Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Luc Seigle: Der Gedanke an das Glück und an das Ende. Teil 2

23.06.2014.
Abgesehen von all diesem Überfluss machte Albert sich hauptsächlich Sorgen um seinen jüngeren Sohn. Gilles war nicht wie sie. "Nicht wie sie", das bezog sich nicht auf die Gesamtheit der bekannten Welt, sondern nur auf ihn selbst, Suzanne und seinen älteren Sohn. Wegen der Neigung zur Lektüre, die das Kind sehr früh gezeigt hatte, in einer Familie, in der niemand las, aber auch einfach weil Albert nicht wusste, was aus diesem Kind werden sollte. Dachte er an Gilles in der Zukunft, fühlte er sich nicht ge- rade in eine feindliche Sphäre versetzt, aber in eine, in der er sich nicht auskannte. Es wurde noch schlimmer, nach- dem er in der vergangenen Woche Gilles" Lehrerin getroffen hatte: Sie redete von allem gleichzeitig, von ihren Ferienplänen und Gilles" schulischen Leistungen, von Gérard Philipes Abwesenheit beim Festival von Avignon und ihrer Müdigkeit, von ihrer Passion für das TNP und vor allem für die Tragödie. Sie hatte Glück, in diesem Sommer wurde Antigone gespielt; nicht irgendeine Antigone, die Antigone des Sophokles. Ah, Sophokles, Monsieur Chassaing! Schließlich versuchte sie, sich für ihre schlechten Beurteilungen in Gilles" Zeugnisheft zu rechtfertigen und ihre Entscheidung, ihn eine Aufnahmeprüfung in die fünfte Klasse machen zu lassen, ein wenig zu begründen. Es sollte eine Strafe sein. Ja, eine Strafe. Sie hatte es mehrmals wiederholt, weil sie es weder normal noch annehmbar fand, dass ein Kind, das Bücher verschlang wie Gilles, so viele Rechtschreibfehler machte. Das sei nicht nur unverzeihlich, das sei vor allem beunruhigend. Sie war noch ganz aufgewühlt, als würde durch ihre Diagnose eine unheilbare Krankheit aufgedeckt, deren Symptome sie vor allen anderen erkannt hatte. Zwei Wörter trafen Alberts Ohren mit voller Wucht, wie so ein Vogel, der gegen eine Fensterscheibe prallt, zwei Wörter, viel schlimmer als Sophokles oder Antigone, von denen er noch nie etwas gehört hatte, nämlich Poesie und Phantasie. Er kannte sie, diese Wörter, er hatte sie schon gehört, aber er hatte sie nicht gebrauchen können, weder auf dem Feld, noch in der Fabrik, noch in der Familie. Das begriff er zumindest gerade. Nein, wirklich, Poesie und Phantasie hatte er in seinem Leben nie gehabt und auch nie erwartet, weder für sich noch für sonst jemand. Die Lehrerin unterbrach seinen Wortschwall, sie wollte gern zugeben, dass der Sinn für Poesie und die Phantasie Gilles manchmal halfen, be- sonders bei den Sketchen, die sie am Ende des Schuljahrs mit ihren Schülern aufführte und in denen Gilles sich her- vortat. Es bereitete ihr ein sadistisches Vergnügen, Albert erst eine beruhigende Aussicht zu eröffnen, um sie dann gleich wieder zu versperren: "Ja, aber einen Schauspieler werden wir trotzdem nicht aus ihm machen." Albert konnte seine Abscheu nicht bezähmen; die Jungfrau der großen Schule der Republik, die Theaternärrin hatte gerade unfreiwillig verraten, wie sehr sie ihre Schüler verachtete, besonders die aus der Arbeiterschicht. Sie beendete rasch die Diskussion, unfähig, sich die eigene Ungeschicklichkeit einzugestehen, weit davon entfernt, sich vorzustellen, dass die Wörter Poesie und Phantasie, die sie Albert eingeflüstert hatte, in seinem Kopf wirken würden wie ein Gift. Und doch war nichts phantasievoller und poetischer als die rückwärtsgehende Uhr, die Albert in seiner freien Zeit im Winter erfunden hatte; hätte aber jemand zu ihm von der Poesie seiner Arbeit als Amateuruhrmacher gesprochen und seine phantasievollen Schöpfungen gelobt, so hätte er laut gelacht, denn er wollte in seinen Uhren nichts anderes sehen als einfache, faszinierende Mechanismen.
     Was das Theater anbetraf, erinnerte Albert sich an einen Artikel in La Montagne, vom Tag nach Gérard Philipes Tod; darin hieß es, der Schauspieler sei der Sohn eines großen Rechtsanwalts gewesen. Vielleicht hatte die Lehrerin doch recht. Es hätte Albert beruhigen müssen, dass sein Sohn kein besserer Schüler war als er seinerzeit; es war sogar die ideale Gelegenheit, um seinen Lieblingssatz anzubringen, der jedem lästigen Gespräch ein Ende setzte: Was wollen Sie, wir sind Arbeiter. Wir, niemals ich. Wir sind Arbeiter, um zu sagen: Wir sind nur Arbeiter. Stattdessen aber warf diese Erkenntnis, zusammen mit seinem geheimen Wunsch, Schluss zu machen, die Frage nach der Nachfolge und Weitergabe auf. Ja, man konnte die Nachfolge eines Vaters, der Schuster oder Bauer war, antreten oder auch die Nachfolge eines Vaters, der Arzt oder Notar war, aber man konnte nicht die Nachfolge eines Vaters antreten, der Arbeiter war. Er kannte zwar Kinder, die ihrerseits Arbeiter geworden waren, aber nicht aus Liebe zu dem Beruf, sondern aus Liebe zum Vater, um ihm zu beweisen, dass er sich in seinem Leben nicht getäuscht hatte. Schau, du bist nicht nichts, denn ich will ja sein wie du. Und wenn du denkst, du bist nichts, will ich auch nicht mehr sein als du. Das war schön, ja, aber was für ein Mensch kam dabei heraus? Was sie auch tun, Arbeiterkinder sind immer die Dummen, selbst wenn sie, unter dem Vorwand, mit der Zeit zu gehen, schließlich mit ihrer Vergangenheit brechen, sie vergessen, sie leugnen, wie Henri mit seiner Leidenschaft für den Bau hydraulischer Brücken, die Suzanne so stolz machte, als hätte sie irgendeine Ahnung von Brücken und Viadukten. Auch das konnte er verstehen und ertragen, selbst wenn er sich auch hier fragte, was für ein Mensch aus ihm später werden würde. An diesem Tag aber verhießen die beiden Wörter, Poesie und Phantasie, weit über die Frage der Schreibweise hinaus, seinem Sohn eine Zukunft voll ebenso unbekannter wie anscheinend wunderbarer Dinge, die ihm aber noch fremder waren als Henris Ingenieursstudium. Gilles beeindruckte ihn.
     Niemand außer seinem Vater, als der im November 1917 aus dem Gaskrieg von Verdun zurückgekommen war, hatte ihn je so beeindruckt. Nur dass damals er das Kind war. Und jetzt kehrte sich das um, verflucht! Etwas zitterte in ihm, was er nicht kannte, was er nie empfunden hatte und was ihn überwältigte. Seine Haare sträubten sich, Schauder überliefen ihn von den Fußsohlen bis zu den Haarwurzeln. Seine schwarzen Augen füllten sich mit Tränen, während er sich die Bewunderung für seinen Jungen eingestand. Es war furchtbar. Er schluchzte wie ein Kind und hatte Angst, die Zuckungen seines Körpers, der ihm nicht gehorchte, könnten Suzanne wecken. Mit knapper Not schaffte er es, unter seinen zusammengekniffenen Lidern die Tränen zurückzuhalten. Seine Augen brannten so, dass er, als er sie wieder öffnete, glaubte, erblindet zu sein. Es war unfassbar, dieses innere Erdbeben, wo er doch nie eine Träne vergoss, nicht einmal bei Begräbnissen, nicht einmal beim Begräbnis seines Vaters. Ein weinender Mann, das ergab keinen Sinn. Außer vielleicht ein alter. Er hatte schon bemerkt, dass Männer ab einem bestimmten Alter nicht zögerten, wegen einer Lappalie zum Taschentuch zu greifen. Er erinnerte sich an den alten Pelou, dem er vor ein paar Jahren den Gemüsegarten umgegraben hatte. Der Mann war eine Naturgewalt gewesen, aber mit fast achtzig Jahren hatte er keine Muskeln mehr in den Armen und musste trotz seines hohen Alters noch einen hilflosen Sohn ernähren, den ihm der Krieg 14-18 als Schrotthaufen zurückgebracht hatte. Außerstande, ihm für den Gefallen zu danken, hatte der alte Mann wie Espenlaub zu zittern begonnen. Sein ganzer Körper hatte geweint, ohne aufhören zu können. Und er war weiß Gott nicht zart gewesen in seinem Leben, der alte Pelou, vor allem nicht zu seiner Frau, einer Heiligen, die sich bis zur Erschöpfung um ihren einzigen Sohn kümmerte, der lebenslang an seinen Rollstuhl gefesselt war. Im Alter fangen die Männer an zu weinen. So war das. Vielleicht weinten sie über all das, worüber sie in ihrem Leben nicht geweint hatten, vielleicht war das die Strafe für die starken Männer. Aber er war ja erst zweiundfünfzig! Und während sich dieser Sturm in ihm verzog, hörte merkwürdigerweise auch der Altmännerkummer auf, ihn zu beunruhigen, ja er bestärkte ihn sogar, nicht in seinem Menschsein, nicht in irgendeiner neu entdeckten Empfindungsfähigkeit, sondern in dem Gedanken an das sicherlich nahende Ende. Er fühlte sich besser.
     Es waren nicht nur diese zwei von ihm nie gebrauchten
Wörter, die ihn so erschüttert hatten, es war auch wegen Suzanne. Sie liebte ihren zweiten Sohn nicht genug, um ihn in sein künftiges Leben der Bücher zu begleiten. Genauso wenig war zu erwarten, dass der so praktische Henri sich für einen so eigenartigen Bruder interessierte. Sein älterer Sohn würde ebenso ruhmbedeckt aus Algerien zurückkommen, wie sein Vater Camille Chassaing aus Verdun zurückgekommen war, auch wenn der wegen seiner von den ersten Gasangriffen verätzten Lungen demobilisiert worden war. Henri war ein sehr guter Schüler gewesen, das heißt ein fleißiger Schüler ohne Probleme, der von Natur aus perfekte Schüler, gegen den man nichts sagen kann; und Albert hatte ihn schließlich als ein Geschenk Gottes anerkannt, das heißt als eine Seltsamkeit. Gilles war kein guter Schüler, er war ein exzessiver Leser, der aus seiner Lektüre keinerlei schulischen Nutzen zog, genauso wenig aber wusste, wohin sie ihn führen würde.
     Dieser Tage suchte Albert also jemand, der seinen Sohn begleiten konnte. Nicht so sehr intellektuell, er suchte einfach jemand, der ihm besser als er helfen konnte, mit einem Buch in der Hand im Leben zurechtzukommen, so, wie er ihm beigebracht hatte, mit einem Fahrrad zurechtzukommen, zuerst auf vier Rädern, dann auf zwei, indem er den strampelnden jungen Radler am Sattel festhielt, bis dieser selbst sein Gleichgewicht fand und allein fuhr, ohne zu merken, dass sein Vater ihn losgelassen hatte. Mehr nicht. Eine einzige Person schien ihm fähig zu sein, den Leser, der sein Sohn zu werden im Begriff war, auf diese Weise zu unterstützen: Monsieur Antoine, ein Nachbar, der sich erst vor einigen Monaten in Assys niedergelassen hatte. Albert wusste nicht viel von dem Mann, außer dass er aus der Gegend stammte, in Paris Lehrer gewesen war und, um seinen Ruhestand in der Heimat zu verbringen, das Haus der Marie Bateau gekauft hatte, einer sehr alten Jungfer, die im letzten Herbst gestorben war, nachdem sie alle ihre Katzen vergiftet hatte. Monsieur Antoine war ein Junggeselle, dem man anmerkte, dass er das Leben kannte, denn ihn plagte nicht jene krankhafte Schüchternheit der Männer, die nie Frauenbekanntschaften hatten. Im Gegenteil hatte er es einmal auf dem Markt von Saint-Sauveur nicht versäumt, Suzanne Komplimente wegen ihrer Eleganz zu machen. Sonst sagte man sich guten Tag, guten Abend, weiter nichts. Davon abgesehen verstand es der Neue, vorsichtig zu sein, nicht zu stören und sich beobachten zu lassen, bevor er in der kleinen Gemeinschaft von Assys akzeptiert wurde. Selbst wenn die Zeit dieser langsamen und eingehenden Beobachtung noch nicht vorbei war, hatten alle hier bereits eines bemerkt, der Mann las viel. Offenbar begeisterte sich der Pensionär auch für die mikroskopischen Welten, für die Albert sich nie interessiert hatte, obwohl ihm sein Vater in der Natur ziemlich viel beigebracht hatte. Aber nur Nützliches, Angeln, Jagen, Wetterkunde, Pilzesammeln, die Namen der Bäume, gewisser Heilpflanzen und einiger Sterne in der Nacht. Für Monsieur Antoine bot absolut alles Anlass zu genauester Beobachtung. Auf seinen Spaziergängen schien er zu botanisieren, sammelte alle Arten von ebenso winzigen wie außergewöhnlichen Stiefmütterchen, ein Buch in der Hand, das er manchmal als Presse verwendete, um ein Blatt oder eine Blüte zu trocknen, denen niemand auch nur die geringste Beachtung geschenkt hätte. Einmal, als Albert auf seinem Kartoffelacker arbeitete, war der Lehrer umgekehrt, weil er ihm unbedingt ein Wunderding zeigen musste, etwas viel zu Seltenes, um es allein zu betrachten. Es war eine gelbe Raupe, fast daumendick und blau schillernd. Ein zukünftiger Totenkopfschwärmer, der Herr der Schmetterlinge, hatte Monsieur Antoine ihm erklärt. Albert hatte den Kenner gespielt, obwohl er die Schmetterlinge noch nie unterscheiden konnte, außer vielleicht den großen Schwalbenschwanz, den man hier macahon nannte. Im Grunde ging der Fremde mit den Dingen der Natur so um wie die Bewohner von Assys mit ihm, und Albert war zu einem Schluss gekommen, der seine Entscheidung beeinflusste: Dieser Mann war wie er mit wenig zufrieden. Nach seinem Treffen mit der Lehrerin schien ihm der Pensionär die beste Antwort auf Poesie und Phantasie zu sein.
     Das war gestern. Heute Morgen fragte er sich, ob es ver- nünftig war, seinen Sohn einem Mann anzuvertrauen, den niemand kannte. Unmöglich konnte Albert diesem Unbekannten eine Verantwortung aufbürden, die er selbst nicht zu übernehmen imstande war. Er hätte niemals zu ihm gehen sollen, schon gar nicht unter dem Vorwand, ihm Gemüse aus seinem Garten zu bringen. Er hatte es nicht einmal fertiggebracht, den Mann einfach und offen anzusprechen. Er schämte sich dafür, dass er seinen Sohn auf ein Rechtschreibproblem reduziert hatte. Er hatte die Situation arrangiert, um seinen Nachbarn in die Falle zu locken; all das in der Hoffnung, die imaginäre Kugel werde sich um einen Millimeter bewegen und ihn töten, denn er zweifelte nicht daran, dass dies schließlich geschehen werde, wenn das Problem mit Gilles erst einmal geregelt war. Doch er gab diese Idee auf, sie war obszön. Wieder kamen ihm die Tränen, wieder brannten seine Augen, auch wenn es nur Tränen der Ohnmacht waren. In seinen Gedanken ebenso gefangen, wie er sich in diesem unnützen Körper gefangen fühlte, wurde Albert von einer anderen Gewissheit umgetrieben. Selbst wenn er weiterlebte, selbst wenn er darauf verzichtete, Schluss zu machen - sein Sohn war auf jeden Fall dazu verdammt, im Schoß der Familie die schlimmste Einsamkeit zu ertragen. Das erschien ihm als eine noch größere Obszönität.

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