Vorgeblättert

Leseprobe zu John Gray: Politik der Apokalypse. Teil 1

13.08.2009.
6 POST-APOKALYPSE

[…] das Privileg des Widersinns, dem kein anderes Lebewesen ausgesetzt ist als allein der Mensch. Thomas Hobbes, "Leviathan"

Der Glaube an die Utopie, der in den Jahrhunderten nach der Französischen Revolution so viele Menschen das Leben kostete, ist tot. Wie manche andere Überzeugung wird er wohl in Situationen, die nicht vorauszusehen sind, irgendwann wieder auferstehen, doch in den nächsten Jahrzehnten dürfte er uns wahrscheinlich nicht mehr allzu viel Kummer bereiten. Der Kreislauf, in dem die Weltpolitik immer wieder unter den Einfluss säkularer apokalyptischer Mythen geriet, scheint vorerst durchbrochen. Nun hält, in einer Rückkehr zu alten historischen Mustern, die herkömmliche Religion wieder Einzug ins Zentrum des Weltgeschehens.
     Der Irakkrieg war das erste utopische Experiment des neuen Jahrhunderts und wird vielleicht das einzige bleiben. Die Kontrahenten bedienen sich nach wie vor der säkularen Begriffe der Post-Aufklärung, um das nicht enden wollende Gemetzel im Irak zu beschreiben: Der Westen spricht von der Verteidigung der Menschenrechte, während die Islamisten viele Ideen aufgreifen, die dem radikalen Denken des Westens entstammen. Es handelt sich aber heute nicht mehr um einen Wettbewerb zwischen säkularen Ideologien, sondern um einen Religionskrieg zwischen mehreren Parteien, der mit einem fortdauernden Krieg um Ressourcen verquickt ist.
     Die politischen Ideologien der letzten 200 Jahre waren getragen von einem Mythos der innergeschichtlichen Erlösung, der das fragwürdigste Geschenk des Christentums an die Menschheit ist. Die im Glauben an diesen Mythos gründende Gewalt ist gleichsam ein Geburtsfehler des Abendlands. Die frühchristliche Erwartung einer Endzeit, in der sich das Leben der Menschen von Grund auf erneuern sollte, wurde von den mittelalterlichen Millenaristen weitergetragen und nahm die Gestalt des säkularen Utopismus sowie des Fortschrittsglaubens an. Das Zeitalter der Utopien endete in Falludscha, der Stadt, die von rivalisierenden Fundamentalisten in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Ära des Säkularismus liegt nicht, wie liberale Humanisten glauben, in der Zukunft. Wir müssen uns bewusst machen, dass sie der Vergangenheit angehört.


Nach dem Säkularismus

Was sich als ›Säkularisierung‹ theologischer Begriffe darstellt, wird letzten Endes als eine Angleichung der traditionellen Theologie an das intellektuelle Klima verstanden werden müssen, welches durch die moderne Philosophie, durch die Natur- und die politische Wissenschaft erzeugt wurde. Leo Strauss

Am Beginn der Moderne standen Religionskriege. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Europa im Kampf zwischen Katholiken und Protestanten verwüstet; in einigen Gebieten Deutschlands kam etwa ein Drittel der Bevölkerung ums Leben. Ein Großteil des frühmodernen Denkens ist als Reaktion auf diese Geschehnisse zu verstehen. In den Schriften von Thomas Hobbes und Baruch Spinoza kommt der Notwendigkeit, der Gewaltsamkeit des Glaubens Zügel anzulegen, zentrale Bedeutung zu. Diese Philosophen der Aufklärung haben uns über das Wesen der Konfl ikte in unserer Gegenwart mehr zu sagen als die meisten späteren Autoren.
     Das für uns zentrale Thema bei Hobbes ist ein Naturzustand der Menschheit, in dem es keine staatliche Macht gibt. Im berühmten 13. Kapitel des Leviathan stellt Hobbes fest, dass es im Naturzustand kein "angenehmes Leben" gebe: Es gibt "keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes - das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz." Ohne eine "sie alle im Zaum haltende Macht" leben die Menschen "in einem Krieg eines jeden gegen jeden", in dem jeder des anderen Feind ist. Hobbes hält unerschrocken den Blick darauf gerichtet, wie das menschliche Leben aussieht, wenn eine staatliche Ordnung zusammenbricht. Weit hergeholt sind dagegen seine Vorschläge, wie die Menschheit diesem Zustand entrinnen könne. Hobbes machte sich viele Gedanken darüber, wie der Fanatismus zu zähmen sei, in dem er den Todfeind der Zivilisation erkannte; doch er hasste ihn zu sehr, um sich in ihn hineindenken zu können, und begriff nicht, dass er im Bedürfnis wurzelt, dem Leben Bedeutung zu verleihen. Ihm war zwar bewusst, welche Macht die Leidenschaften haben, doch er glaubte, die Menschheit könne dem Naturzustand mittels der Vernunft entfliehen - nicht unbedingt für immer, aber doch zumindest für eine gewisse Zeit. Er glaubte die Ursachen der Zwietracht zwischen Menschen ergründet zu haben. Wenn ein kluger Herrscher, so stellte er sich vor, seine Schriften in die Hände bekäme, könne er eine neue Regierungsform entwickeln, deren einziges Anliegen die Wahrung des Friedens sein werde. Durch Gehorsam gegenüber einer solchen Regierung könne die Menschheit aus ihrem Naturzustand errettet werden. Man stellt Hobbes im Allgemeinen als Ultrarealisten dar, doch in Wirklichkeit erhoffte er sich von der Politik eine Art Erlösung.
     Das Bild, das Hobbes von den Gefahren der Anarchie zeichnet, ist gerade heute von großer Aussagekraft. Liberale Theoretiker sehen die Hauptgefahr, die der Freiheit des Menschen droht, nach wie vor in einer ungebremsten Macht des Staates. Hobbes wusste es besser: Der schlimmste Feind der Freiheit ist die Anarchie, die ihre größte destruktive Wirkung entfaltet, wenn sie Schauplatz rivalisierender Glaubensüberzeugungen ist. An den durch Bagdad streifenden Todesschwadronen religiöser Gruppen wird deutlich, dass der Fundamentalismus selbst eine Art Anarchie ist, in der jeder Prophet dem von ihm favorisierten Herrschaftssystem eine gottgegebene Autorität bescheinigt. In einer Gesellschaft mit einer gut funktionierenden Regierung wird die Macht des Glaubens in Schranken gehalten. Staat und Kirchen wirken mäßigend auf Gruppen ein, die sich im Besitz offenbarter Wahrheiten glauben, und drängen auf einen friedfertigen Umgang miteinander. Wo dies nicht gelingen kann, ist eine Diktatur immer noch besser als die Herrschaft kriegsbereiter Propheten. Von Hobbes können wir über unsere heutige Realität mehr lernen als von späteren liberalen Theoretikern. Sein Menschenbild war allerdings zu einfach und zu verstandeszentriert. Da er davon ausging, dass Menschen einen gewaltsamen Tod mehr fürchten als alles andere, übersah er die am schwersten auszuräumenden Ursachen von Konflikten. Wenn Menschen außerstande sind, den Frieden zu wahren, liegt das nicht immer daran, dass sie irrational handeln, sondern manchmal auch daran, dass sie den Frieden gar nicht wollen. Viel wichtiger ist ihnen vielleicht, dass der einzig wahre Glaube den Sieg davonträgt, sei er nun eine traditionelle Religion, ein säkulares Ideal wie der Kommunismus, die Demokratie oder die Geltung der Menschenrechte. Oder sie finden ihre Bestimmung nicht im Frieden, sondern im Krieg, so wie die jungen Menschen, die in den 1970-er Jahren in linksextremistischen Terrorgruppen kämpften oder sich heute islamistischen Netzwerken anschließen. Nichts ist menschlicher als die Bereitschaft, zu töten und zu sterben, um dem Leben einen Sinn zu verleihen.
     Eine tiefgründige Analyse der Pathologie des Glaubens finden wir bei Baruch Spinoza. Er war sich ebenso wie Hobbes der destruktiven Wirkungen bewusst, die von der Religion ausgehen können, und beharrte darauf, dass sich die Freiheit der Religionsausübung den Erfordernissen des Friedens unterzuordnen hat. Von der Rolle, die die Religion im Leben des Menschen spielt, hatte er aber eine klarere Vorstellung als Hobbes. Eine religiöse Lehre ist nicht, wie ihre Anhänger oft glauben, buchstäblich wahr. Sie bietet Mythen an, in denen in symbolischer oder gleichnishafter Form Wahrheiten verdichtet sind, die ansonsten möglicherweise keine Beachtung fänden. Die allermeisten Menschen werden nie imstande sein, ohne solche Mythen auszukommen. Das griechische Wort mythos bedeutet Erzählung. Die wichtigsten Mythen des Abendlands sind Erzählungen über die Geschichte der Menschheit, die von Verfehlung und Erlösung handeln. Spinoza ist einer der wenigen westlichen Denker, die jede Vorstellung von einer Erlösung als einem realen historischen Geschehen verwerfen. Hobbes jedoch stellte, obwohl er vermutlich die meiste Zeit seines Lebens Atheist war, die christliche Überzeugung, dass der Mensch seinen naturgegebenen Zustand zu transzendieren vermag, nie in Frage. In dieser Überzeugung gründet sein Glaube an den Nutzen staatlicher Macht. Dagegen war sich Spinoza, obwohl er einer mystischen Variante des Rationalismus zuneigte, im Klaren darüber, dass der Mensch Teil der Natur ist, und nahm deshalb nie an, dass die Erlösung vom Staat kommen kann. Der Zustand der Anarchie konnte nach seiner Auffassung dadurch überwunden werden, dass sich Muster der gesellschaftlichen Kooperation weiterentwickelten und sich zu zivilen Institutionen verfestigten; die daraus hervorgehende Gesellschaftsordnung würde aber unweigerlich irgendwann zusammenbrechen und wäre dann auch nicht durch irgendeinen Gesellschaftsvertrag wiederherzustellen. Spinoza vertrat eine neostoische Vorstellung von der Erlösung - ihr zufolge sind nur einige wenige Menschen in der Lage, ihren Platz in der kosmischen Ordnung zu erfassen und zu akzeptieren -, die aber nichts mit Politik zu tun hatte. Eine staatliche Ordnung kann, auch wenn sie der Anarchie entschieden vorzuziehen ist, den Übeln der menschlichen Existenz und dem Leid der menschlichen Existenz nicht abhelfen. Der Staat ist stets nur eine der Kräfte, die auf das menschliche Verhalten einwirken; seine Macht ist nie absolut. Heute gelingt es fundamentalistischen Religionen, dem organisierten Verbrechen, ethnisch-nationalen Bündnissen oder den Kräften des Markes immer wieder, sich der Kontrolle durch die Regierung zu entziehen; manchmal sind sie auch in der Lage, eine Regierung zu Fall zu bringen oder die Macht an sich zu reißen. Staaten sind wie jede andere gesellschaftliche Institution den Wechselfällen der Geschichte ausgesetzt und gehen früher oder später alle unter. Wie Spinoza erkannte, besteht kein Grund zu der Annahme, dass der Kreislauf von Ordnung und Chaos jemals ein Ende finden wird.
     Viele säkulare Denker empfinden dieses Geschichtsbild als zu pessimistisch und machen sich irgendeine Spielart des christlichen Mythos zu eigen, der die Menschheitsgeschichte als eine Erlösungsgeschichte erzählt. Die gängigsten säkularen Mythen dieser Art sind die Fortschrittstheorien, laut denen die Menschheit durch fortwährenden Wissenszuwachs fähig ist, ihre Lebensverhältnisse immer weiter zu verbessern. In Wirklichkeit aber kann die Menschheit weder Fortschritte noch Rückschritte machen, denn "die Menschheit" als ein handelndes kollektives Subjekt mit Absichten und Zielen gibt es nicht. Es existieren nur kurzlebige, sich an ihren Lebensumständen abmühende Einzelwesen, deren jedes von seinen Leidenschaften und Illusionen getrieben ist. Daran kann auch der Zuwachs an wissenschaftlicher Erkenntnis nichts ändern. Wer an den Fortschritt glaubt - ob nun als Sozialdemokrat, Neokonservativer, Marxist, Anarchist oder technokratischer Positivist -, der betrachtet Ethik und Politik aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive und erwartet, dass auch auf diesen Feldern die Entwicklung immer weiter voranschreitet und jeder Schritt die Möglichkeit zu weiteren Verbesserungen eröffnet. Er sieht die gesellschaftliche Entwicklung als einen kumulativen, offenen Prozess, in dem ein Übel oder Hindernis nach dem anderen aus dem Weg geräumt wird. Im wirklichen Leben geht es aber nicht in dieser Weise kumulativ zu: Erreichtes kann stets auch wieder verlorengehen, und zwar manchmal - wie etwa bei der Rückkehr der Folter als einer von Staat und Militär akzeptierten Verfahrensweise - im Handumdrehen. Das Wissen der Menschheit scheint mit der Zeit zwar tatsächlich anzuwachsen, doch das bedeutet nicht, dass wir dadurch zivilisierter würden. Wir bleiben anfällig für jegliche Form der Barbarei; der Wissenszuwachs ermöglicht zwar eine Verbesserung unserer materiellen Lebensbedingungen, steigert aber auch die Grausamkeit, mit der wir unsere Konflikte austragen.
     Die politischen Religionen des 20. Jahrhunderts griffen auf christliche Vorstellungen zurück. Nicht anders verhält es sich mit dem heutigen säkularen Humanismus. Darwinisten wie Richard Dawkins und Daniel Dennett üben zwar vehemente Kritik am Christentum, doch ihr Atheismus und ihr Humanismus gründen letztlich in christlichen Ideen. Dawkins vertritt als Verteidiger des Darwinismus die Auffassung, dass Menschen ebenso wie andere Tierarten "Genmaschinen" sind, die den Gesetzen der natürlichen Auslese unterliegen. Dennoch behauptet er, dass wir Menschen als einzige Spezies diesen Gesetzen der Natur zu trotzen vermögen: "Als einzige Lebewesen auf der Erde können wir uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen." Wenn Dawkins in dieser Weise die Einzigartigkeit des Menschen hervorhebt, greift er auf die christliche Weltsicht zurück. Dasselbe gilt für Dennett, der sich lange an der Frage abgemüht hat, wie der wissenschaftliche Materialismus mit der Idee des freien Willens zu vereinbaren ist - was jemandem, der nicht aus einer christlich geprägten Kultur stammt, wohl kaum ein Anliegen wäre.

Teil 2