max. Doch irgendwann war der Kontakt über eine solche Entfernung abgebrochen, das war ganz nor­mal, und um neue Freunde kennenzulernen, fehlte mir die Zeit.
      Nur vier meiner Kollegen von Rutherford & Gold hatten mich als Freund gespeichert. Der Einzige, der online war, war Jeff, unser schüchterner Trainee.
      Jeff, Lust, heute Abend ein paar Biere zu kippen?, schrieb ich. Las es noch mal durch. Ersetzte kippen durch trinken und schickte die Nachricht ab. Wartete eine halbe Stunde. Keine Antwort. Dann loggte ich mich auf ChessBase ein. Die Startseite mit der Weltkarte erschien, rote Punkte zeigten, wo in aller Welt die Nutzer saßen. In Nordamerika gab es einigevPunkte an Ost- und Westküste, aber nur einen im Landesinneren. Chicago. Ich.
      Bald fand ich einen Gegner, der relativ stark spielte. Kurz nachdem es dunkel war, stand ich auf Gewinn. Ich ging auf den Balkon. Zählte, wie lange ich es dort aushielt, ohne zu zittern, barfuß und im T-Shirt. Normalerweise schaffte ich fünfzig Sekun­den, manchmal siebzig. Vorhin hatten sie gesagt null Grad Fahrenheit. Minus 18 Grad Celsius. Ich rechnete das immer noch um. Neunundsechzig, siebzig, einundsiebzig, zweiundsiebzig. Ein Windzug ließ die Balkontür gegen den gummierten Rahmen schlagen, ein Mal. Ich fuhr herum. Eigentlich konnte es nicht sein, aber was, wenn durch den Aufprall der Schließmechanismus ausgelöst worden war und ich mich ausgesperrt hatte? Würden die Nachbarn mich hören, hinter ihren schallisolierten Fenstern? Oder auf der Straße? Niemals, bei dem Verkehr. Dies war der 38. Stock. Mit zwei Fingern drückte ich leicht gegen die Tür. Nichts. Ich wünschte, ich hätte meinen BlackBerry dabei. Nun zitterte ich. Hier war nichts, womit ich das Fensterglas hätte einschlagen können. Nur zwei Plastikstühle, mit gefro­renem Wasser in den Rillen der Sitzfläche. Und überhaupt, wen hätte ich anrufen können? Mir wäre nur der Notruf geblieben. Niemand würde mich vermissen. Außer auf der Arbeit.
      Ich legte die flache Hand an die Balkontür, drückte mit meinem
ganzen Gewicht dagegen. Sie öffnete sich.
      Ich spielte nicht zu Ende. Klappte zum ersten Mal mitten in einer Partie den Laptop zu. Stellte den Wecker. Ich hatte beschlossen, morgen früh zur Arbeit zu gehen, als ob nichts wäre. Ich wollte es erleben. Wissen, was sie sich ausgedacht hatten, um mich zu feuern.

Teil 3

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