Vorgeblättert

Leseprobe zu Ian Buruma: Die drei Leben der Ri Koran. Teil 3

19.07.2010.
Es waren, wie ich schon sagte, diese weiten Augen, die mir einen unauslöschlichen Eindruck hinterließen. Obgleich sie nicht im herkömmlichen Sinn schön und für ihr kleines Gesicht eher zu groß, ja beinahe fischig waren, lag eine bezaubernde Verletzlichkeit in ihnen. Als sie, nach dem Vortrag Madame Ignatievas, zu ihrem ersten Lied ansetzte, war keine Spur von Nervosität mehr an ihr. Ich erinnere mich an "Mondlicht auf der verfallenen Burg", ein japanisches Lied, das uns alle zu Tränen rührte; es folgten Beethovens "Ich liebe dich", dann ein Volkslied auf Chinesisch, dann ein russisches Lied, dessen Titel mir entfallen ist, und zuletzt eine bezaubernde Interpretation von Schuberts "Serenade". Es war völlig klar, dass Yoshiko, so blutjung sie war, nichts mit jenen Provinzamseln gemein hatte, die Konzerte in Japan zu einer solchen Plage machen können. Ihre Beherrschung fremder Sprachen und ihr Verständnis für unterschiedliche Nationalstile waren außerordentlich. Nur der kosmopolitische Boden von Mandschukuo hatte ein solches Goldstück hervorbringen können. Im Rückblick sagt es sich leicht, ich weiß, aber ich war mir damals sicher, dass Yoshiko schon im zarten alter von dreizehn Jahren etwas ganz und gar Besonderes war.
     Yoshiko kam 1920 zur Welt. Ihr Vater war ein Abenteurer vom Typus eines tairiku ronin, wie wir sagen, eines Festlandbummlers; ein Chinesenfreund, der die mandschurischen Ebenen durchstreifte, um dort sein Glück zu suchen. Leider ging es ihm beharrlich aus dem Weg. Meist fristete er ein prekäres Dasein als Chinesischlehrer für die japanischen Angestellten der Südmandschurischen Eisenbahn. Prekär war sein Dasein aber nicht, weil er besonders schlecht bezahlt worden wäre, sondern weil er dem Glücksspiel zugeneigt war. Einer seiner Schüler war, zu einem bestimmten Zeitpunkt, ich. Ehe Yoshiko von einem chinesischen General adoptiert wurde, führte sie das typische Leben eines auf dem Festland lebenden japanischen Kindes und verkehrte frei mit Gleichaltrigen anderer Rassen, auch wenn sie die strenge Erziehung einer richtigen jungen Japanerin erhielt.
     Yoshikos Geburtsjahr lag rund ein Jahrzehnt vor der Geburt des Staates Mandschukuo. Oder besser gesagt: elf Jahre vor der Idee zu seiner Gründung. Denn diese entstand mit einem großen Knall, am 18. September 1931, als auf dem Bahngleis knapp außerhalb Mukdens eine Bombe explodierte. Wer die Schuldigen waren, erfuhr man zu diesem Zeitpunkt nicht. Nehmen wir also an, dass Mandschukuo letztlich die Frucht eines einmaligen chinesisch-japanischen Stelldicheins war. unsere Kanto-Armee sicherte sich rasch sämtliche Städte entlang der Strecke der Südmandschurischen Eisenbahn, und das Gebiet gehörte de facto uns - außer nachts, wenn wegen des Räuberunwesens gefahrlose Bahnreisen nach wie vor unmöglich waren. Nicht einmal ein Jahr später wurde aus dem ehemaligen Mandschureich, das dem Verfall preisgegeben war wie ein verlassenes altes Herrenhaus und den schlimmsten Raufbolden Chinas als Refugium diente, ein moderner Staat.
     Aber ich bin ein Romantiker und ziehe ein anderes Datum als Geburtstag von Mandschukuo vor. Im Morgengrauen des 1. März 1934 legte Pu Yi, letzter Abkömmling der mandschurischen Dynastie, die gelben Seidengewänder seiner kaiserlichen Vorfahren an, betete im Garten hinter seinem Palast in Shinkyo zur Sonne und wurde offiziell als Kaiser von Mandschukuo wiedergeboren. In dem Augenblick, als er von seiner Audienz bei der Sonne zurückkehrte, war der neue Staat ein Kaiserreich geworden. Selbstverständlich war ich zu dieser Zeremonie nicht zugelassen; niemand wohnte ihr bei. Niemals aber werde ich den Anblick des Kaisers Pu Yi vergessen, als er sich Stunden später in seiner prächtigen doppelreihigen uniform mit den goldenen Epauletten, die sich über seine schmalen, doch geheiligten Schultern legten, und seinem mit rotgefärbten Straußenfedern geschmückten Goldhelm zeigte. Die Kapelle spielte die Mandschukuohymne, während der Kaiser, eskortiert vom Prinzen Chichibu, drei Offizieren der Kanto-Armee und zehn mandschurischen Pagen aus einem lokalen Waisenhaus, im Stechschritt den roten Teppich entlang zu seinem Thron marschierte. Seine Hosen waren zu lang, sein bebrillter Kopf verschwand fast unter dem Federbusch, und mit seinem Stechschritt sah er ein bisschen aus wie eine gelenkte Marionettenfigur. Die Zeremonie war, offen gestanden, nicht ganz frei von Komik. und doch hatte das Ereignis auch etwas unbestreitbar Erhabenes. Der Mensch braucht das Spektakel, um seine Träume zu nähren, an etwas glauben können, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln. Dringender als andere brauchten es das chinesische und das mandschurische Volk, die von über hundertjähriger Anarchie und westlicher Herrschaft zermürbt waren. und wir Japaner - das vergisst man heute gern - gaben es ihnen; wir gaben ihnen etwas, das größer war als sie, eine große und edle Sache, für die es sich zu leben und zu sterben lohnte.
     Für diejenigen unter uns, die große Träume für Asien und Mandschukuo hatten, war es insgesamt eine gute Zeit, um zu leben. Für mich persönlich war es sicher die allerbeste Zeit. Nachdem ich mich jahrelang von einer Stelle zur nächsten hatte treiben lassen - als Privatlehrer in Dairen, als Explorateur bei der Mandschurischen Eisenbahngesellschaft, in welcher Zeit ich die chinesische Sprache erlernte, und im Dienst der Militärpolizei in Mukden als unabhängiger Berater in Eingeborenenfragen -, hatte ich endlich den idealen Beruf gefunden. In Japan war ich, wie ich gestehen muss, ein Versager gewesen. Ich war als Student der Volkswirtschaft in Tokio gescheitert, denn ich hatte fast nie die Sonne gesehen. Mein Leben verbrachte ich in den Kinos von ueno und Asakusa, und dorthin wanderte mein gesamtes Geld. Die Wände meines winzigen Zimmers waren mit Plakaten meiner Lieblingsstars behängt, die ich nachts aus dem örtlichen Filmpalast stahl. Wie gern hätte ich beim Film gearbeitet, und sei es als bescheidener Regieassistent. Aber in Japan brauchte man Beziehungen, und ich hatte keine. Denn wer war ich schon? Ein unbekannter Träumer aus einem Dorf in der Präfektur Aomori.
     In Mukden jedoch, unter der Schirmherrschaft der Kanto-Armee, konnte ich, Sato Daisuke, ein eigenes Büro eröffnen: Satos Spezielle Dienste für neue asiatische Kultur. Die Leistungen, die ich anbot, waren einigermaßen vielfältig und erforderten ein gewisses Maß an Diskretion. Sagen wir so: Mein Geschäft waren Auskünfte; ich ging auf die Suche nach Informationen, von denen einige delikater politischer Natur waren. Dies setzte ein gewisses schauspielerisches Talent voraus. um mich nahtlos in die örtlichen Gegebenheiten einzufügen, musste ich lernen, zu reden und mich zu verhalten wie ein Einheimischer. Zum Glück bin ich mit einem ausgezeichneten Gehör gesegnet. Freunde verspotteten mich als menschlichen Papagei: Bin ich in Gesellschaft eines Stotterers, stottere ich; hat jemand einen ausgeprägten Kansai-Akzent, spreche ich wie ein Kaufmann aus Osaka. So kam es, dass ich, zur Verwunderung meiner Landsleute, relativ leicht Chinesisch lernte. Für die Japaner blieb ich der gewöhnliche Sato Daisuke, der manchmal westliche Anzüge trug, manchmal japanische Kimonos, manchmal eine uniform der Kanto-Armee. Bei den Mandschuren und Chinesen war ich Wang Tai und kleidete mich in die besten chinesischen Gewänder, die der angesehenste Schneider von Schanghai aus der edelsten Seide genäht hatte. Politik gehörte zu meinem Geschäft, mein eigentliches Gebiet aber war die Kultur; und die mit Abstand angenehmste, für mich zweifellos wichtigste Aufgabe bestand darin, für die Rundfunk- und Filmgesellschaften von Mandschukuo einheimische Talente aufzuspüren. So fanden meine bescheidenen Begabungen ihr ideales Betätigungsfeld.
     Das Problem bei der japanischen unterhaltung in Mandschukuo war nicht Mangel an Geld oder gutem Willen. Nachdem die Filmstudios ebenso wie die Radiosender vom japanischen Staat finanziert wurden, war genügend Geld vorhanden, um die beste Ausstattung zu bekommen, die käuflich zu erwerben war, nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland und selbst in den Vereinigten Staaten. Die Mandschurische Filmgesellschaft besaß ausgezeichnete Studios. und auch wenn ein Teil des Geldes (und die Mehrzahl der einheimischen Schauspielerinnen) in den Händen von Offizieren der Kanto-Armee blieb, war es noch immer genug, um erstklassige Filme zu drehen. Auch die Rundfunkanstalt Mukden war mit den modernsten schallisolierten Aufnahmestudios, von denen manche Platz für ein komplettes Symphonieorchester boten, auf allerneuestem Stand. Künstler, die aus Japan zu Besuch kamen, trauten ihren Augen nicht; nie hatten sie dergleichen gesehen. Das wird gern vergessen, wenn man uns wegen der späteren Ereignisse kritisiert. Es ist aber schlicht eine Tatsache, dass wir in Mandschukuo ganz Asien in die moderne Welt emporhievten. Auf diese Leistung, die so oft falsch verstanden wird, können wir sicher noch heute stolz sein.
     Um die Stimmung in der einheimischen Bevölkerung zu heben und klarzumachen, wofür wir kämpften, halfen die üblichen Werbesprüche über die Freundschaft zwischen Japan und Mandschukuo gar nichts. Auch konnten wir nicht hoffen, die Einheimischen mit Filmen über schulenbauende und brückenplanende japanische Pioniere für uns einzunehmen: Derlei langweilte sie zu Tränen. Und wer wollte es ihnen verdenken - mich langweilte es ebenfalls. Die mandschurische Seele war jedenfalls für unsere normale Propaganda viel zu feinsinnig und gleichzeitig beinahe kindlich in ihrer Sehnsucht nach komischer unterhaltung. Natürlich mussten wir aufklären und erziehen, aber wir mussten auch amüsieren. Wir wollten gute Filme machen; nein, nicht nur gute Filme, sondern die besten, besser als die Filme aus Tokio, Filme, die den Geist des neuen Asiens verkörperten. Das war undenkbar ohne die Mitwirkung erstklassiger einheimischer Künstler, die einerseits auf Chinesisch singen und spielen konnten und Verständnis für unser Anliegen hatten und andererseits ausreichend Japanisch beherrschten, um sich mit den Regisseuren und Kameraleuten, die aus unserer Heimat kamen, zu verständigen. Mir oblag es, diese Leute zu finden: eine Sorge, die mir die Gesellschaft etlicher reizender mandschurischer Schauspielerinnen mit beachtlichen, wenn auch nicht immer ganz den Erfordernissen der Rundfunkanstalt Mukden entsprechenden Talenten allerdings häufig versüßte.
     Der mit unserer Propaganda in Mandschukuo betraute Mann war ein alter Gefährte, der bei vielem die Hand im Spiel hatte, Amakasu Masahiko, ein Hauptmann der Kanto-Armee. Ein geborener Drahtzieher, der mit allen einflussreichen Personen in Tokio, Schanghai und Mandschukuo, ob ehrenwert oder zwielichtig, bekannt war, saß Amakasu wie eine Spinne in einem riesigen Netz. In Mandschukuo gab es nichts, das seiner Aufmerksamkeit entging: Der Opiumhandel lief ebenso über sein Büro wie andere diskrete unternehmungen, die für das einwandfreie und reibungslose Funktionieren des Staates unentbehrlich waren. Abgesehen von seinen übrigen Tätigkeiten verknüpfte Amakasu die Verantwortung für die Sicherheit von Kaiser Pu Yi mit dem Vorsitz in diversen bedeutenden kulturellen und politischen Einrichtunge wie dem Shinkyo-Symphonieorchester und der Kyowa-kai, der Gesellschaft zur Förderung der Eintracht zwischen den Rassen und des sozialen Friedens in Mandschukuo.
     Obwohl ein Mensch von großer kultureller Distinktion, hatte amakasu einen einigermaßen furchterregenden Ruf. Zimmer 202, seine Suite im Yamato-Hotel in Shinkyo, wurde Tag und Nacht von schwerbewaffneten Soldaten der Kanto-Armee bewacht. Doch Amakasu war kein Mann, der irgendetwas dem Zufall überließ. Er schlief stets mit einer geladenen Pistole neben sich, einer schwarzen Mauser C96 aus deutscher Produktion. Viele wären froh gewesen, ihn tot zu sehen. und auch wer ihm nicht den Tod wünschte, hatte Angst vor ihm. Merkwürdig war, dass er durchaus nicht imposant wirkte, sondern ein adretter kleiner Mann mit rasiertem, leicht erdnussförmigem Schädel und runden, in Schildpatt gefassten Brillengläsern war, der selten lächelte und fast nie die Stimme über ein heiseres Murmeln hinaus erhob. Von seinem Äußeren her hätte erBuchhalter oder Apotheker sein können. Doch der äußere Schein trügt bekanntlich leicht. Amakasu war mit gutem Grund gefürchtet. Wir wussten alle, dass er in Japan im Gefängnis gewesen war, weil er einen Kommunisten sowie dessen Frau und minderjährigen Neffen ermordet hatte. Amakasu war damals Leutnant beim Kempeitai, unserer Militärpolizei, und er erdrosselte die gesamte Familie mit bloßen Händen.
     Ein seltsamer Vogel, wie gesagt. Aber ich konnte ihn gut leiden. Es verband uns eine gemeinsame Liebe zur Kunst. Amakasu verehrte klassische Musik und konnte endlose Stunden in seinem Zimmer sitzen und Grammophon hören. und wie ich war er ein begeisterter Leser von Alle Menschen sind Brüder und hatte stets neben der Mauser C96 ein Exemplar auf seinem Nachttisch liegen. Manchmal diskutierten wir über die jeweiligen Vorzüge verschiedener Helden. Seine Lieblingsgestalt war Riki, auch der Schwarze Wirbelwind genannt, der trinkfeste Krieger, der mit zwei Äxten in die Schlacht zog und es vorzog, Selbstmord zu begehen, statt in Schande weiterzuleben, nachdem seine aus Brüdern bestehende Bande besiegt war. Wie sein Held war Amakasu loyal gegen seine Freunde und ein aufrechter Patriot. Was ihm meine besondere Zuneigung eintrug, war allerdings nicht sein Patriotismus, an dem ich nie zweifelte, sondern seine unbeirrbare Höflichkeit gegenüber den Einheimischen. Wenn japanische Amtsträger von der "Eintracht zwischen den fünf Rassen" sprachen, hielten sie sich häufig nur an die offizielle Sprachregelung. Eine der großen Tragödien von Mandschukuo war, dass gerade jene, die unsere Ideale am lautesten im Mund führten, ihnen so selten gerecht wurden. nicht so Hauptmann Amakasu. Er ließ seinen Worten Taten folgen. Das weiß ich, weil ich es selbst miterlebt habe. Lassen Sie mich nur ein Beispiel erzählen.
     Die meisten seiner Geschäfte wickelte Amakasu in seiner Hotelsuite ab, doch ab und zu lud er auch in ein japanisches Restaurant ein, in den sogenannten Pavillon am Südlichen See, in dem vorwiegend Offiziere der Kanto-Armee verkehrten. Im Winter 1939 besuchte ich dort eine Gesellschaft. Es war eine bitterkalte Nacht, die Straßen waren steinhart gefroren, und sogar der Nebelschleier, der über der Stadt hing, schien sich zu einer Wolke aus Nadeln und Pfeilen verdichtet zu haben. Der Vollmond leuchtete durch den frostigen Dunst wie eine milchig phosphoreszierende Lampe.
     Amakasu saß am Kopfende des langen Rosenholztisches auf dem Tatami-Boden, kerzengerade, als hätte man ihm eine Eisenstange ins Rückgrat eingezogen. In eine olivgrüne uniform gekleidet, blickte er stumm durch seine runden Augengläser und trank, wie immer, seinen White Horse Whiskey. Das Essen rührte er kaum an, auch als seine Gäste, darunter ein hochrangiger Kempeitai-Offizier und ein korpulenter Oberst der Kanto-Armee, vom Sake zunehmend fidel wurden. Kredenzt wurde er ihnen von mehreren entzückenden Schauspielerinnen der Mandschurischen Filmgesellschaft, die ihre sprachlichen Lücken durch absolut hinreißendes Benehmen wettmachten. Amakasu aber war nicht in umgänglicher Stimmung. Ein knappes Knurren war alles, was ihm über die Lippen kam, wenn ihn jemand direkt ansprach.
     Irgendwann hob ein Chirurg mit Namen Ozaki, eine bedeutende
Person im Japan-Mandschukuo-Freundschaftsbund, seinen Becher und brachte einen Trinkspruch auf die harmonischen Beziehungen zwischen den fünf Rassen aus. Ozaki, ein fetter, grinsender, rotgesichtiger Mann von der Sorte, die sich für Leben und Seele jeder Gesellschaft hält, war ein exzellentes Beispiel für jene, die von Harmonie sprechen und ganz anders denken. Wie auch immer, amakasu hob ebenfalls sein Glas, und Ozaki, der eine für seine Grobschlächtigkeit überraschend wohltönende Stimme hatte, sang, mit seinen kurzen kleinen Armen rudernd wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte, ein Militärlied, und die Übrigen stimmten mit ein. Die Schauspielerinnen verstanden zwar den Text nicht, doch sie lächelten den Männern freundlich zu und klatschten mit.
     Dann schlug Ozaki einen Eierlauf vor. Er ließ sich auf alle viere nieder, was für einen beleibten Mann in seinem angeheiterten Zustand gar nicht einfach war, und befahl einer Schauspielerin, es ihm gleichzutun. Als sie erst zögerte, das kindische Spiel mitzumachen, bei dem ein Ei über den mattenbelegten Boden hin und her geblasen wird, zwang sie ein Klaps auf ihr in Seide gehülltes Hinterteil, der bei den übrigen Männern viel Gelächter auslöste, auf die Knie. Ein Mann fuhr Mei Ling, damals Mandschukuos bedeutendster Schauspielerin, mit der Hand unter den Rock und befahl ihr, seinen Sakebecher aufzufüllen. Fröhlichkeit schlug rasch in Anzüglichkeit um, und schon ertönten Rufe, eine "Miss Mandschukuo" zu küren. Der Kempeitai-Offizier wies eine der Frauen an, eine Sakeflasche auf dem Kopf zu balancieren, und ließ sie dann auf dem Boden aus einem Becher trinken wie eine Katze. Als es ihr nicht gelang, die Flasche dabei auf dem Kopf zu halten, forderte der lüsterne Oberst, dass sie sich entkleide.
     Nie werde ich vergessen, was nun geschah. Amakasu, ohnehin steif wie ein Ladestock, erstarrte noch mehr. Sein Gesicht war wächsern geworden, bleich wie der Mond am Himmel, und seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern, als seien sie in Brand geraten. "Genug!", krächzte er mit seiner wie von einer chronischen Halsentzündung rauhen Stimme. "Es reicht! Schauspielerinnen sind keine Geishas, sie sind Künstlerinnen." Mit einer Kopfbewegung zu den Mädchen fuhr er fort: "Ich verlange Respekt vor den Künstlerinnen der Mandschurischen Filmgesellschaft! und ich bitte hiermit um Verzeihung für das Verhalten meiner flegelhaften Landsleute."
     Obwohl etliche Ranghöhere anwesend waren, zeitigten seine Worte auf der Stelle Wirkung. Er brauchte nicht die Stimme zu erheben. Dass er überhaupt gesprochen hatte, reichte, um augenblicklich Gehorsam zu erzwingen. Die Schauspielerinnen senkten Kopf und Blick zu Boden. Ozaki begriff, dass er eine gefährliche Marke überschritten hatte, und hielt während des restlichen abends den Mund. Die Männer begannen die mandschurischen Damen respektvoll zu behandeln und wollten nun umgekehrt sie mit Sake bewirten. Dieser Vorfall ist mir deshalb noch so lebhaft in Erinnerung, weil er eine andere Seite dieses viel gefürchteten und wahrhaftig geschmähten Mannes zeigt, die nicht gebührend gewürdigt wird. Amakasu mag eine Familie von Roten erwürgt haben, er war aber auch ein japanischer Edelmann von größter Aufrichtigkeit.
     Jedenfalls war es Amakasu, der mich bat, eine einheimische Sängerin zu finden, die genügend Japanisch konnte, um mit uns an einem neuen Radioprogramm zu arbeiten, das Mandschukuo-Rhapsodie heißen sollte. "Wir können die Unabhängigkeit und Einheit unseres Staates nicht als gegeben nehmen", sagte er. "Erziehung durch unterhaltung sei unsere Devise. unsere Botschaft muss wohltönend sein, auch wenn unsere Ziele Aufopferung, Strenge und Beharrlichkeit fordern." So sprach er, wenn er überhaupt sprach: in knappen, prägnanten Sätzen, wie ein Mann, der keine Zeit zu verlieren hat.
     Nachdem ich mir lange den Kopf zerbrochen und einige außerordentlich anziehende Damen zur Anhörung in mein Büro bestellt hatte, was an musikalischem oder wenigstens sprachlichem Talent leider nichts zutageförderte, auch wenn diese Begegnungen in jeder übrigen Hinsicht nicht angenehmer hätten sein können, kam mir eine Idee, die so nahe liegend war, dass ich nicht begriff, weshalb ich nicht schon längst daran gedacht hatte: die junge Sängerin vom Yamato-Hotel. Ihr Chinesisch war fließend, und nachdem sie in Wahrheit Japanerin war, beherrschte sie ihre Muttersprache selbstverständlich. Kurz und gut, sie war genau das, was wir suchten. Nur ihr Alter konnte ein Problem sein, aber dem ließe sich abhelfen. "Gehen Sie, reden Sie mit den Eltern", sagte Amakasu, und seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem seltenen Anflug von Lächeln. "Ich bin sicher, wir gelangen zu einer für beide Seiten vorteilhaften Einigung."

                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages

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