Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Teil 2

23.11.2009.
(S. 617 ff)
Zweiter Teil: Sprache, Philosophie und Magie

Erstes Kapitel
Die Sprache der Dichter und der Propheten


1. Die Theologie als Fundament des Ursprungs der Sprache

Über einige Etappen der Ausarbeitung der Sprachphilosophie bei Benjamin: Heterogenität der Quellen und Permanenz einer Fragestellung

Erkenntnistheorie, Theorie der Literaturkritik und Geschichtsphilosophie sind von der Sprache, die derenWahrheit aussagt, nicht zu trennen. Es gibt kaum Schriften Benjamins, in denen sie nicht miteinander verschränkt wären. Die Reflexion über den Namen, die Mimesis, die Übersetzung, das Bild, die Allegorie oder den Mythos bestimmt sein Verständnis des Kunstwerks wie das der Geschichte. Noch in den Passagen und überall dort, wo er sich ausdrücklich auf die Kategorien des Materialismus beruft, bildet die Auseinandersetzung mit der Sprache das Herzstück der meisten seiner Analysen. Beginnend mit dem Essay von 1916 über die Sprache, dann in seinen Studien zu Gedichten Hölderlins, seinen Baudelaire-Übersetzungen, seiner Dissertation über die romantische Kunstkritik, seinen Analysen zur Emblematik des Trauerspiels, in der Wesensbestimmung des Barockdramas, die dessen Vor- und Nachgeschichte umfaßt, in seinem Essay über Karl Kraus bis hin zu der Skizze über das mimetische Vermögen - stets bildet die Sprache ein vorrangiges Untersuchungsfeld. Von ihren Strukturen, ihren Figuren aus entwickelte er die wesentlichen philosophischen Kategorien seines Werkes. Unterirdische Korrespondenzen verbinden in jedem Augenblick die verschiedenen Ebenen seiner Reflexion. Die in dem Essay von 1916 dargelegte adamitische Namengebung inspiriert seine Theorie der Übersetzung. Mit dem Thema der Traurigkeit der Natur bildet sie das Hauptstück der Trauerspiel-Studie. Deren Abschluß, die Theorie der Allegorie, lenkt seinen Zugang zu Baudelaire und dessen "Barock der Alltäglichkeit".(1) Das mimetische Vermögen, in dem Essay von 1916 bereits gegenwärtig, wirft Licht auf manche Entwicklungen der Passagen wie auf die Fragmente der Berliner Kindheit.

Im Laufe der Zeit wurde die Sprachkonzeption, die Benjamin seit seiner Jugend ausarbeitete, immer komplexer. Zu der jüdischen Inspiration kamen Einflüsse der Romantik, des Barock und des Materials aus zahllosen Lektüren hinzu. Der Heterogenität der Quellen widerspricht die Permanenz der Fragestellungen keineswegs. Was heißt benennen? Was ist der Ursprung des Namens? Was enthüllt er vomWesen der Sache? Wie ist die Gültigkeit dieser Namengebung zu gewährleisten, damit sie Trägerin von Wahrheit wird? Die namengebende Rede, das magische oder demiurgische Wort - des ersten Anfangs oder der rettenden Kritik - ist beständig vom Unwahren bedroht, von der falschen Versöhnung des Mythos. Die Vertreibung aus dem Paradies, die der adamitischen Namengebung ein Ende setzt und zum Sturz in die Geschichte führt, ist zunächst der Sturz in die Arbitrarität der Zeichen. Während die Menschen an ihrem Turm zu Babel bauen, wartet die tote, erstarrte und stumme Natur auf ihre Erlösung. Die Treue Benjamins zu dieser theologischen Sicht, die von seinem Bekenntnis zum Materialismus keineswegs dementiert wird, bleibt in seiner Analyse des mimetischen Vermögens oder in seinem Essay über die Sprachsoziologie gegenwärtig. Diese Faszination, die die Macht auf ihn ausübt, die Dinge zu benennen und ihr Wesen zu enthüllen, grenzt manchmal an ein kindliches Staunen, das Adorno kritisieren wird und das ihn dazu bringt, die Vermittlungen geringzuachten, aber auch alle Kommunikationsfunktion der Sprache zu unterschätzen. Dennoch liegt die Tiefe der Benjaminschen Sprachphilosophie eben in dieser Einseitigkeit.

Sein frühes Interesse an Sprachphilosophie wird von seinem Briefwechsel und von den Erinnerungen Scholems bestätigt. Schon 1910 las er den Essay Die Sprache(2 )von Fritz Mauthner (1849-1923). Dieser heute [fast] vergessene Autor beeinflußte zahlreiche Intellektuelle seiner Generation, unter anderem Gustav Landauer.(3) Benjamin interessierte sich für die Schriften von Ludwig Klages, der eine nicht zu vernachlässigende Rolle in seiner Konzeption des Mythos spielte, bevor er Bachofen entdeckte. Seine ersten Übersetzungen von Gedichten Baudelaires entstanden vor dem Ersten Weltkrieg in Reaktion auf Stefan Georges Übersetzung der Fleurs du mal. Der Einfluß des George-Kreises brachte ihn dazu, schon 1912 Hölderlin zu lesen. Der im Juni 1916 verfaßte Brief Benjamins an Martin Buber - auf dessen Vorschlag hin, an seiner Zeitschrift Der Jude mitzuarbeiten - ist vielleicht die erste Schrift, die eine theoretische Orientierung erkennen läßt. Gegen eine Sprache, die zu einem bloßen Mittel erniedrigt wurde, das dem Handeln dient, verteidigt er eine "magisch[e] das heißt un-mittel-bar[e]" Sprache(4), die sich in der poetischen und prophetischen Dichtung, in der Literaturkritik der Brüder Schlegel entfaltet. Zur gleichen Zeit, im November und Dezember 1916, verfaßte er den Essay "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", in dem die Grundbegriffe und Grundthemen seiner Philosophie der Sprache vorgeführt werden: adamitische Namengebung, Magie des Namens, Bezug zum Wesen, Traurigkeit der Natur, Zusammenhang zwischen dem Sündenfall, der Arbitrarität des Zeichens und dem Einbruch der Geschichte. Benjamin stellte sich auch die Frage nach dem Verhältnis, das den Mythos mit der Sprache, mit dem literarischen Werk verbindet, ausgehend von Platon wie vom Judentum.5 Die bereits in den Kommentaren zu den Hölderlin-Gedichten skizzierte Funktion der Sprache im Kunstwerk wird in dem Essay von 1916 über "Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie " noch vertieft. Während in der Tragödie das Wesen des Tragischen auf den Dialog bezogen wird, verläuft im Trauerspiel der Zugang zur Traurigkeit über die Ordnung der Sprache.

Nach Hölderlin wurden die romantischen Autoren, insbesondere Schlegel und Novalis, zu seinen wichtigsten Bezugspunkten. Zu ihrem Einfluß kam derjenige der Kabbala hinzu, die er durch die Studie Molitors kennenlernte. Ein Hauptpunkt seiner frühen Fragestellungen war das Problem der Übersetzung.(6) In der Schweiz bemühte er sich dann - im Zuge einer erneuten Reflexion auf die Sprache und das Verhältnis der Wahrheit zum Begriff - eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, die von Kant und einem erweiterten Begriff der Erfahrung ausgehen sollte. Er war sich sicher, daß "die Fragen nach dem Wesen von Erkenntnis, Recht, Kunst [. . .] mit der Frage nach dem Ursprung aller menschlichen Geistesäußerung aus dem Wesen der Sprache" zusammenhingen.(7) Ausgehend von den Thesen seines Essays von 1916 beschäftigte er sich in seinen Schweizer Jahren mit den Aufgaben der Literaturkritik.(8) Während Scholem als Thema seiner Dissertation die Theorie der Sprache in der Kabbala ins Auge faßte, rückte Benjamin das Nachdenken über die Sprache in den Mittelpunkt seiner Behandlung der romantischen Literaturkritik.(9)

Zu Beginn der zwanziger Jahre hatte er vor, als Habilitationsthema "irgendeine Untersuchung" zu wählen, "welche in den großen Problemkreis Wort und Begriff (Sprache und Logos) fällt"(10), und wollte dazu die Texte der Scholastik studieren. Nach der Lektüre von Heideggers Arbeit über Duns Scotus hatte er den Eindruck, daß sich das Vorhaben damit erübrigt habe, und beschloß 1921, sich im wesentlichen auf die Philosophie der Sprache zu konzentrieren.(11) Im Anschluß an seine Übersetzung der Tableaux parisiens von Baudelaire begann Benjamin im März 1921 den Essay "Die Aufgabe des Übersetzers", der als Vorwort zu seiner Baudelaire-Übertragung veröffentlicht wurde. Eigentlich ist dieser Text jedoch ohne die in dem Essay "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" von 1916 dargelegten Thesen nicht verständlich.

Ab 1923 arbeitete er an seiner Trauerspiel-Studie. Auf sprachphilosophischer Ebene entdeckte er dabei die entscheidende Bedeutung der Allegorie.(12) Sie lieferte ihm das Schema für die Gesamtinterpretation der Struktur des Barockdramas in seinem Gegensatz zur Tragödie; sie war der Zentralbegriff seines Kafka-Essays und bildete den Schlüssel für seinen Zugang zum "Barock der Alltäglichkeit"(13) bei Baudelaire, sollte von nun an aber auch sein gesamtes Verständnis von Literaturkritik prägen. Die in der Trauerspiel-Studie benutzte Methodik findet ihren ersten Ausdruck im ersten Kapitel des Essays über die Wahlverwandtschaften, in dem man auch die Entfaltung der kritischen Position beobachten kann, die Benjamin stets gegenüber dem Mythos einnehmen wird. Das Trauerspiel-Buch bezeichnet zweifellos eine der wichtigsten Etappen des Benjaminschen Sprachdenkens. Die Erkenntniskritische Vorrede, die dasWerk als Idee, als Monade definiert, deren isolierte Interpretation die Zusammenhänge absehbar werden läßt, steht in unauflöslichem Zusammenhang mit seinen frühen sprachphilosophischen Texten, auf die er sich ausdrücklich bezieht(14), und mit seiner in dem Brief an Hofmannsthal vom 13. Januar 1924 geäußerten ursprünglichen Überzeugung, "daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat".(15) Ganze Abschnitte des Buches über das Barockdrama sind der Sprache gewidmet, handele es sich um das Verhältnis zwischen Allegorie und Trauerspiel, um das Band zwischen Symbol und Allegorie in Klassik und Romantik, um die Verwurzelung der Allegorie in der Trauer oder um die "Elemente der Sprachtheorie des Barock".(16) Danach erwog er eine Studie zum "sprachlichen Wesen der Sage".(17) Nicht minder bedeutsam sind die Bezüge auf Sprachphilosophie in der Einbahnstraße dort, wo er dem "strenge[n] Wechsel von Tun und Schreiben"(18), der fragmenthaften Sprache der Straßen, der Reklame und den Plakaten Aufmerksamkeit schenkt, wo er nach dem Schicksal des Schreibens ebenso wie des Buches fragt und einen bewundernswerten Aphorismus "Kriegerdenkmal" Karl Kraus widmet, der "den Kriegstanz vor dem Grabgewölbe der deutschen Sprache [tanzt]".(19)

Mit seiner Hinwendung zum Materialismus erlischt Benjamins Interesse an der Sprachphilosophie keineswegs. Zunächst weil jeder kulturelle Ausdruck für ihn eine Sprache und diese wiederum untrennbar von der Geschichte ist. Überdies ergänzt er die theologische Dimension um eine soziologische, ohne daß freilich ihr Zusammenhang erläutert würde. Die Sprache wird stets unter dem Gesichtspunkt der Namengebung betrachtet, wobei er dem Namen die gleiche Wichtigkeit zuspricht wie der Allegorie, dem Symbol und dem Mythos.(20) In seinem Brief vom 7. März 1931 an Max Rychner beschwor er nochmals seinen "sehr besonderen sprachphilosophischen Standort"(21), den Scholem in der Nachfolge von Hamann und Humboldt lokalisierte, auch wenn er in dem Essay über Karl Kraus (1931) den Hiatus zwischen einer metaphysischen Konzeption der Sprache und künstlichen Annäherungen an die marxistische Dialektik anprangerte.(22) Auf Ibiza entwickelte Benjamin 1932 seine ersten Reflexionen über "das mimetische Vermögen". Die wenigen Seiten, die er dieser menschlichen Fähigkeit widmet, Ähnlichkeiten festzustellen, werden als erstes Stück einer neuen Philosophie der Sprache vorgestellt.(23) Was das Buch über die Passagen angeht, so nimmt es in seine Methodik Kategorien auf - Bild, Mythisches, Archaisches, Allegorie, Phantasmagorie, Befreiung von der Magie(24) -, die im Schnittpunkt von Sprach- und Geschichtsphilosophie liegen, wie die Analysen der Baudelaire-Gedichte und die Fragmente des "Zentralparks" zeigen. Die Rettung der Phänomene und der vergangenen Erfahrungen vollzieht sich stets innerhalb der Sprache als rettende Kritik, die - indem sie den "Wahrheitsgehalt" enthüllt - dasWesen in seiner Geschichte einholt und sichert. Bei der Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Allegorie bei Baudelaire setzt er den modernen Spleen mit der Melancholie des siebzehnten Jahrhunderts in Beziehung. Und in der "Armatur der Moderne"(25) stellt er die gleichen metaphysischen und theologischen Intuitionen fest. In der geduldigen Sammlung von Spuren des neunzehnten Jahrhunderts überlebt etwas von der adamitischen Namengebung, auch wenn Benjamin sich damit den Tadel Adornos zuzieht, in einer verhexten Welt zu verharren.


Das Postulat des göttlichen Ursprungs aller Sprache

Die Theorie des Namens und der Benennung, das konflikthafte Verhältnis zwischen Wahrheit und Mythos, das Zielen jeder authentischen Übersetzung auf die eine ursprüngliche Sprache, die Anerkennung der mystischen Dimension der Sprache und ihrer notwendigen Befreiung von der Magie sowie die Errettung, die die Allegorie versucht - all das ist für das gesamte Werk Benjamins bestimmend. Doch außerhalb des theologischen Horizonts seines grundlegenden Essays "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" bleiben all diese Kategorien unverständlich.(26)

Dieser Text - im November 1916 in München im Anschluß an die beiden Schriften über Trauerspiel und Tragödie verfaßt - besticht durch seine Tiefe ebenso wie durch seine bewußte Beschränkung.(27) Die zentrale Einsicht, die jeder gedanklichen Entwicklung zugrunde liegt, wird in einem Brief an Ernst Schoen von 1918 verdeutlicht: "[F]ür mich hängen die Fragen nach dem Wesen von Erkenntnis, Recht, Kunst zusammen mit der Frage nach dem Ursprung aller menschlichen Geistesäußerung aus demWesen der Sprache."(28) Es gibt keinen Ausdruck, der für Benjamin der Sprache fremd wäre, und seit dieser Zeit dachte er daran, die Malerei in die Sprache zu integrieren. Insofern sie die Mitteilung "geistiger Gehalte" erlaubt, die die belebte ebenso wie die unbelebte Natur betreffen, bringt die Sprache dasWesen aller Dinge zum Ausdruck. Ohne sie ist das menschliche Dasein undenkbar. Ein tiefes, fast undurchdringliches Band vereint sie. Der wissenschaftliche Zugang kann davon nicht hinreichend Rechenschaft geben, denn bei ihm fallen "sprachliches Wesen" und "geistiges Wesen" zusammen. Nun ist aber das erste nur der Ausdruck des zweiten; was die Sprache mitteilt, das geistigeWesen der Dinge, ist nicht die Sprache selbst. Jedes geistige Wesen ist als solches nicht mitteilbar. Einzig das sprachliche Wesen macht es sichtbar, denn "das geistige Wesen der Dinge ist ihre Sprache".(29) Die Unmittelbarkeit, in der es sich darbietet, ist magischer Natur.(30)

Der Mensch teilt sein eigenes geistiges Wesen mit, indem er die Dinge benennt. Diese Benennung ist das, was der Sprache als Eigentümliches zukommt. Der Name ist kein bloßes Wort. "[I]m Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit."(31) Die Macht der Benennung erhebt den Menschen zum Herrn der Natur. Ausgehend von der Genesis(32) betont Benjamin, daß sich die göttliche Schöpfung vollendet, "indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht".(33) In der Vollkommenheit des Namens fallen geistiges Wesen und sprachliches Wesen zusammen. Diese Harmonie setzt, wie schon Hamann behauptet hat, den Begriff der Offenbarung voraus.(34) Während die unmittelbare und unendliche (stoffliche) Gemeinschaft zwischen den Dingen magisch ist, ist die magische Gemeinschaft der menschlichen Sprache mit den Dingen "immateriell und rein geistig".(35) Sie wird symbolisiert im Laut.(36) Die Relevanz der Genesis für die Sprachphilosophie liegt darin, daß in ihr die Sprache als "eine letzte, [. . .] unerklärliche und mystische Wirklichkeit vorausgesetzt wird". Durch die Sprache erhebt sich der erschaffene Mensch über die Natur. Das göttliche Wort ist Erkenntnis und Schöpfung.Wenn Gott den Menschen nicht aus demWort, sondern aus Erde geschaffen und ihn nicht benannt hat, so deshalb, weil er ihn nicht der Sprache unterstellen wollte. Vielmehr hat Gott im Menschen die Sprache, die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, frei aus sich entlassen und im Menschen seine Schöpferkraft in der Form der Erkenntnis niedergelegt. Während jedoch das Gotteswort uneingeschränkt und schöpferisch ist, bleibt die menschliche Sprache eingeschränkt und analytisch. Es gehört zum Wesen des Menschen, die Dinge zu benennen, und das Wort des Menschen ist zum Namen der Dinge geworden. Gegen jede Theorie der konventionellen Arbitrarität des Zeichens sieht Benjamin in der adamitischen Namengebung die wirkliche Angemessenheit zwischen Wesen und Namen. Diese vollkommene Adäquation läßt "in der stummen Magie der Natur das Wort Gottes hervorstrahl[en]".(37)

In ihrem ursprünglichen Sinne ähnelt die adamitische Namengebung einer Übersetzung: Sie überträgt die Sprache der Dinge in die des Menschen, gibt dem Namenlosen einen Namen. Die Objektivität dieser Übersetzung ist verbürgt in Gott, denn in ihm allein besteht eine "Identität des schaffendenWortes und des erkennenden Namens".(38) Indem er dem Menschen die Aufgabe zuweist, die Dinge zu benennen, hat er dem Erkennen des Wesens [der Dinge] und dem Erkennen des Namens zu "magischer Gemeinschaft" verholfen.(39) Die Vielzahl der Sprachen folgt aus dem Sündenfall, aus dem Ende des paradiesischen Zustands der Unschuld, in dem es nur eine einzige Sprache gab. Mit der Ursünde endet die Sprache des vollkommenen Erkennens, während die "Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, [. . .] namenlos", das heißt "unschöpferische Nachahmung des schaffenden Wortes", ist.(40) Mit der Ursünde beginnt die menschliche Sprache, in der der Name nicht mehr unversehrt lebt. Dieser Übergang von der benennenden zur erkennenden Sprache steht nach Benjamin am Anfang des "Sprachgeistes". Das mitteilende Wort ist die Parodie des schaffenden Wortes. Es erniedrigt die Sprache auf die Stufe des Mittels und Zeichens: woraus später die Vielzahl der Sprachen hervorgehen wird.(41) Mit der Sünde kommt die Erkenntnis von "Gut" und "Böse", die bis dahin "namenlos" waren, und das richtende Urteil.(42) Während bei der adamitischen Namengebung die stumme Natur vom Menschen den Namen empfing, der sie benennt, erfährt sie mit der Arbitrarität des Zeichens "eine andere Stummheit, die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen"(43): Wenn die Natur sprechen könnte, begönne sie zu klagen, denn willkürlich benannt zu sein duldet sie nur als trauernde.

Da es jeweils eine Sprache der Plastik, der Malerei oder der Poesie gibt, die auf die "Sprache der Dinge" verweisen, erweitert Benjamin die Problematik dieser Überlegungen von der Sprache auf die Kunst. Er hält es für möglich, zwischen diesen verschiedenen Arten von Sprache und den Zeichen der Natur Korrelationen herzustellen. Hinter jeder Sprachform steht ein symbolisches Element, das nicht mitteilbar ist,wennauch "[d]ie Sprache eines Wesens [. . .] das Medium [ist], in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt".(44)

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(1)
(2) Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02); Die Sprache (1906); Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1910).>
(3) Vgl. Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik (1903).
(4) "Schrifttum kann ich [. . .] was die Wirkung angeht [. . .] nur magisch das heißt un-mittel-bar verstehen." Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, GB I, S. 326.
(5) Dieses Interesse Benjamins an der Philosophie der Sprache äußert sich zunächst in seiner sehr eigenwilligen Lesart des Schöpfungsberichts. Es erweitert sich durch die Lektüre der Frühromantiker, insbesondere der Philosophie der Sprache und des Wortes von Schlegel, der Schriften Humboldts und Mauthners, die Diskussionen mit Scholem über das Verhältnis von Sprache, Wahrheit und Mathematik. Scholem glaubte unter dem Einfluß Freges an die Möglichkeit einer formalisierten Sprache, wie schon Mauthner sie sich vorgestellt hatte. Benjamin vertrat eine stärker mystisch geprägte Konzeption. Die Feindseligkeit gegenüber dem Mythos, den er damals noch nicht als falsche Versöhnung, sondern als Versuch einer vollständigenWelterklärung verstand, stützt sich auf die Lektüre von Klages und Bachofen; letzterer war im George-Kreis sehr populär. Die ersten Überlegungen zum Verhältnis von Kunstwerk und Mythos werden in seinem Kommentar zu den beiden Hölderlin-Gedichten (1914/15) sichtbar. Sie gipfeln in seiner Analyse der Wahlverwandtschaften.
(6) Benjamin fuhr mit seinen Baudelaire-Übersetzungen fort und stellte Betrachtungen zu Hölderlins Übertragungen der Hymnen von Pindar an, aberauch zu Scholems Übersetzung des Hohenliedes. Vgl. den Brief an Scholem vom 17. Juli 1917, GB I, S. 370 f.
(7) Brief an Ernst Schoen vom 28. Februar 1918, ebd., S.437.
(8) Bevor es in seiner Studie über das Trauerspiel seinen Höhepunkt fand, war das Thema der adamitischen Namengebung und der Traurigkeit der Natur bereits in seiner Stifter-Lektüre präsent ("Stifter", GS II.2, S.609f.; Brief an Ernst Schoen vom 29. Januar 1919, GB II, S.12). In Bern las er auch die Sprachphilosophie Schleiermachers und hielt ein Abonnement der Fackel von Karl Kraus.
(9) Scholem zufolge betrachtete Benjamin Philosophie damals als "absolute Erfahrung, deduziert im systematisch-symbolischen Zusammenhang als Sprache" (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 74).
(10) Brief an Scholem vom 13. Januar 1920, GB II, S. 68.
(11) Er hatte die Sprachlehre von August Ferdinand Bernhardi gelesen.
(12) Brief an Florens Christian Rang vom 7. Oktober 1923, GB II, S. 355.
(13)
(14) In dem Brief an Rang vom 9. Dezember 1923 schreibt er: "Die Philosophie hat die Ideen zu benennen wie Adam die Natur um sie, welche die wiedergekehrte Natur sind, zu überwinden." Ebd., S.393.
(15) Ebd., S. 409. Die Verbindung zwischen Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie wird in dem Brief an Scholem vom 13. Juni 1924 erneut bekräftigt: "Du wirst darin [sc. in der gerade entstehenden Habilitationsschrift] seit der Arbeit über ›Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen‹ zum ersten Male wieder so etwas wie einen erkenntnistheoretischen Versuch finden." Ebd., S. 464.
(16) Am 5. März 1924 schrieb Benjamin an Scholem: "Das letzte Kapitel führt reißend in die Sprachphilosophie hinein, indem es sich dabei um das Verhältnis von Schriftbild und Sinnbestand handelt" (ebd., S.437). Elemente der barocken Sprachtheorie fand Benjamin bei Karl Kraus wieder, den er in die Nähe des Predigers Abraham a Santa Clara stellte, aber auch bei Brecht, bei dem er "manifeste Züge" entdeckt, "die auf die lehrhafte und parabolische Predigt des süddeutschen Barock zurückführen" (Brief an Werner Kraft vom 30. Januar 1936, GB V, S.237).
(17) [Brief an Scholem vom 21. Juli 1925, GB III, S.62.] Insbesondere eine Untersuchung über den Blonden Eckbert von Ludwig Tieck, der in den Passagen als Beispiel für das Vergessen und Erwachen angeführt wird. Er dachte auch an eine Studie über Goethes Neue Melusine und an dieHerausgabe einer Märchensammlung.
(18) <Einbahnstraße, "Tankstelle", GS IV.1, S. 85.>
(19)
(20) Etwa in der Berliner Kindheit, dort verbunden mit einer Philosophie der Zeit.
(21) GB IV, S. 18.
(22) Die beiden Karl Kraus gewidmeten Texte Benjamins spiegeln die Entwicklung oder vielmehr den Zuwachs an Komplexität seiner Sprachkonzeption. In dem zweiten, im März 1931 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Kraus-Essay ist er nicht mehr bloß "ein chinesisches Idol, in beiden Händen die gezückten Schwerter schwingend [. . .] vor dem Grabgewölbe der deutschen Sprache", der Purist, der sich für eine verlorene Sache opfert. Sein Haß richtet sich nicht mehr einzig auf die sprachlichen Barbarismen, sondern auf die Presse, die öffentliche Meinung, die Phrasen. Die Krise der Sprache wird als Krise der Gesellschaft dargestellt. Benjamin sieht in Kraus nicht nur den Erben theologischer Spekulationen des siebzehnten Jahrhunderts, der Barocktradition, sondern auch das Fortleben der jüdischen Tradition, die Gerechtigkeit und Sprache miteinander verknüpft. Im Gegensatz zu Stefan George ist für ihn die Sprache "weder [. . .] Medium der Seherschaft noch der Herrschaft", sondern "der Schauplatz für die Heiligung des Namens" ("Karl Kraus", GS II.1, S. 359).
(23) Brief an Scholem vom 24. Oktober 1935, GB V, S.187. Vgl. auch den Brief an Werner Kraft vom 30. Januar 1936, ebd., S.237.
(24) Scholem erwähnt, daß Benjamin im Laufe ihrer Gespräche 1937 in Paris - im Gegensatz zu seinen früheren Ideen, die auf einer theologischen Inspiration beruhten - die "Liquidation der Magie der Sprache" gefordert habe (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 259). Er sah darin den Einfluß seiner Hinwendung zum Materialismus. Das Thema der "Liquidierung des magischen Elements" ist bei Benjamin jedoch viel älter als diese Hinwendung. Nichts deutet darauf hin, daß Benjamin seine Konzeptionen von 1916 geändert hätte. Die Mimesis wird von Benjamin auf mystische Elemente bezogen (GB V, S.187). Das "Sammelreferat" "Probleme der Sprachsoziologie" von 1935 (GS III, S.452-480) behandelt zwar modernere Arbeiten über die Sprache, räumt jedoch den romantischen Theorien viel Platz ein. Benjamin betont, daß dieser Essay "nichts über eine ›Metaphysik‹ der Sprache [präjudiziere]", sondern sie voraussetze .
(25) "Zentralpark", GS I.2, S. 681.
(26) GS II.1, S.140-157. Dieser Text war nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Benjamin ließ ihn in Form handschriftlicher Kopien unter seinen Freunden (Gershom Scholem,Werner Kraft, Leo Strauss) zirkulieren.
(27) Benjamin hat eine Reihe wichtiger Werke über die Sprache gelesen. Von modernen, "wissenschaftlichen" Forschungen fühlt er sich kaum angesprochen. Seine beiden Hauptkategorien sind Namengebung und Offenbarung. So wird jede instrumentelle Deutung der Sprache als "bürgerliche Auffassung" abgelehnt und ihr eine metaphysische und theologische, weitgehend von Judentum und Romantik geprägte Auffassung gegenübergestellt. Diese Sprachphilosophie, die sich als äußerst reich erweist, wenn sie die Fundamente der Literaturkritik legt, läßt der Kommunikation so gut wie keinen Raum. Benjamin betont den Kontrast zwischen der systematischen Absicht seines Essays und dem "Fragmentische[n] der Gedanken" (Brief an Scholem vom 11. November 1916, GB I, S.343).
(28) Brief an Ernst Schoen vom 28. Februar 1918, GB I, S. 437.
(29) [Tatsächlich heißt es bei Benjamin: "Das sprachlicheWesen der Dinge ist ihre Sprache. [. . .] Dieser Satz ist untautologisch, denn er bedeutet: das, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache."] "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", GS II.1, S. 142.
(30) "[. . .] so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie." Ebd., S. 142f.
(31) Ebd., S. 144. So spricht Benjamin dem Eigennamen eine fast mystische Bedeutung zu.
(32) Benjamin läßt in seiner Lektüre die Symbolik der Sünde und des Bösen, der Beziehung des Menschen zu Gott beiseite und behält nur die enge Bindung der Erkenntnis an die Sprache bei. Dabei arbeitet er drei Typen von Sprache heraus: das schöpferischeWort Gottes, die adamitische Sprache, die eine Art prästabilierter Harmonie zwischen den Wörtern und den Wesen der benannten Dinge voraussetzt, und schließlich die "menschlichen" Sprachen, die der Arbitrarität des Zeichens unterliegen. Noch in seinem Essay "Über das mimetische Vermögen" (GS II.1, S.210-213) wird Benjamin den Gedanken des konventionellen Charakters der Zeichen ablehnen.
(33) "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", GS II.1, S.144.
(34) "Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O." Zitiert nach Benjamin, ebd., S. 147.
(35)
(36) In dieser sehr eigenwilligen Sprachkonzeption begegnen sich Judentum und Romantik. Der Idee einer adamitischen Sprache, in der der Name streng jedes Wesen bezeichnet, entspricht in der Enzyklopädie von Novalis die "echt wissenschaftlich[e]" "ursprüngliche Sprache" und das "allgemein[e], rein[e] Schriftsystem" Werke, Bd. 2, Fragmente 1, S.343 f., § 1273 und 1276>. Auch hier wird die Rolle des Tons hervorgehoben. Das Verhältnis von Sprache und Magie ist der Inhalt mehrerer Fragmente von Novalis. Magie bezeichnet die "Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten". Novalis sieht darin "eine der Grundideen der Kabbalistik" .
(37) <"Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", GS II.1, S.150.>
(38)
(39) Die Gültigkeit der adamitischen Namengebung - die Adäquation zwischen dem vom Menschen gegebenen Namen und dem im wirklichen Wesen [der Dinge] ausgedrückten Namen - wird nur von Gott gewährleistet. Benjamin nimmt wie der Maler Friedrich Müller an, Gott habe "den Tieren der Reihe nach ein Zeichen [gegeben], auf das hin sie vor den Menschen zur Benennung treten" (ebd., S. 152).
(40) Ebd., S.152, 153.
(41) Nach Benjamin hat der Sündenfall auf der Ebene der Sprache eine dreifache Bedeutung: Er erniedrigt die Sprache zu einem bloßen Mittel der Kommunikation und läßt eine Vielzahl von Sprachen entstehen, insofern an die Stelle der adamitischen Namengebung die willkürliche Pluralität der Zeichen tritt, die Benjamin als "Überbenennung" [ebd., S. 155] bezeichnet. Zweitens wird die im Sündenfall versehrte Unmittelbarkeit des Namens durch eine neue ersetzt, die Magie des Urteils. Drittens liegt im Sündenfall "der Ursprung der Abstraktion als eines Vermögens des Sprachgeistes" [ebd., S. 154].
(42) Daher der mythische Ursprung des Rechts, der später im Essay "Über die Gewalt" analysiert wird. Die Erkenntnis von Gut und Böse wird als "Geschwätz [. . .] in der Welt nach der Schöpfung" bezeichnet . Dieses Thema wird im Trauerspiel-Buch eine Weiterentwicklung erfahren. Die christliche Allegorie will die pagane Natur und die antiken Götter retten, indem sie sie personifiziert. Doch das Böse, das es darzustellen gilt, ist ein Nichtsein, es existiert nur in bezug auf die Subjektivität der Allegorese: "Die absoluten Laster, wie Tyrannen und Intriganten sie vertreten, sind [. . .] nicht wirklich und sie haben das, als was sie dastehn, nur vor dem subjektiven Blick der Melancholie" (Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1, S. 406). "Also hat das Wissen von dem Bösen gar keinen Gegenstand. [. . .] Es ist 'Geschwätz' in dem tiefen Sinne, in welchem Kierkegaard dieses Wort gefaßt hat. Als der Triumph der Subjektivität [ist diesesWissen] Ursprung aller allegorischen Betrachtung [. . .]. Im Sündenfall selbst entspringt die Einheit von Schuld und Bedeuten [. . .]. Denn Gut und Böse stehen unbenennbar, als Namenlose, außerhalb der Namensprache, in welcher der paradiesische Mensch die Dinge benannt hat" (ebd., S. 407). Vgl. auch den Essay über Die Wahlverwandtschaften , wo Geschwätz, Abstraktion und richtendes Urteil miteinander verknüpft werden.
(43) "[. . .] und wo auch nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit. Weil sie stumm ist, trauert die Natur" (ebd., S. 155). Dieses Thema gewinnt seine ganze Breite in dem Unvermögen der Allegorie, die heidnische Natur zu retten.
(44) Ebd., S.157. Dieses Prinzip begründet zum Teil das Verfahren der Erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspiel-Buches.

Teil 3