Vorgeblättert

Leseprobe zu Javier Cercas: Outlaws. Teil 1

24.03.2014.
Jenseits
1

"Fangen wir an?"
     "Ja, fangen wir an. Vorher möchte ich Ihnen aber noch eine Frage stellen, die letzte."
     "Also gut."
     "Warum haben Sie sich darauf eingelassen, dieses Buch zu schreiben?"
     "Hab ich das noch nicht gesagt? Des Geldes wegen. Ich lebe vom Schreiben."
     "Ja, ich weiß. Aber war das der einzige Grund?"
     "Na gut, dass man über jemanden wie Zarco schreiben kann, kommt natürlich nicht allzu oft vor, wenn Sie das meinen."
     "Das heißt, für Zarco haben Sie sich schon vorher interessiert, vor dem Angebot, über ihn zu schreiben?"
     "Natürlich, das geht doch allen so."
     "Ja. Wie auch immer, ich erzähle Ihnen jetzt jedenfalls nicht die Geschichte von Zarco, sondern die von meiner Beziehung zu ihm - zu ihm und zu …"
     "Ja, ich weiß. Darüber haben wir auch schon gesprochen. Können wir anfangen?"
     "Ja, fangen wir an."
     "Erzählen Sie, wann haben Sie Zarco kennengelernt?"
     "Im Sommer 1978, am Anfang. Das war eine komische Zeit. Heute kommt es mir wenigstens so vor. Franco war schon seit drei Jahren tot, aber die franquistischen Gesetze galten immer noch, und im ganzen Land roch es auch noch so wie unter Franco: nach Kacke. Ich war damals sechzehn, genau wie Zarco. Wir haben ganz nah und ganz weit voneinander gewohnt."
     "Wie meinen Sie das?"
     "Kennen Sie die Stadt?"
     "Nur ein bisschen."
     "Ist vielleicht besser so - die Stadt von damals und die von heute haben kaum was miteinander zu tun. In Gerona war es damals, als befände man sich immer noch in der Nachkriegszeit, ein düsteres Kaff fest im Griff der Kirche, ringsum bedroht durch das Land und im Winter in dicken Nebel gehüllt. Nicht dass das heutige Gerona besser wäre - in gewisser Hinsicht ist es sogar schlechter -, es ist einfach anders. Zu der Zeit wohnten zum Beispiel in den Vorstädten überall Charnegos. Das Wort hört man heute nicht mehr so oft, damals benutzte man es für die Migranten, die aus dem übrigen Spanien nach Katalonien kamen, fast immer Habenichtse, die auf der Suche nach einem Lebensunterhalt waren … Aber das wissen Sie ja selbst. Trotzdem wissen Sie vielleicht nicht, dass die Stadt, wie gesagt, Ende der siebziger Jahre von lauter Charnego-Vierteln eingekreist war: Salt, Pont Major, Germans Sàbat, Vilarroja. Da hockte der ganze Abschaum aufeinander."
     "Und Zarco wohnte auch dort?"
     "Nein, Zarco wohnte in den sogenannten Behelfsunterkünften, an der nordwestlichen Stadtgrenze, unter dem Abschaum des Abschaums. Und ich wohnte gerade mal zweihundert Meter entfernt. Allerdings wohnte er jenseits der Grenze, also gleich dort, wo man landet, wenn man vom La-Devesa-Park aus den Río Ter überquert. Und ich diesseits, kurz vor der Brücke, in der Calle Caterina Albert. Der Stadtteil heißt heute immer noch La Devesa, aber damals war da nichts, oder so gut wie nichts, nur eine Ansammlung von Gemüsegärten und Brachen, in die die Stadt auslief. Zehn Jahre davor, Ende der sechziger Jahre, hatte man hier ein paar Wohnblocks hochgezogen, und meine Eltern hatten in einem davon eine Wohnung gemietet. In gewisser Hinsicht war auch das ein Charnego-Viertel, allerdings waren die Leute dort nicht ganz so arm wie die normalen Charnegos. Die meisten Familien bei uns waren Beamtenfamilien und gehörten zur Mittelschicht, meine auch - mein Vater hatte eine Stelle bei der Provinzverwaltung, nichts Besonderes. Diese Familien stammten nicht aus der Stadt, sie betrachteten sich aber trotzdem nicht als Charnego-Familien. Jedenfalls wollten sie mit den echten Charnegos nichts zu tun haben, zumindest nicht mit den armen Charnegos, mit denen aus Salt, Pont Major, Germans Sàbat und Vilarroja. Und natürlich erst recht nicht mit den Leuten aus den Behelfsunterkünften. Ehrlich gesagt, ich bin mir sicher, dass die allermeisten Bewohner der Calle Caterina Albert nie in den Behelfsunterkünften gewesen sind - um von den Leuten aus der Stadt gar nicht zu reden. Manche wussten vielleicht nicht mal, dass es diese Unterkünfte gab, oder sie taten wenigstens so. Ich wusste es sehr wohl. Ich wusste nicht genau, worum es sich dabei handelte, und dort gewesen war ich auch nie, aber ich wusste, dass sie existierten oder dass die anderen behaupteten, sie würden existieren. Für mich waren sie eine Art Mythos, der nie bewiesen oder widerlegt wurde - wir, die Jungen aus diesem Viertel, dachten bei dem Wort 'Behelfsunterkünfte', glaube ich, an eine Art rustikaler Berghütten, in denen man bei schlechtem Wetter Zuflucht finden konnte, wie in einem Abenteuerroman, was dem Ganzen einen irgendwie verwegenen Anstrich verlieh. Deshalb habe ich vorhin gesagt, dass ich ganz nah und ganz weit von Zarco wohnte - wir waren durch eine Grenze getrennt."
     "Und wie haben Sie diese Grenze überquert? Ich meine, wie kommt es, dass ein Junge aus der Mittelschicht sich mit einem Jungen wie Zarco anfreundet?"
     "Mit sechzehn sind alle Grenzen durchlässig, wenigstens war das damals so. Es war aber auch Zufall. Bevor ich Ihnen diese Geschichte erzähle, müsste ich aber zuerst noch etwas anderes erzählen."
     "Nur zu."
     "Diese Geschichte habe ich noch nie erzählt - na gut, meinem Psychoanalytiker schon. Aber wenn Sie sie nicht kennen, werden Sie nie verstehen, wie und warum ich Zarco kennengelernt habe."
     "Keine Sorge, wenn Sie nicht möchten, dass sie in dem Buch vorkommt, lasse ich sie weg. Und wenn Sie nicht damit einverstanden sind, wie ich sie erzähle, streiche ich sie wieder raus. So haben wir es verabredet, und daran halte ich mich auch."
     "Gut. Wissen Sie, ich habe immer gehört, für Kinder kann das Leben ganz schön grausam sein, aber ich glaube, für Jugendliche gilt das noch viel mehr. Bei mir war es jedenfalls so. In der Calle Caterina Albert hatte ich mehrere Freunde: Mein engster Freund war Matías Giral, aber neben ihm gab es noch Canales, Ruiz, Intxausti, die Boix-Brüder, Herrero und noch ein paar. Wir waren alle ungefähr gleich alt, kannten uns seit dem achten oder neunten Lebensjahr, trieben uns die meiste Zeit auf der Straße herum und gingen alle auf die Maristenschule - das war die von uns aus nächstgelegene Schule. Außerdem waren wir natürlich alle Charnegos, bis auf die Boix-Brüder. Die kamen aus Sabadell und sprachen untereinander Katalanisch. Kurz gesagt: Brüder hatte ich keine, nur eine Schwester. Aber statt Brüdern hatte ich als Kind eben meine Freunde, ich glaube, das kann man so sagen.
     Später war das nicht mehr so. Ungefähr ein Jahr bevor ich Zarco kennenlernte, änderte es sich allmählich. Damals kam zum Schuljahresanfang ein neuer Junge in unsere Klasse. Er hieß Narciso Batista und war durchgefallen. Sein Vater war der Präsident der Provinzverwaltung und der Chef meines Vaters. Wir waren uns ein paarmal begegnet, daher kannten wir uns. Deshalb und weil unsere Nachnamen aufeinanderfolgten, wurden wir nebeneinandergesetzt - Cañas kam in der Klassenliste gleich nach Batista -, und so wurde ich sein erster Freund in der Klasse. Durch mich freundete er sich mit Matías an, und durch Matías und mich mit meinen anderen Freunden. Außerdem wurde er zum Anführer unserer Gruppe, die bis dahin noch nie einen Anführer gehabt hatte - mir war es wenigstens so vorgekommen. Aber vielleicht hatten wir auch nur darauf gewartet, als Jugendlicher ist man ja vor allem ängstlich und unsicher und wartet bloß darauf, dass ein Anführer auftaucht, mit dem man seine Angst bekämpfen kann. Batista war zwei Jahre älter als wir, stärker, und er wusste, wie man sich Gehör verschafft. Außerdem hatte er alles, wovon ein Charnego nur träumen konnte: Eine angesehene wohlhabende katalanische Familie - die sich allerdings als durch und durch spanisch betrachtete und alles verachtete, was mit Katalonien, geschweige denn mit einem unabhängigen Katalonien, zu tun hatte; noch schlimmer war nur, was unmittelbar mit Barcelona zu tun hatte -, eine große komfortable Wohnung, einen Mitgliedsausweis des Tennisvereins, ein Sommerhaus in S'Agaró und für den Winter eins in La Molina, eine Lobito 75 Kubik und einen Raum ganz für sich allein, eine ehemalige Garage in der Calle de La Rutlla, wo man nachmittags Rock 'n' Roll hören, rauchen und Bier trinken konnte.
     So weit also alles ganz normal. Von da an aber überhaupt nicht mehr. Damit meine ich, dass sich Batistas Verhalten mir gegenüber innerhalb weniger Monate vollkommen veränderte, seine Zuneigung verwandelte sich in Ablehnung, die Ablehnung in Hass, und der Hass in Gewalt. Warum? Keine Ahnung. Lange Zeit habe ich versucht mir einzureden, Batista habe mich einfach zum Sündenbock erkoren, weil die Gruppe danach verlangte. Aber, wie gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich in kürzester Zeit von seinem Freund zu seinem Opfer wurde.

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