Vorgeblättert

Leseprobe zu Kamel Daoud: Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung. Teil 1

04.02.2016.
V

(...)

Fassen wir zusammen. Man muss immer zusammenfassen und zu den Anfängen zurückkehren. Ein Franzose tötet einen am einsamen Strand liegenden Araber. Es ist 14 Uhr, und es ist der Sommer 1942. Fünf Schüsse, gefolgt von einem Prozess. Der Mörder wird dafür zum Tode verurteilt, dass er seine Mutter beerdigt hat, und zwar mit zu großer Gleichgültigkeit. Rein technisch sind die Sonne und schierer Müßiggang schuld an dem Mord. Auf Verlangen eines Zuhälters namens Raymond, der auf eine Nutte sauer ist, schreibt dein Held einen Drohbrief, die Geschichte eskaliert und löst sich dann scheinbar in einem Mord auf. Der Araber wird getötet, weil der Mörder glaubt, dieser würde die Prostituierte rächen wollen, oder auch nur, weil er es unverschämterweise gewagt hat, einen Mittagsschlaf zu halten. Das bringt dich aus der Fassung, was? Dass ich so dein Buch zusammenfasse? Und doch ist es die reine Wahrheit. Alles andere ist dank des Genies deines Schriftstellers nichts als Geschnörkel. Danach kümmern der Araber, seine Familie und sein Volk niemanden mehr. Als er aus dem Gefängnis kommt, schreibt der Mörder ein Buch, das berühmt wird und in dem er erzählt, wie er seinem Gott, einem Priester und dem Absurden die Stirn geboten hat. Du kannst diese Geschichte drehen und wenden, wie du willst, sie ergibt keinen Sinn. Es ist die Geschichte eines Verbrechens, aber der Araber wird darin nicht einmal richtig getötet - er wird es nur gerade so, mit einem Finger breit. Er ist immerhin die zweite Hauptperson, aber er hat weder einen Finger, noch ein Gesicht, und auch nichts zu sagen. Verstehst du das, du, als Wissenschaftler? Diese Geschichte ist absurd, eine sehr leicht durchschaubare Lüge. Trink noch ein Glas, ich gebe dir einen aus. Das ist keine Welt, sondern das Ende einer Welt, wovon dein Meursault in diesem Buch erzählt. Besitztum nutzt hier nichts, die Ehe ist so gut wie unnötig, die Hochzeitsfeier nur lauwarm, der Geschmack schal und die Leute sitzen bereits auf ihren Koffern, leer, ohne Konsistenz, festgeklammert an kranke und muffige Hunde und unfähig, mehr als zwei Sätze zu formulieren und mehr als vier aufeinanderfolgende Worte zu sprechen. Wie Automaten! Ja, das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Ich erinnere mich an diese kleine Frau, eine Französin, die der Mörder-Schriftsteller so gut beschreibt und eines Tages in einem Restaurant beobachtet. Ruckartige Gesten, glänzende Augen, kleine Macken, die Angst vor der Rechnung, Gesten wie eine Maschine. Ich erinnere mich auch an die Standuhr mitten in Hadjout und ich glaube, dass dieses Pendel und die Französin Zwillinge sind. Das Gerät scheint mir einige Jahre vor der Unabhängigkeit kaputtgegangen zu sein.
Das Mysterium ist für mich immer unergründlicher geworden. Sieh mal, ich trage auch eine Mutter und einen Mord mit mir herum. Das ist Schicksal. Nach den Gesetzen dieses Landes habe auch ich eines Tages getötet, als ich nichts Besseres zu tun hatte. Ahh! Ich hatte mir so oft schon geschworen, nichts mehr mit dieser Geschichte zu tun haben zu wollen, aber jede meiner Bewegungen ist wie von ihr inszeniert und eine unaufgeforderte Vorladung. Ich habe nur auf einen Neugierigen wie dich gewartet, um sie endlich zu erzählen.
In meinem Kopf ist die Weltkarte dreieckig. Oben, Bab-El-Oued, das ist Moussas Geburtshaus. Unten, entlang der Bucht von Algier, ist jener Ort ohne jede Adresse, wo der Mörder nie auf die Welt gekommen ist. Und dann, noch tiefer, gibt es den Strand. Ja natürlich, der Strand! Es gibt ihn heute nicht mehr oder er hat sich langsam woandershin verlagert. Den Zeugen zufolge konnte man früher die kleine Holzhütte an seinem äußeren Ende noch sehen. Das Haus war hinten gegen Felsen gebaut, und die Pfähle, die es an der Vorderseite stützten, standen schon im Wasser. Die Banalität dieses Ortes hat mich überrascht, als ich mit M'ma im ersten Herbst nach dem Verbrechen dort hinunterging. Die Szene habe ich dir schon erzählt, ich und M'ma am Ufer des Meeres, ich aufgefordert, mich fernzuhalten, und sie den Wellen einen Fluch entgegenschreiend. Dieses Bild habe ich jedes Mal vor Augen, wenn ich mich dem Meer nähere. Erst ein wenig Schaudern, Herzklopfen und dann plötzlich Enttäuschung. Als ob dieser Ort einfach zu winzig gewesen wäre! Als ob man krampfhaft versucht hätte, die Ilias auf einem Stückchen Gehsteig unterzubringen, zwischen Lebensmittelladen und Frisör. Ja, der Ort des Verbrechens war in Wirklichkeit furchtbar enttäuschend. Für mich nimmt die Geschichte meines Bruders Moussa die ganze Welt ein! Seitdem kultiviere ich übrigens eine verrückte These: Moussa wurde gar nicht an diesem berühmten Strand von Algier getötet! Es muss noch einen anderen, versteckten Ort geben, den man übergangen hat. Das würde auf einmal alles erklären! Warum wurde der Mörder nach seiner Verurteilung zum Tode und selbst nach seiner Hinrichtung wieder freigelassen, warum wurde mein Bruder niemals gefunden und warum hat das Gericht es vorgezogen, mehr über einen Mann zu urteilen, der den Tod seiner Mutter nicht beweint, als über einen Mann, der einen Araber getötet hat?
Ich habe manchmal davon geträumt, exakt zur Zeit des Verbrechens, den Strand abzusuchen. Nämlich im Sommer, wenn die Sonne der Erde so nahe ist, dass sie einen verrückt machen oder zum Äußersten treiben kann, aber das hat nichts genützt. Auch das Meer ist mir unbehaglich. Ich habe wirklich Angst vor den Fluten. Ich will nicht schwimmen, das Wasser könnte mich leicht verschlingen. "Malou khouya, malou majache. El b'har eddah âliya rah ou ma wellache." Ich liebe dieses alte Lied von hier. Darin singt ein Mann, wie sein Bruder von den Meeresfluten davongetragen wird. Ich habe Bilder davon im Kopf und ich glaube, ich habe etwas zu schnell getrunken. Es stimmt aber, ich habe es schon gemacht. Sechs Mal … ja, ich bin schon sechs Mal dort an den Strand gegangen. Aber ich habe nie etwas gefunden, weder Patronenhülsen noch Fußspuren, weder Zeugen noch getrocknetes Blut an den Felsen. Nichts, jahrelang. Bis zu jenem Freitag - es war vor etwa zehn Jahren. Bis zu dem Tag, an dem ich ihn gesehen habe. Auf einem Felsen, einige Meter von den Fluten entfernt, sah ich plötzlich eine Silhouette, die sich im toten Winkel mit einem Schatten überlagerte. Ich ging lange am Strand entlang und wünschte mir, vor lauter Sonne zu Boden zu gehen, von der Sonneneinstrahlung oder der Schwäche dahingerafft zu werden und in etwa das zu erleben, wovon dein Autor erzählt. Ich war auch ziemlich betrunken, das muss ich dir gestehen. Die Sonne war erdrückend wie eine himmlische Anklage. Sie zersplitterte auf dem Sand und dem Meer in feine Nadeln, ohne je zu ermüden. Es gab einen Moment, an dem ich zu wissen glaubte, wo es mit mir hinging, aber das war bestimmt falsch. Und da nahm ich am Ende des Strandes eine kleine Quelle wahr, die dem Sand hinter dem Fels entsprang. Ich sah einen Mann im Blaumann, elegant dahingestreckt. Ich betrachtete ihn voller Angst und Faszination, er schien mich kaum zu bemerken. Einer von uns beiden war ein eindringliches Schreckgespenst und sein Schatten war von einer tiefen Schwärze und besaß die Kühle einer Türschwelle. Dann schien die Szenerie auf einmal in einen grotesken Wahnsinn zu kippen. Wenn ich die Hand hob, machte es der Schatten auch. Und wenn ich mich einen Schritt zur Seite bewegte, drehte er sich, um das Standbein zu wechseln. Ich hielt mit klopfendem Herzen inne und mir wurde bewusst, dass mir der Mund offen stand, als wäre ich ein Idiot, und dass ich keine Waffe bei mir hatte. Ich schwitzte dicke Tropfen, und die Augen brannten davon. Weit und breit war niemand und das Meer war stumm. Ich war mir sicher, dass es nur ein Spiegelbild war, aber ich wusste nicht, von wem! Ich stöhnte laut und der Schatten wackelte. Ich wich einen Schritt zurück, der Schatten tat kurioserweise dasselbe. Ich fand mich dann, zitternd vor Kälte, auf dem Rücken wieder, erschlagen von dem schlechten Wein. Ich war etwa zehn Meter rückwärtsgegangen, bevor ich weinend zusammenbrach. Ja, ich kann dir sagen, ich habe Moussa noch Jahre nach seinem Tod beweint. Der Versuch, das Verbrechen an den Orten, an denen es begangen wurde, zu rekonstruieren, führte in eine Sackgasse, zu einem Gespenst, zum Wahn. All das soll dir sagen, dass es nichts nutzt, zum Friedhof zu gehen oder nach Bab- El-Oued oder an den Strand. Du wirst dort nichts finden. Ich hab's schon versucht, mein Freund. Ich habe es dir von Anfang an gesagt, diese Geschichte findet irgendwo im Kopf statt, in meinem, in deinem und in dem Kopf der Leute, die so sind wie du. Und im Jenseits.
Ich sage dir, versuch es nicht mit Geografie. Du wirst meine Version der Dinge besser verstehen, wenn du die Idee akzeptierst, dass diese Geschichte einer Urerzählung gleicht: Kain kam hierher, um Städte und Straßen zu bauen, Leute, Tiere und Wurzeln zu bändigen. Zoudj war der arme Verwandte, dem zugeschrieben wird, dass er faul in der Sonne herumlag, er besaß nichts, nicht einmal eine Schafherde, die Habgier hervorrufen oder zu einem Mord motivieren könnte. Gewissermaßen hat dein Kain meinen Bruder völlig umsonst getötet! Nicht einmal, um ihm sein Vieh zu stehlen.
Wir sollten hier aufhören, du hast genug, um ein ganzes Buch zu schreiben, oder? Die Geschichte vom Bruder des Arabers. Eine andere arabische Geschichte. Du sitzt in der Falle …

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