Vorgeblättert

Leseprobe zu John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Bd.1, Teil 3

04.10.2012.
Am folgenden Tag ging Mill an Bord des Dampfers von Athen nach Ancona und schickte während der Fahrtunterbrechung in Korfu den langen Bericht über seine Reise auf dem Peloponnes an Mrs. Mill in Paris ab, wohin sie sich in Kürze begeben würde, wie er aus Briefen, die in Korfu auf ihn gewartet hatten, erfuhr. Von Ancona aus, wo er am 3. Juni eingetroffen war, begann er am folgenden Tage die Reise nach Paris; er erwartete nicht, sie in viel weniger als drei Wochen zu beenden, da er meinte, "das Risiko, mit der Postkutsche zu reisen, nicht eingehen zu können, i. e. Tag und Nacht für mehr als nur einen Teil der Strecke". Und obwohl er sich gezwungen sieht, schon von Beginn an von der bequemeren Art des Reisens in einer voiture Gebrauch zu machen, erwiesen sich seine Befürchtungen hinsichtlich der Strapazen der Reise nur allzu bald als berechtigt. In Florenz, wo Berichte über Banditen auf der direkt nach Bologna führenden Landstraße ihn veranlassten, einen Umweg zu machen, zeigten ihm erneute Lungenblutungen, wie unbegründet seine Hoffnung gewesen war, von seiner Krankheit genesen zu sein, und nötigten ihn, einen Arzt zu konsultieren. Das und die Abfahrtszeiten der Postkutschen erzwangen eine dreitägige Verzögerung, die er für Besichtigungen nutzte und für einen weiteren langen Brief an Mrs. Mill.

Florenz, 7. Juni: Sie wird in oder nahe Paris nicht sehr lange auf mich warten müssen, & ich werde sie spätestens in vierzehn Tagen wiedersehen. Ich sehe dem mit Entzücken entgegen - aber ach, Liebling, ich hatte kürzlich einen furchtbaren Traum - ich war zu ihr zurückgekommen, & sie war zuerst reizend & liebevoll, wie es ihre Art ist, aber sehr bald äußerte sie eine tiefe Abneigung mir gegenüber und sagte, ich hätte mich sehr zum Schlechten verändert - ich habe manchmal schreckliche Angst, dass sie das denkt, nicht weil ich irgendeinen Grund dafür sähe, sondern weil ich weiß, wie sehr es mir an Selbstbewusstheit & Selbstbeobachtung fehlt & wie oft sie enttäuscht ist, wenn sie mich auch nach einer nur kurzen Abwesenheit wiedersieht - aber sie soll es nicht, sie wird es diesmal nicht sein, denke ich - gepriesen & gesegnet sei mein Liebling, sie war jederzeit ohne Unterbrechung in meinen Gedanken gegenwärtig, & ich habe jederzeit in Gedanken mit ihr geredet, wenn ich es nicht schriftlich getan habe.

Florenz, 8. Juni: [Ich] saß sehr lange in der Tribuna voller Bewunderung - nicht für die Venus de'Medici, denn sie gefällt mir ganz entschieden nicht: Mir haben die Abgüsse von ihr nie gefallen, & mir gefällt das Original keinen Deut besser. Ich halte sie für die schwächste von allen Venus-Statuen. Sie ist weder die irdische Venus noch die Urania. Natürlich ist sie eine wohlgeformte Frau, aber der Kopf ist zu zu lächerlich klein, als sollte er die Vorstellung erwecken, dass kein Platz für den Verstand vorhanden ist - und man kann getrost behaupten, sie sehe nicht unanständig aus, denn ihr Gesichtsausdruck ist gänzlich Alte-Jungfer-Stil. Das sind zumindest ganz entschieden meine Eindrücke, & ich bin sicher, dass sie durchaus spontan sind. Aber es gibt dort eine Heerschar wunderschöner Statuen & Gemälde, obwohl die Statuen nicht ganz an die in den Vatikanischen Museen heranreichen. Es sind genug, um mich eine Kunstatmosphäre empfinden zu lassen - selbst unter all den römischen Kaisern, die ich wie persönliche Bekannte kennengelernt habe. Es gibt auch so viele schöne Statuen und Gemälde überall in Florenz, dass ich bald wieder das Gefühl haben könnte, ganz in Kunst versunken zu sein, das ich in Rom hatte. Es ist seltsam, dass die Florentiner so viele große Maler & Bildhauer hatten - ich nehme an, sie sind wie die Engländer, die mehr große Dichter hatten als jedes andere Land, obwohl sie ein so unpoetisches Volk sind. Ich bin überzeugt, dass die Florentiner ein höchst unkünstlerisches Volk ohne Geschmack sind. Wer anders als ein solches Volk ließe aus allen Kirchen massenhafte Missbildungen werden, die eindeutig ein Schandfleck sind und eine Blamage für die Stadt - wie halberbaute Häuser aus halbgebrannten Ziegeln - Dinge, worin zu leben keine Privatperson ertragen könnte - die einzigen wesentlichen Ausnahmen sind der Dom, der keine Fassade hat, & Santa Maria Novella, die nichts als eine Fassade hat. … Die Stadt selber ist erheblich lebendiger jetzt, wo die Geschäfte geöffnet sind; & manchmal vergesse ich für einen Moment, dass ich nicht in einer französischen Stadt bin. Ich fühle mich mehr in Europa als in jeder anderen italienischen Stadt. Ich glaube, ich könnte mich hier ganz wie zu Hause fühlen, wenn wir hier zu Hause waren - aber Wilson zufolge ist dies ein Ort, der völlig ungeeignet für Lungenkranke ist, im Winter wie auch im Sommer.

Florenz, 9. Juni: Was ich gestern unerledigt ließ, habe ich heute erledigt, & ich habe so ziemlich alles von Florenz selbst gesehen, jedoch nichts in der Umgebung der Stadt. Ich verbrachte den Vormittag größtenteils in der Galerie im Palazzo Pitti. … Es ist eine sehr umfangreiche Sammlung vorwiegend guter Gemälde und vieler chefs d'oeuvre. Am meisten beeindruckten mich zwei Peruginos, die Murray in zehn Spalten mit Anmerkungen nicht einmal erwähnt - der eine ist eine Kreuzabnahme, die ich, schon als ich nur erst einen Druck davon gesehen hatte, für eines der bedeutendsten Bilder hielt, die jemals gemalt wurden - alles Unangenehme an dem Sujet ist verschwunden & nur ein schöner toter Körper & die schönsten Gefühlsausdrücke bei dessen zahlreichen, anmutig gruppierten Betrachtern. Der andere Perugino ist eine Anbetung des Jesuskindes durch die Jungfrau Maria & einige Kinder - eine Bagatelle im Vergleich zu dem anderen, aber sehr bewundernswert durch die Natürlichkeit & natürliche Anmut der Kinder - auch die Jungfrau Maria ist sehr schön. Es hängen dort auch viele ausgezeichnete Bilder von Fra Bartolommeo & Andrea del Sarto, Meister, die ich immer mehr bewundere.

Zwei weitere Tagesreisen in der Postkutsche brachten Mill zum Kopfbahnhof in Mantua und dann mit der Bahn nach Verona und am folgenden Tag nach Mailand, wo er aus einigen neuen Galignanis über die Ereignisse in der Welt erfuhr.

Mailand, 12. Juni: Ich las Lord John Russells ekelhafte Rede über die Unmöglichkeit, irgendetwas für Polen zu tun, & wie äußerst wünschenswert es wäre, Österreich alle seine Besitzungen zu sichern - ich verspürte den dringenden Wunsch, den Schurken zu treten - es ist eine absolute Schande für England, dass er auch nur einen Tag nach einer solchen Rede noch als liberaler (!) Minister geduldet wird. Mit unserer sentimentalen Zuneigung zu einem Despoten & unserem Katzbuckeln gegenüber dem anderen großen Feind erfreuen wir uns sicher eines exzellenten Rufs bei allen Freunden der Freiheit auf dem Kontinent!

Obwohl er weiterhin Blut spuckte und trotz der Warnung, dass die Straße über den Sankt-Gotthard-Pass für Kutschen noch nicht offen sei und der Scheitel des Passes nur mit Schlitten passiert werden könne, wählte Mill diese Route, da er auf ihr wahrscheinlich schneller an seinen Bestimmungsort gelangen würde.

Lugano, 14. Juni: Ich war sehr aufgebracht, als ich feststellte, dass ich meine Botanisiertrommel verloren habe - die sich als äußerst nützlich erwiesen hatte, da sie eine scheinbar unmögliche Menge von Präparaten fasste & sie auch bei heißestem Wetter 24 Stunden lang frisch hielt. Sie muss heruntergefallen sein oder sich in der Postkutsche oder dem Bahnabteil aus meiner großen Manteltasche herausgewunden haben. Ich bin sehr verärgert darüber. Ich habe sonst auf dieser Reise nichts Wichtiges verloren - nichts außer einem Taschentuch, das ich auf dem Pentelikos verlor, & einem alten Hemd, das eine blanchisseuse behalten haben muss - obwohl ich fast nie versäumte, die Sachen zu zählen & sie mit dem Wäschezettel zu vergleichen.

Airolo, 16. Juni: Heute regnete es noch schlimmer als in den Tagen zuvor, aber ich nahm meinen Platz nach Flüelen am Vierwaldstätter See ein & fuhr den Pass hoch bis zu der Stelle, wo die Schlittenfahrt beginnt - & ich bestürzt feststellte, dass die Schlitten, kleine Geräte, die jedes gerade einmal zwei Personen befördern konnten, vollkommen offen waren. Mehrere Reisende waren ebenso überrascht wie ich und sagten, dass die Schlitten am Simplonpass und am Mont Cenis geschlossen seien & sie nicht hierhergekommen wären, wenn sie das gewusst hätten - aber für mich kam es überhaupt nicht in Frage weiterzufahren, da ich gründlich durchnässt worden wäre & danach noch einen Tag in der Postkutsche vor mir hatte, was mich bei meiner gegenwärtigen Verfassung mit einiger Sicherheit umgebracht hätte. Ich hatte keine andere Wahl, so unangenehm das auch war, als meine Reisetasche & mein Gepäck auszuladen & etwa anderthalb Stunden später mit der nächsten Postkutsche den Rückweg nach Airolo anzutreten, um hier zu warten, bis der Regen aufhört, was vielleicht morgen Vormittag geschehen wird oder auch noch lange nicht in diesen Bergen.

Zum Glück war das Wetter am folgenden Tage schön, und Mill erreichte Flüelen ohne allzu große Unannehmlichkeiten, aber müde genug, um das Gefühl zu haben, er müsse den folgenden Vormittag seiner ?wirklichen Ruhepause? widmen, einem fünfstündigen Fußmarsch, bevor er seine Reise mit dem Dampfer nach Luzern fortsetzte. Von dort fuhr er am 19. nach Basel und Straßburg; er erreichte Paris und Mrs. Mill wahrscheinlich drei Tage später.

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Aus: Die Unterwerfung der Frauen
von John Stuart Mill und Helen Taylor
unter Rückgriff auf Gedanken von Harriet Taylor (1869)
Übersetzung von Jenny Hirsch


[…] In früheren Zeiten war die Mehrzahl des männlichen Geschlechtes ebenso gut Sklaven wie das gesamte weibliche Geschlecht. Und es verflossen viele Jahrhunderte, und unter diesen manches Jahrhundert hoher Kultur, ehe ein Denker kühn genug war, das Recht und die absolute Notwendigkeit der einen oder der andern Sklaverei in Frage zu ziehen. Allmählich standen solche Denker auf, welche den allgemeinen Fortschritt der Gesellschaft unterstutzten, und so ist denn in allen Ländern des christlichen Europas (in einem derselben allerdings erst in den letzten Jahren) die Sklaverei des männlichen Geschlechts gänzlich aufgehoben, die des weiblichen Geschlechts nach und nach in eine mildere Form der Abhängigkeit umgewandelt worden. Diese Abhängigkeit, wie sie gegenwärtig existiert, ist jedoch keine ursprüngliche Institution, welche durch Erwägungen der Gerechtigkeit und der sozialen Wohlanständigkeit einen frischen Impuls erhalten hatte - sie ist der immer noch andauernde primitive Zustand der Sklaverei, nur gelindert und gemäßigt durch dieselben Ursachen, welche im Allgemeinen die Sitten gemildert und alle Beziehungen zwischen den Menschen einem größeren Einfluss der Gerechtigkeit und Humanität unterworfen haben. Den Flecken ihrer brutalen Abstammung hat die Abhängigkeit der Frauen dadurch aber noch lange nicht verloren, und es kann deshalb aus dem Umstande, dass sie vorhanden ist, durchaus keine günstige Meinung für ihr Dasein hergeleitet werden. Das Einzige, was man vielleicht zu ihren Gunsten anführen konnte, musste darauf begründet werden, dass sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, während andere Missbrauche, deren Ursprung auf dieselbe abscheuliche Quelle zurückzuführen ist, längst abgeschafft sind, und in der Tat ist es dieser Umstand, welcher dazu dient, oberflächlicheren Zuhörern die Versicherung so unglaublich klingen zu lassen, dass die Ungleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau keine andere Quelle habe als das Faustrecht - das Recht des Stärkeren. Es gibt dem Fortschritt der Zivilisation und der Veredlung des moralischen Gefühls der Menschheit in gewisser Hinsicht ein günstiges Zeugnis, dass die aufgestellte Behauptung den Eindruck des Paradoxen macht. Wir leben jetzt - das heißt, eine oder einige der am weitesten vorgeschrittenen Nationen leben jetzt in einem Zustande, in welchem das Gesetz des Stärkeren als leitender Grundsatz in den weltlichen Angelegenheiten gänzlich verworfen zu sein scheint; niemand bekennt sich mehr offen dazu, und in den meisten Beziehungen zwischen den Menschen ist auch niemandem mehr dessen Anwendung gestattet. Gelingt es jemandem dennoch, das Recht des Stärkeren zur Ausführung zu bringen, so geschieht dies nur unter irgendeinem Vorwande, welcher seiner Handlung den Anschein gibt, als werde durch dieselbe rein allgemeines soziales Interesse gewahrt. Weil dies die augenfällige Lage der Verhältnisse ist, schmeichelt sich das Publikum aber, das Gesetz des Stärkeren habe wirklich aufgehört und könne unmöglich den Grund für die Existenz einer Einrichtung bilden, welche bis auf den heutigen Tag in vollster Kraft besteht. Man denkt, eine unserer gegenwärtigen Institutionen, möge sie begonnen haben, wie sie wolle, konnte sich unmöglich bis zu unserer jetzigen Periode vorgeschrittener Zivilisation erhalten haben, wenn sie nicht gestützt wurde durch ein wohlbegründetes Gefühl ihrer Angemessenheit für die menschliche Natur und ihrer Förderlichkeit für das allgemeine Beste. Die Leute übersehen dabei nur die große Lebensfähigkeit und Dauerhaftigkeit solcher Institutionen, welche der Macht das Recht an die Seite setzen; sie überlegen nicht, wie fest und zähe man an diesen hängt, wie sehr die guten wie die bösen Neigungen derer, welche die Macht in Händen haben, sich vereinigen, um sie festzuhalten; wie langsam schlechte Institutionen zu Fall gebracht werden können, wie sie nur sehr vereinzelt schwinden und zuerst immer die, welche am wenigsten mit den Gewohnheiten des täglichen Lebens verwachsen sind. Man bedenkt nicht, dass diejenigen, welche gesetzliche Macht erlangten, weil sie zuerst physische besaßen, jener sich selten eher entäußert haben, als bis diese physische Macht auf die bis dahin Unterdrückten übergegangen war. Da nun ein solcher Wechsel der physischen Kraft in der Sache der Frauen niemals zu erwarten steht und da sich zu diesem Umstand noch einige andere gesellen, welche den Fall ganz besonders eigentümlich und charakteristisch machen, so ist es wohl als gewiss anzunehmen, dass dieser Zweig des Systems des auf Macht begründeten Rechtes, obwohl er gegen früher in seinen rohesten Zügen sehr und in einem höheren Grade als verschiedene andere gemildert worden ist, doch derjenige sein wird, den wir am allerletzten verschwinden sehen werden. Es war unvermeidlich, dass von allen auf Macht begründeten gesellschaftlichen Beziehungen gerade diese eine Einrichtung alle andern überdauern und durch Generationen, im welchen man Institutionen besitzt, die auf dem Prinzip gleicher Gerechtigkeit begründet sind, eine beinahe einzige Ausnahme von dem allgemeinen Charakter der Zeit, ihren Gesetzen und Sitten bilden musste. Solange diese Einrichtung nicht selbst ihren Ursprung verkündete und solange ihr wahrer Charakter nicht durch Diskussionen an die Öffentlichkeit gebracht worden war, ließ man sich nicht einfallen, in einem wie schneidenden Gegensatze sie zur modernen Zivilisation stehe - in einem ebenso großen Gegensatz, wie die häusliche Sklaverei bei den Griechen zu der Ansicht stand, welche sie von sich als von einem freien Volke hatten. […]

Die Liebe zur Macht und die Liebe zur Freiheit sind in einem ewigen Widerstreit. Wo die wenigste Freiheit ist, da ist die Leidenschaft für die Macht am brennendsten und gewissenlosesten. Der Wunsch, Macht über andere zu besitzen, kann erst dann aufhören, eine demoralisierende Wirkung auf die Menschheit auszuüben, wenn jeder Mensch persönlich imstande sein wird, ihrer entbehren zu können, und das kann nur geschehen, wo die Achtung vor der Freiheit jedes andern in seinen persönlichen Angelegenheiten ein feststehender Grundsatz ist. […]

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Auszug mit freundlicher Genehmigung der Murmann Verlages
(Copyright Murmann Verlag)

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