Vorgeblättert

Leseprobe zu Kenzaburo Oe: Licht scheint auf mein Dach. Teil 2

17.11.2014.
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Letztes Jahr haben meine Frau und ich auf eigene Kosten eine CD mit einigen von Hikari komponierten Klavierstücken herausgebracht. Ich habe für das Begleitheft einen Text verfasst, aus dem ich hier zitieren möchte, denn darin wird deutlich, was Behinderung und Musik für unseren Sohn bedeuten.
     "Hikari wurde mit einer Missbildung am Kopf geboren. Er wurde operiert, und eigentlich kam er erst durch diese Operation zur Welt. Als Dr. Moriyasu, dem wir viel zu verdanken haben, starb, komponierte Hikari das Stück Requiem für M. Wir waren erschüttert, denn die Musik ist erfüllt von einer klaren, luziden Trauer. Ich habe das Gefühl, durch Hikaris Musik tief in sein Herz zu gelangen.
     Der Erinnerung meiner Frau zufolge hat Hikari trotz seiner immer eindeutiger werdenden geistigen Behinderung schon als Baby sensibel auf Musik reagiert. Mit drei Jahren sagte er, wenn er Stücke von Beethoven hörte, 'Beebee', und bei Chopin sagte er 'Unpa'. Für sie, die junge Mutter eines behinderten Kindes, war es sicherlich eine große Ermutigung, wenn sie neben seinem Kinderbettchen lag und mit ihm Musik hörte.
     Vielleicht wirkt meine Art, darüber zu schreiben, distanziert, aber ich habe mich als junger Vater viel mit Hikari beschäftigt. Da er sich für Vogelstimmen interessierte, spielte ich ihm voller Enthusiasmus ein Tonband mit Vogelstimmen vor. Als er fünf Jahre alt war, verbrachten wir den Sommer in unserem Häuschen in den Bergen, und plötzlich sagte Hikari, als er einen Vogel hörte, im Tonfall des Sprechers auf dem Tonband ganz ruhig: 'Das ist eine Wasserralle.' Zum ersten Mal kommunizierte er mit Worten, die eine Bedeutung hatten.
     Als er dann in die Sonderklasse der Grundschule und später in die Mittelstufe der Sonderschule kam, ließ Hikaris Interesse für Vogelstimmen nach. Die Musik rückte in den Vordergrund. Neben den obengenannten Komponisten waren es Mozart und Bach, die er tagaus, tagein hörte.
     Schließlich begann er selbst zu komponieren. Er hatte Klavierunterricht bei Kumiko Tamura, und da sich die Behinderung auch auf die Motorik auswirkte, hielt sich Frau Tamura nicht allzu lang mit Fingerübungen auf. Sie dachte sich verschiedene Methoden aus, um Hikari dazu anzuleiten, auf Akkorden aufbauend, Melodien zu komponieren. Merkwürdig berührt betrachteten meine Frau und ich eines Tages Hikaris erstes Stück, das aus langen, dünnen Noten bestand, die wie Sojasprossen aussahen.
     Manchmal lauschte ich, ein Buch in der Hand, aus einiger Entfernung dem Unterricht von Frau Tamura und spürte, wie durch sie Hikaris beste menschliche Anlagen zur Geltung kamen. Er war lebhaft und voller Selbstvertrauen. Irgendwann spielten Musiker, die uns ebenso Mut machten wie Frau Tamura, Hikaris im Laufe der Zeit entstandenen Stücke, und wir staunten über den Reichtum seiner inneren Welt.
     Es gab etwas, was Hikari ohne die Musik niemals zum Ausdruck hätte bringen und was ich und meine Frau und auch seine Geschwister ohne diese Musik niemals hätten begreifen können. Ich glaube nicht an einen Gott, aber in der Musik empfinde ich unweigerlich Gnade - grace. Das Wort beinhaltet für mich sowohl Anstand und Grazie als auch eine Art Dankgebet, und mit diesem Gefühl lausche ich Hikaris Musik und dem, was hinter ihr steht und unser irdisches Leben übersteigt."
     Bei jedem der sechzehn Klavierstücke kommen mir Szenen aus unserem Leben mit Hikari und der Familie in den Sinn. Ich habe das Gefühl, als seien meine Frau und ich - besonders meine Frau - seit der Geburt unseres Sohnes fast ununterbrochen gelaufen und als seien wir nur hin und wieder, bei wichtigen Einschnitten, zur Ruhe gekommen. Mit Staunen stelle ich fest, dass unser geistig behinderter Sohn jedem dieser Einschnitte mit einer Komposition Ausdruck verliehen hat.
     Aber nicht alle Stücke markieren Einschnitte zu bestimmten Anlässen wie das Stück Schulabschluss, in dem Hikari den Abschluss der Sonderklasse seiner Grundschule thematisiert hat, oder der Bluebird March, den er für die Feier zur Aufnahme in den Oberschulbereich der städtischen Bluebird-Sonderschule komponierte.
     Da gibt es zum Beispiel das Stück Sommer in Kitakaru. Wenn ich mir das Band anhöre, das ein befreundeter Pianist für uns aufgenommen hat, fühle ich mich räumlich und zeitlich sofort in die Sommer zurückversetzt, die wir in unserem Haus in den Bergen von Kitakaruizawa verbracht haben. Und wenn ich das Skizzenbuch betrachte, in dem meine Frau neben den dortigen Pflanzen auch unsere Kinder festgehalten hat, treten mir die Szenen jener Sommer in leuchtenden Farben vor Augen.
     Unser jüngster Sohn, der gerade begonnen hat, Naturwissenschaften zu studieren, erzählte mir kürzlich von einem Aufsatz mit dem Titel 'Marathon', den er in seinem ersten Grundschuljahr geschrieben hatte. In jenem Sommer nämlich - Hikari war gerade in die Mittelschule gewechselt, und unsere Tochter muss in der dritten oder vierten Klasse der Grundschule gewesen sein - liefen die drei jeden Morgen einen 'Marathon' von unserem auf einer bewaldeten Anhöhe gelegenen Sommerhaus hinunter zu dem kleinen Bach, der neben dem Tennisplatz entspringt.
     Meiner Tochter - es fällt mir schwer, die jetzt so verzagte Uni-Absolventin mit dem Kind von damals zusammenzubringen, das so ausgelassen lachen konnte - genügte es völlig, ihrem großen Bruder hinterherzulaufen, es kümmerte sie nicht, wer schneller war. Unser jüngster Sohn aber wollte seinen Bruder übertrumpfen und legte sich beim Endspurt ins Zeug, um als Erster den Garten zu erreichen, in dem seine Mutter damit beschäftigt war, Goldbaldrian und Prachtglocken umzusetzen. Doch immer gewann Hikari den 'Marathon'.
     Wenn ich jetzt daran zurückdenke, war Hikari in jenem Sommer im Vollbesitz seiner physischen Kräfte. Später bekam er epileptische Anfälle und nahm stark an Gewicht zu, so dass er nicht mehr mit seinen jüngeren Geschwistern herumrennen konnte, auch nicht in Kitakaruizawa. Was die Freude am Rennen betrifft, war für Hikari die Zeit zwischen dem zehnten und zwölften oder dreizehnten Lebensjahr der Höhepunkt in seinem Leben.
     Auch für meine Frau, die mit ihrem Skizzenbuch bei den Blumen stand und darauf wartete, dass die Kinder von ihrem Marathon zurückkehrten, und für mich, der nebenan auf der Terrasse in einem Stuhl saß und las, gehört jener Sommer längst der Vergangenheit an. Hikari wird immer mehr von seiner Behinderung eingeholt, und meine Frau und ich nähern uns, dem Zeitenlauf gemäß, dem Herbst und Winter unseres Daseins. Die Lebenskraft nimmt stetig ab, und auch wir werden das Ende unseres Lebens als "bemitleidenswerter Herr oder bemitleidenswerte Dame" erdulden müssen.
     Wenn es meiner Schwiegermutter körperlich und geistig bessergeht, kommt sie ins Wohnzimmer und informiert Hikari mit der sanften Würde, mit der man sonst kleine Kinder beschwichtigt, über die Klassikprogramme im Fernsehen. Hikari antwortet ihr dann gehorsam wie ein Kleinkind. An jenem Abend aber erschien sie alle paar Minuten im Wohnzimmer und forderte uns auf, Wasser in alle möglichen Gefäße zu füllen. Während meine Frau endlos mit ihr diskutierte, saß Hikari mit gesenktem Blick in einer Ecke des Zimmers. Kommt ihm in solch einem Moment ein Ausdruck wie "bemitleidenswerte Dame" in den Sinn?
     Doch wenn ihn seine Großmutter am nächsten Morgen mit der Würde ihres Alters zärtlich begrüßt, grüßt er höflich zurück.

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